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25.04.2024

Erste funktionelle Hirnchimären aus Maus und Ratte

     

  • zwei Studien stellen erstmals Mäuse mit chimären Nagergehirnen vor
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  • Hirnchimären mit artfremden Geweben sollen Erkenntnisgewinne in Neurologie und Organtransplantation ermöglichen
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  • Forschende schätzen den Fortschritt für die Grundlagenforschung ein, sehen Anwendung zunächst in weiter Ferne
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Zwei Studien, die  im Fachjournal „Cell“ erschienen sind (siehe Primärquellen), stellen erstmals Mäuse mit chimären Gehirnen vor, die durch die Methode der sogenannten Blastozystenkomplementierung gewonnen wurden. Dabei können in einem sehr frühen Stadium der Embryonalentwicklung Stammzellen einer artfremden Spezies in den frühen Embryo im Blastozystenstadium eingebracht werden. Diese sollen dann zu einem Organ heranwachsen, das der entwickelnde Embryo nach einem genetischen Eingriff selbst nicht mehr ausbilden kann. Die sich entwickelnde Tierchimären sollen künftig helfen, eine Vielzahl von Forschungsfragen zu adressieren.

In der ersten Studie von Forschungsleiterin Kristin Baldwin von der Columbia Universität wurde eine Mauslinie verwendet, der das Riechvermögen fehlt. Die Embryonen dieser Mauslinie wurden experimentell mit Riechzellen von Ratten komplementiert, die es den sich entwickelnden Mäusen zum Teil wieder ermöglichte, Futter anhand seines Geruchs wahrzunehmen.

Die zweite Studie des Forschungsteams um Gruppenleiter Jun Wu vom UT Southwestern Medical Center in Dallas generierte in Einzelfällen lebensfähige Mäuse, die Vorderhirngewebe aus Rattenneuronen ausbildeten, nachdem Mäuseembryonen, die genetisch kein Vorderhirn mehr entwickelten, mit artfremden embryonalen Ratten-Stammzellen komplementiert worden waren.

Die Pressemitteilung des Fachjournals stellt in Aussicht, dass die Erkenntnisse aus beiden Studien dazu beitragen könnten, therapierelevanten Forschungsfragen nachzugehen. Zum Beispiel inwiefern neue Nervenzellen verlorengegangene ersetzen könnten, um daraus Therapieansätze zu entwickeln, mit denen man krankheits- und altersbedingt verlorene Hirnfunktionen wiederherstellen kann. Auch zum Verständnis, inwiefern Blastozystenkomplementierung eingesetzt werden könnte, um menschliche Organe in artfremden Spendertieren wie zum Beispiel Schweinen wachsen zu lassen, würden die Studien einen Beitrag leisten. Bislang konnte mittels Blastozystenkomplementierung bei entfernteren Arten keine interspezies-Organe erzeugt werden [I]. Allerdings sind erste Versuche einer Blastozystenkomplementierung bei intraspezifischen Versuchen mit Javeneraffen bereits beschrieben worden [II].

Weltweit verfolgen Forschende aus dem Bereich Ethik und Recht vor allem die Hirnchimärenforschung kritisch. Zum Beispiel wird diskutiert, inwiefern ein chimäres Gehirn, die Wahrnehmung der Versuchstiere beeinflussen kann. Besonders kritisch werden hier Ansätze verfolgt, bei denen menschliche Gehirnanteile in beispielsweise Mäusen [III] oder sogar nichthumanen Primaten integriert werden [IV]. Denn Menschen und nichthumane Primaten sind evolutionär ähnlich nah verwandt wie Ratte und Maus – Mensch und Affe noch enger. Der deutsche Ethikrat kam 2011 noch zu dem Fazit, dass „die Erzeugung von Mensch-Affen-Chimären im frühembryonalen Stadium unterbleiben“ solle. Dies könne tendenziell zur Auflösung der Grenze zwischen Mensch und Tier führen [V]. Die International Society of Stem Cell Research (ISSCR) erstellte 2021 revidierte wissenschaftliche und ethische Leitlinien für den Transfer von humanen pluripotenten Stammzellen in Tiermodelle vor, die zur Vorsicht bei bestimmten Experimenten raten [VI].

