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20.01.2020

Soziale Kippelemente zur Eindämmung des Klimawandels

Es gibt sechs verschiedene gesellschaftlich-soziale Kippelemente, die einen schnellen weltweiten Übergang in eine kohlenstoffneutrale Welt nach sich ziehen könnten, wenn sie entsprechenden Veränderungen unterliegen. Diese Kippelemente könnten durch konkrete und gezielt eingesetzte Interventionen ausgelöst werden. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Ilona Otto im Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Schneller technologischer Fortschritt, ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel und politische Steuerung dieser Entwicklungen sind unbedingt notwendig, um die weltweiten CO2-Emissionen so schnell und so umfassend zu reduzieren, dass die Pariser Klimaziele noch erreicht werden können. Dafür ist eine vollständige und unumkehrbare globale Dekarbonisierung in den nächsten 30 Jahren absolut notwendig. Doch trotz jahrelanger Verhandlungsbemühungen steigen die Emissionen noch immer. In den letzten Jahren zwischen 0,5 und 2 Prozent [a]. Um jedoch das Ziel einer Null-Emissions-Welt im Jahr 2050 zu erreichen, müssten die CO2-Emsissionen schnell um mindestens sieben Prozent pro Jahr sinken.Das Team um Ilona Otto hat in der aktuellen Arbeit nun untersucht, welche Interventionen das Potenzial haben, Prozesse in Gang zu setzen, die zum Beispiel zu einer schnellen Verbreitung neuer Technologien, veränderten Verhaltensweisen oder neuen sozialen Normen führen. Diese nennen die Autoren der Studie ‚Social Tipping Elements‘. Kippelementen – egal ob im physikalischen System des globalen Klimas oder im sozioökonomisch, gesellschaftlichen Kontext – ist gemein, dass sie schon durch häufig geringe äußere Einflüsse scheinbar plötzlich und unumkehrbar in einen Zustand wechseln können, wenn ein sogenannter Kipp-Punkt (Tipping Point) erreicht ist.

Für ihre Arbeit haben sie zunächst weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach den wichtigsten sozialen Kippelementen befragt. Aus den vorgeschlagenen 207 Elementen erarbeiteten die Autorinnen und Autoren die aus ihrer Sicht aussichtreichsten Kandidaten. Immer unter der Bedingung, dass die gewählten Kippelemente in den nächsten 15 Jahren oder früher ausgelöst werden können, damit das 2050-Ziel erreicht werden kann.

Letztendlich identifizierte das Team sechs verschiedene Kipp-Elemente und evaluierte, mit welchen Interventionen diese notwendigen Veränderungen ausgelöst werden können. So sehen sie zum Beispiel ein zentrales Element in der Umwidmung staatlicher Subventionen weg von der Energieerzeugung aus fossilen Quellen hin zu erneuerbaren Energien, bis diese die dauerhaft günstigere Variante der Energieerzeugung sind. Und so deklinieren die Autorinnen und Autoren auch die anderen fünf Bereiche: Aufbau kohlenstoffneutraler Städte, Ausstieg aus finanziellen Vermögenswerten, die mit fossilen Brennstoffen verbunden sind, Anreize für dezentralisierte Energie, verstärkte Aufklärung über den Klimawandel sowie die Bereitstellung von Informationen über die Emissionen fossiler Brennstoffe und Aufklärung über die moralischen Implikationen der Nutzung fossiler Brennstoffe. Die Studie ist im Fachjournal „PNAS“ (siehe Primärquelle) erschienen.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin der Abteilung "Energie, Verkehr und Umwelt", Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin
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  • Prof. Dr. Andreas Ernst, Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research, Universität Kassel
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  • Dr. Maria Daskalakis, Leiterin der Gruppe Umweltpolitik am Fachgebiet Wirtschaftspolitik, Innovation und Entrepreneurship, Institut für Volkswirtschaftslehre, Universität Kassel
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  • Prof. Dr. Ulf Moslener, Professor für Sustainable Energy Finance, Wissenschaftlicher Leiter des UNEP Collaborating Centre for Climate and Sustainable Energy Finance, Frankfurt School of Finance & Management, Frankfurt am Main
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  • Dr. Katharina Hölscher, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, DRIFT Dutch Research Institute for Transitions, Rotterdam, Niederlande
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Statements

Prof. Dr. Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin der Abteilung "Energie, Verkehr und Umwelt", Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin

„Die vorgestellte Studie nutzt wichtige und innovative neue Methoden, um sich einem bisher eher unbeachteten Thema zu widmen: Den sozialen und ökonomischen Kippunkten bei unzureichenden Maßnahmen zur Vermeidung des Klimawandels beziehungsweise Klimaschutz. Dabei werden zentrale Elemente benannt und erkannt, die absolut wichtig sind, um die Klimaziele zu erreichen. Wie zum Beispiele die Umstellung des Finanzsystems zur Finanzierung erneuerbarer Energien (divestment), sowie die Abschaffung der Subventionen fossiler Energien und die Informationen, Ausbildung und Sensibilisierung der breiten Bevölkerung für mehr Klimaschutz. Da der Klimawandel weltweit immer sichtbarer und ‚fühlbarer‘ wird, steigt die Sensibilität und das Engagement aller Akteure. Die Studie bestätigt anhand innovativer Methoden, dass bisherige Ansätze nicht nur naturwissenschaftliche, sondern vor allem soziale und ökonomische Kipppunkte gleichwertig einbeziehen müssen, um auf allen Ebenen erfolgreichen Klimaschutz durchsetzen zu können.“

Prof. Dr. Andreas Ernst

Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research, Universität Kassel

„Die Studie widmet sich den sozialen Fragen der Klimaerwärmung mit systemanalytischem Instrumentarium. Die Social Tipping Points sind Punkte im Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, an denen mit Geschick an der richtigen Stelle platzierte Maßnahmen umfassende Erfolge bei der Bewältigung der Klimaerwärmung haben können. Wie etwa ein einzelner Skifahrer eine gewaltige Lawine auslösen kann. Der Fokus auf die (positive) soziale Dynamik beim Klimawandel ist eine gute, neue Entwicklung.“

„Die in der Studie vorgestellten Ansatzpunkte – Technologie, Finanzsystem und so weiter – sind an sich keineswegs neu. Neu ist die Hypothese, dass es mit bestimmten, eleganten Interventionen gelingt, großflächige Veränderungen auszulösen. Die in der Studie besprochenen Eingriffe blenden allerdings noch politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren völlig aus.“

„Tatsächlich sind gesellschaftliche Tipping Points gut bekannt: Revolutionen im Großen oder der Wechsel politischer Mehrheiten im Kleinen. Mit den ‚Fridays for Future‘ hat man gesehen, wie die Synchronisierung Vieler zu einer politischen Kraft werden kann, die zu einer Wende in der Klimapolitik beiträgt. Auf diese gesellschaftlichen Wendepunkte kommt es an. Auch die in der Studie vorgestellten Kippelemente gehören dazu, auch wenn sie noch sehr abstrakt formuliert sind.“

„Die Social Tipping Interventions sind ein sehr guter Weg, den Blick auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Umsteuerns zu richten.“

Dr. Maria Daskalakis

Leiterin der Gruppe Umweltpolitik am Fachgebiet Wirtschaftspolitik, Innovation und Entrepreneurship, Institut für Volkswirtschaftslehre, Universität Kassel

Auf die Frage, inwiefern bei der Expertenbefragung in der Studie ein Bias entstanden sein könnte, dass sich ‚nur‘ 113 der über 1.000 Befragten beteiligt haben, von denen zudem 56 Prozent in Europa arbeiten:
„Aufgrund des niedrigen Rücklaufs der Studie im Allgemeinen sowie des hohen Anteils an Rückläufen aus Europa und der fehlenden Spezifizierung der Fachdisziplinen der Antwortenden, sowie auch der Altersgruppen und der Verteilung zwischen Männern und Frauen, sowie weiterer Parameter wie die Dauer der wissenschaftlichen Tätigkeit, ist eine sehr vorsichtiger Umgang mit den Ergebnissen beziehungsweise deren Generalisierung und Ableitung von Maßnahmen zu empfehlen.“

„Zudem ist noch festzustellen, dass die Antworten der Befragten wohl sehr unterschiedlich waren. Dies führt dazu, dass die identifizierten Maßnahmen dann teilweise von nur relativ wenigen Personen empfohlen wurden, ‚Bildungssystem' beispielsweise nur noch von fünf Befragten. Auch auf dieser Basis ist eine Generalisierung der Ergebnisse eigentlich ausgeschlossen. Außerdem fehlt der Verweis darauf, wie die Auswertung erfolgte – Kategoriensystem und so weiter – und welche Begriffe insgesamt mit welcher Häufigkeit genannt wurden.“