Inwiefern die beiden an Nagern vorgestellten Methoden künftig einen Beitrag leisten könnten, das menschliche Gehirn besser zu verstehen, Therapiemöglichkeiten für neurodegenerative Erkrankungen zu finden und das Forschungsfeld der Organtransplantation voranzubringen, fragte das SMC Expertinnen und Experten. Darüber hinaus baten wir um eine Einschätzung zu möglichen ethischen Grenzen solcher Forschungsvorhaben, insofern es sich dabei um Hirnchimären handelt

Übersicht

  • Prof. Dr. Rüdiger Behr, Leiter der Abteilung Degenerative Erkrankungen, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ), Göttingen
  • Prof. Dr. Stefan Schlatt, Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Universitätsklinikum Münster
  • Prof. Dr. Karola Kreitmair, Department of Medical History and Bioethics, und Affiliate Professor of Philosophy, University of Wisconsin-Madison
  • Prof. Dr. Jochen Sautermeister, Professor für Moraltheologie, Katholisch-Theologische Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Statements

Prof. Dr. Rüdiger Behr

Leiter der Abteilung Degenerative Erkrankungen, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ), Göttingen

Hintergrund

„In den Veröffentlichungen von Huang et al. und Throesch et al. geht es um die Herstellung und Untersuchung von Chimären zwischen Maus und Ratte. Chimären sind Organismen, die aus Zellen bestehen, die aus zwei unterschiedlichen Befruchtungsvorgängen (Embryonen) stammen. Dabei sind Intra- und Interspezies-Chimären voneinander zu unterscheiden. Bei Intraspezies-Chimären gehören die chimären Zellen beide derselben Art an. In den hier publizierten Studien werden zum Beispiel Maus-Maus-Chimären genutzt. In diesen neuen Arbeiten werden aber auch Interspezies-Chimären zwischen Maus und Ratte hergestellt. Hier entstammen die Zellen, die einen Organismus bilden, also von zwei unterschiedlichen Arten. Besonders Interspezies-Chimären sind aus entwicklungs- und evolutionsbiologischer Sicht von sehr großem Interesse. Interspezies-Chimären können aber auch sehr wertvolle Erkenntnisse im Hinblick auf die Herstellung von Ersatzorganen für die Humanmedizin liefern. Dies ist vor dem Hintergrund einer seit Jahrzehnten anhaltenden Knappheit an Spenderorganen für Transplantationen bei Patienten ein hochrangiges Forschungsziel.“

„Chimären sind klar abzugrenzen von Hybriden. Hybride entstehen, im Gegensatz zu Chimären, aus nur einer befruchteten Eizelle. Bei Hybriden stammen jedoch das männliche Spermium und die weibliche Eizelle aus zwei unterschiedlichen (allerdings nahe verwandten) Arten. So kann zum Beispiel das Spermium eines Esels eine Eizelle eines Pferdes erfolgreich befruchten. Der resultierende Embryo entwickelt sich zu einem Maultier. Bei einem Hybrid sind also alle individuellen Zellen des Organismus selbst schon eine ‚Mischung‘ aus den beiden Elterntierarten. Bei einer Interspezies-Chimäre ist jede individuelle Zelle dagegen eindeutig einer Art zuzuordnen.“