„Die Fokussierung darauf, was zu tun ist, um eine Kehrtwende einzuleiten, finde ich einen sehr guten Ansatz. Dieser bedarf aber eines inter- und transdisziplinären Ansatzes, der der Komplexität der Themenstellung gerecht wird. Die Idee, es gäbe einige wenige soziale Kippelemente beziehungsweise -interventionen, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte, scheint mir hier nicht zielführend.“

Prof. Dr. Ulf Moslener

Professor für Sustainable Energy Finance, Wissenschaftlicher Leiter des UNEP Collaborating Centre for Climate and Sustainable Energy Finance, Frankfurt School of Finance & Management, Frankfurt am Main

„Ich finde es gut, richtig und wichtig, wenn man jetzt über die Erkenntnisse der Klimaforschung hinaus geht. Die großen Gefahren durch den Klimawandel sind weitgehend anerkannt. Auch die Politik will im Wesentlichen den Abschied von fossilen Brennstoffen. Im Mittelpunkt steht jetzt das ‚Wie‘ und die Akzeptanz. Darauf arbeitet die Studie richtigerweise hin. Und für den Fall, dass ein großer Teil der ‚unbeteiligten‘ Experten zu deutlich anderen Einschätzungen kommt, sollten sie diese dann ausformulieren. Dann hätte die Studie einen wichtigen Diskurs befeuert und auch das ist gut so.“

„Ich selbst kann vermutlich am meisten zu den Energie- und Finanzmarktaspekten sagen. Bei der Energie ist vor allem beim Strom der Strukturwandel in vollem Gange. Schon heute sind die Investitionen in Stromerzeugung aus Erneuerbaren weltweit mehr als doppelt so hoch wie die Investitionen in fossil-basierte Kraftwerke. Das Schöne daran ist: In immer mehr Regionen liegt das daran, dass die Erneuerbaren die günstigste Alternative sind – und zwar nicht, weil sie so stark subventioniert werden, sondern weil sie mittlerweile günstig sind. Bei Transport und Wärme erscheint mir der Weg noch weiter.“

„Bei den Finanzmärkten sehe ich gerade aktuell eine unglaubliche Dynamik: Nicht nur kommt eine Unmenge politischer Initiativen aus Brüssel – wie der ‚EU Action Plan for Financing Sustainable Growth‘, der ein erstes wichtiges Ergebnis darstellt: eine praktisch ‚amtliche‘ Taxonomie, welche Aktivitäten als nachhaltig betrachtet werden, die jetzt bald für Aktienfonds und andere gelten wird – und auch aus Berlin (‚Sustainable Finance Beirat‘), sondern auch die Finanzmarktakteure selbst werden aktiv. Im ‚Green and Sustainable Finance Cluster Germany‘ fragen sich die großen Banken, Sparkassen und andere in Deutschland, ob ihr Geschäftsmodell für die Zukunft passt.“

„Beim Finanzsektor könnte die Studie noch weiter gehen: Wir sollten auch dort konsequent nach vorne denken. Divestment – also kein Kapital mehr für fossile Brennstoffe – ist nur ein Teil. In vielen Industriesektoren, die heute noch viel CO2 emittieren, sind gerade Investitionen und Innovation notwendig, um die Transformation zu schaffen, wie bei Stahl, Zement und anderen. Da muss also der Investor die ‚richtigen‘ Unternehmen identifizieren, gleichsam ‚die Spreu vom Weizen trennen‘. Das ist zwar schwierig, aber nötig.“

Auf die Frage, inwiefern die in der Studie vorgestellten ‚Social Tipping Elements‘ künftig in der gesellschaftlichen Debatten eine ähnliche Rolle spielen könnten, wie heute bereits die Kippelemente des Klimasystems:
„Ja, was zu tun ist, haben wir in den groben Linien jetzt verstanden. Die Herausforderung liegt jetzt genau darin, das um- und vor allem politisch durchzusetzen. Das sollte auch einer gesellschaftlichen Diskussion helfen.“