„In den beiden aktuellen Studien werden die Chimären im so genannten Blastozystenstadium experimentell erzeugt. In einen wenige Tage alten und etwa einen Zehntel Millimeter großen Embryo, der zu diesem Zeitpunkt eine kleine flüssigkeitsgefüllte Blase aus Zellen ist, werden etwa zehn ‚Alleskönner‘-Stammzellen injiziert. Die injizierten Stammzellen gliedern sich in den Empfängerembryo ein und durchlaufen mit ihm mehr oder weniger effizient die Entwicklung bis zur Geburt. Die Eingliederung der injizierten Stammzellen erfolgt aber viel effizienter, wenn der Empfängerembryo auf Grund einer gezielten genetischen Modifikation einzelne Gewebe oder Organe nicht selbst bilden kann. Diese freibleibenden anatomischen Nischen im sich entwickelnden Embryo werden dann besonders effizient von den injizierten chimären Zellen eingenommen und ausgefüllt. Dieses Verfahren wird als Blastozystenkomplementierung bezeichnet.“

Neuheit der beiden Studien

„Huang et al. kommt das Verdienst zu, das Verfahren zur Blastozystenkomplementierung sehr viel schneller gemacht zu haben, indem die genetischen Methoden zum Eröffnen einer Nische, in die sich die chimären Zellen effizient einnisten können, mit den Methoden der bisherigen Blastozystenkomplementierung in einem Schritt kombiniert haben. Diese neue Kombinationstechnologie wird die Chimärenforschung sehr beschleunigen – gerade auch in größeren Säugetieren mit einer längeren Generationszeit. Vor dem Hintergrund, dass ein Teil der Autoren dieser Studie an einem chinesischen Primatenzentrum arbeitet, kann davon ausgegangen werden, dass diese Technologie nun auch bei nicht-menschlichen Primaten angewendet wird.“

„Throesch et al. konnten erstmal zeigen, dass chimäre Zellen den Verlust von Embryo-eigenen Nervenzellen nicht nur strukturell, sondern auch funktionell kompensieren konnten. So konnten chimäre Mäuse mittels eines durch Rattenzellen wiederhergestellten Geruchssinns zielgerichteter verstecktes Futter finden. Komplexes Verhalten einer Maus wurde also durch den Geruchssinn einer Ratte ausgelöst. Die Maus roch das Futter sozusagen mit einer Rattennase.“

Beitrag zum Forschungsfeld Gehirnentwicklung

„Chimärenforschung hilft Wissen zu generieren, um Zell- und Gewebeersatztherapien für Patienten schneller verfügbar zu machen. Der hier vorgestellte Ansatz der Chimärenbildung ist jedoch kein Ansatz, der direkt als Therapie auf den Menschen übertragen wird. Für ein besseres Verständnis der embryonalen Entwicklung von Gehirnen, ihrer evolutionären Anpassungen sowie ihrer Funktionsweise sind die hier vorgestellten Arbeiten sehr wertvoll.“

Potenzial, Hürden und ethische Grenzen von Hirnchimären

„Bioethische Begleitforschung ist spätestens dann notwendig, wenn menschliche Embryonen als Empfänger in der Chimärenforschung eingesetzt werden sollten. Ich persönlich würde die Nutzung humaner Embryonen in der Interspezies-Chimärenforschung grundsätzlich ablehnen, selbst wenn dies in Deutschland erlaubt wäre. Aber auch, wenn menschliche Stammzellen in tierische Embryonen transplantiert werden, was aus biomedizinischer Sicht sinnvoll sein kann, sollte ein biomedizinisch-bioethischer Diskurs erfolgen.“

Beitrag zum Forschungsfeld Gewinnung von humanen Organen

„Die moderne Chimärenforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Aus praktisch jeder Chrimärenstudie können derzeit wichtige grundlegende Erkenntnisse gewonnen werden, die in ihrer Gesamtheit das Konzept, Ersatzorgane aus menschlichen Zellen für Organtransplantationen zum Beispiel in Schweinen heranwachsen zu lassen, stark fördern. Die beiden jetzt publizierten Arbeiten liefern meiner Einschätzung nach noch keinen konkreten Ansatz für neue therapeutische Herangehensweisen. Sie tragen aber wesentlich zum naturwissenschaftlichen Fundament bei, auf dem neue Therapien langfristig aufgebaut werden können.“