„Man darf nicht vergessen, dass der Klimawandel ein ernsthaftes und drängendes Thema ist. Aber die Diskussion muss unbedingt ‚nach vorne‘ geführt werden. Dazu brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte über den Weg. Die Naturwissenschaft sagt uns: Wir müssen sofort los, und sie gibt uns die grobe Richtung. Aber für den genauen Weg müssen Mehrheiten gefunden werden.“

Dr. Katharina Hölscher

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, DRIFT Dutch Research Institute for Transitions, Rotterdam, Niederlande

„Die vorliegende Studie wurde basierend auf einer robusten Methodik erstellt und beinhaltet eine wichtige Botschaft: Um das Pariser Abkommen zu erreichen und einen gefährlichen Klimawandel, einschließlich seiner sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen, zu vermeiden, bedarf es eines radikalen gesellschaftlichen Wandels. Dieser Wandel bedarf nicht allein technologischer Lösungen, sondern vor allem eine Veränderung der Antriebskräfte von hohen Emissionen wie individuellem Verhalten und Marktstrukturen.“

„Das Konzept von sozialen Kipppunkten ermöglicht eine Fokussierung der Diskussion auf konkrete Lösungswege: Was sind zentrale Ansatzpunkte, um eine Transformation zu mehr Nachhaltigkeit zu erreichen? In diesem Sinne bietet das Konzept auch die Möglichkeit für eine positive Kommunikation in der Gesellschaft: Bestehende Forschung hat bereits herausgefunden, dass positive Bilder motivierender auf Verhaltensänderungen wirken als Untergangsszenarien. Hinzu kommt, dass die herausgearbeiteten Kipppunkte auch verantwortliche Akteure in den Blick nehmen.“

„Obwohl einige der genannten sozialen Kipppunkte bereits auf gutem Wege sind, haben die letzten Klimaverhandlungen im Dezember 2019 in Madrid doch gezeigt, wie schwierig es ist, globales Einverständnis über die notwendigen weitreichenden Handlungen zu erreichen. Dies betrifft vor allem das Energie- und Finanzsystem: Viele der genannten Ansatzpunkte – zum Beispiel ein Kohleausstieg – sind bekannt, werden in der Praxis aber nicht umgesetzt. Dies liegt vor allem an den wirtschaftlichen Interessen der bestehenden Energieunternehmen, aber auch der politischen Zurückhaltung, entschlossene Richtungen zu setzen.“

„Die Kipppunkte heben die Notwendigkeit für eine Umgestaltung des bestehenden Energiesystems hervor, nicht nur durch eine Abkehr von fossilen Energieträgern, sondern auch durch den Ausbau von erneuerbaren Energien auf dezentraler Ebene. Wichtige querliegende Kipppunkte sind Bildung, Wertewandel und Verhaltensänderungen: So können politische Entscheidungen gesellschaftlich getragen werden, aber auch emissionsneutrale Lebensstile vorangetrieben werden. Hier gibt es noch viele Wissenslücken, weil noch nicht gut verstanden wird, wie Verhaltensänderungen und Wertewandel erreicht werden können. Dies bedarf weiterer, vor allem interdisziplinärer Forschung über die gängigen Naturwissenschaften hinweg.“

„Wichtig sind über die von den Autoren genannten Kipppunkte hinaus auch die Implikationen für Verwaltung und Politik. Um die sozialen Kipppunkte zu erreichen, bedarf es auch neuer politischer Instrumente, sowie eine andere Art Entscheidungen zu treffen und Lösungen zu suchen und umzusetzen. Es fehlen politische Visionen und Richtungen, und Entscheidungen werden oftmals mit Blick auf kurzfristige Nutzen und in sektoralen ‚Silos‘ getroffen. Die Kipppunkte machen deutlich, dass langfristige und integrative Ansätze notwendig sind.“

„Wissenschaftliche Studien wie die vorliegende sind wichtig, um neue Richtungen zu eröffnen. Die Kipppunkte bleiben oft noch vage umrissen und betreffen viele unterschiedliche Interessen. Um sie konkret zu definieren und ihre Umsetzung zu erreichen, muss diese Art der zukunfts- und lösungsorientierten Wissenschaft weiter gefördert und ausgebaut, sowie im gesellschaftlichen Umfeld verankert werden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Claudia Kemfert: „Keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Andreas Ernst: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Otto IM et al. (2020): Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1900577117. 

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[a] Science Media Center (2019): Die CO2-Emissionen steigen auch 2019 weiterhin an. Research in Context.