Prof. Dr. Stefan Schlatt

Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Universitätsklinikum Münster

Neuheit der beiden Studien

„Kein Grund zur Sorge, aber Anlass zum Staunen. Dass in Blastozysten injizierte Zellen einen Organismus reparieren können, wissen wir bereits seit vielen Jahren. Nun wird dies bestätigt durch experimentell erzeugte Organdefekte. Dass dies auch für das Gehirn gilt, erscheint wenig überraschend. Allerdings ist es schon sehr erstaunlich, dass neuronale Zellen extrem plastisch sind und über Artgrenzen hinweg die Organogenese auch im Gehirn unterstützen. Hier müssen wir unser Verständnis von Genetik und Artgrenzen revidieren zugunsten einer größeren Bedeutung der zellulären Plastizität bei der Bildung von Organen.“

Beitrag zum Forschungsfeld Gehirnentwicklung

„Chimären erlauben es, die Interaktion unterschiedlicher Zellen durch Marker zu studieren. Dies ist extrem hilfreich, um entwicklungsbiologische Prozesse bei der Organbildung zu beschreiben. In diesen xenologen Studien am Gehirn wird deutlich, dass neuronale Zellen auch über Artgrenzen hinweg miteinander korrespondieren und funktionelle Netzwerke bilden können. Dass sie dabei je nach Bedingungen (Zellen krank aber vorhanden, Zellen eliminiert) ihr Reparaturprogramm anpassen, war bisher unbekannt. Insofern werden diese Studien wichtige Erkenntnisse für Therapieansätze liefern. Ob dazu tatsächlich nur die Erkenntnisse, oder sogar Zellen eingesetzt werden, ist zurzeit nicht abschätzbar.“

Potenzial, Hürden und ethische Grenzen von Hirnchimären

„Prinzipiell sind solche Experimente auch zwischen anderen Spezies möglich. Allerdings weiß man bereits aus anderen Organsystemen, dass regenerative Prozesse nicht beliebig austauschbar sind. So können testikuläre Stammzellen aus Ratten in Hoden von Mäusen Spermien generieren, Stammzellen von Primaten aber nicht. Diese siedeln sich zwar an, zeigen aber keine Differenzierung und verbleiben als Stammzellen im Maushoden. Es wird spannend werden, die unterschiedlichen Organsysteme zu studieren und so zu lernen, welche Prozesse eher konserviert sind und eine Interspezies-Kommunikation und -Interaktion erlauben.“

Beitrag zum Forschungsfeld Gewinnung von humanen Organen

„Hier erscheint, auch aus ethischen Gründen, eher Vorsicht geboten. Während die Blastozystenkomplementation ein hochinteressantes Feld für die Grundlagenforschung auftut, ist die Generierung von Organersatz für klinische Anwendungen kein realistisches Szenario. Es erscheint noch viel zu wenig Wissen zu art- und organspezifischen Effekten zu geben, um die Risiken abschätzen zu können. Hier sollte es ähnlich wie beim Klonen ein international anerkanntes Moratorium geben.“

Prof. Dr. Karola Kreitmair

Department of Medical History and Bioethics, und Affiliate Professor of Philosophy, University of Wisconsin-Madison

„Chimärische Studien können oft auf eine gewisse Abscheu – den sogenannten ‚yuck factor‘ – stoßen. Allerdings ist es aus ethischer Sicht wichtig, dass es nicht unkritisch bei diesem ‚yuck factor‘ bleibt, sondern dass wir die ethischen Argumente für und gegen solche Studien ergründen: Sind die ethischen Bedenken einer solchen chimärischen Studie gravierender als der erwartete Nutzen? Wenn nicht, dann sollte uns der ‚yuck factor‘ alleine nicht davon abhalten.“

Potenzial, Hürden und ethische Grenzen von Hirnchimären

„Bei human-nichthumanen Hirnchimären stellt sich die Frage, ob die humanen Gehirnanteile zu Eigenschaften beitragen, die für den moralischen Status des Organismus‘ relevant sind. Eine weitverbreitete ethische Theorie ist, dass der spezielle moralische Status des Menschen zum Teil von seinen kognitiven Fähigkeiten abhängt. Wenn zum Beispiel ein chimärisches Hirn eines nichthumanen Primaten das humane Gehirnanteile enthält, kognitive Fähigkeiten vorweist, die denen eines Menschen ähneln, hat solch ein Wesen unter Umständen einen höheren moralischen Status als andere nichthumane Primaten. Ist es uns erlaubt solche Zwischenwesen zu kreieren? Und falls sie entstehen, welche Rechte haben sie? Solche Fragen müssen geklärt werden, bevor es zur Entstehung solcher Wesen kommt.“

Hürden und ethische Grenzen bei der Gewinnung von humanen Organen

„Xenotransplantation erfordert beim Organempfänger unter Umständen lebenslange Überwachung für zoonotische Infektionskrankheiten. Das erhöht die Lasten gegenüber herkömmlichen Organtransplantationen, die bereits wegen lebenslanger Immunosuppression belastend sind. Es besteht auch die Frage nach dem Wohl des Organspenders. Wenn Organe von human-nichthumanen Chimären entnommen werden, wird der spendende Organismus eingeschläfert. Ist es gerechtfertigt human-nichthumane Chimären so als Mittel zum Zweck herzunehmen? Natürlich wirft diese Frage grundsätzliche Fragen bezüglich der ethischen Haltung gegenüber nichtmenschlichen Tieren auf, also auch, ob gesellschaftlich akzeptierte Bräuche wie der Fleischkonsum ethisch gerechtfertigt sind.“

Prof. Dr. Jochen Sautermeister

Professor für Moraltheologie, Katholisch-Theologische Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

„Die beiden Studien zählen zur biotechnologischen Grundlagenforschung und verfolgen hochrangige Forschungsziele. Ihre Absicht, neue Erkenntnisse zur Gehirnentwicklung zu gewinnen, dienen einem besseren Verständnis grundlegender neuronaler Mechanismen, die perspektivisch auch für die medizinische Behandlung neurologischer Erkrankungen relevant sein könnten. Angesichts der hohen Anzahl an degenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder der Ausfall von Gehirnfunktionen durch Schlaganfälle ist eine solche Grundlagenforschung ethisch grundsätzlich zu begrüßen.“

Potenzial, Hürden und ethische Grenzen von Hirnchimären

„Zugleich bleiben wichtige ethische Fragen offen: Wenn genetische Hirnchimären zwischen unterschiedlichen Spezies hergestellt werden, stellt sich die Frage, ob relevante Verhaltensveränderungen auftreten, die denen der anderen Spezies entsprechen. Sollte das der Fall sein, dann ergeben sich ethische Bedenken. Aufgrund der zentralen Steuerungsfunktion des Gehirns für Tiere stellt sich aus tierethischer Sicht die Frage nach der Relevanz einer Herstellung chimärer Gehirne nach Blastozystenkomplementierung. Nur im Falle hochrangiger Forschungsziele, die hinreichend vorgeklärt sind und nicht durch alternative, weniger invasive Verfahren erreicht werden können, könnten sich diese ethisch rechtfertigen lassen.“

„Dagegen verstößt eine genetische Chimärenbildung durch Blastozystenkomplementierung grundsätzlich gegen die Menschenwürde. Denn dadurch werden Mensch-Tier-Zwitterwesen hergestellt, was die körperliche Integrität eines Menschen verletzt und seine anthropologische Identität als Mensch in der zentralen Steuerungsfunktion des Gehirns verändert. Selbst in den Ländern, in denen das rechtlich erlaubt ist, ist die Einpflanzung in einen Mutterleib und das Austragen des so erzeugten Embryos verboten.“

Hürden und ethische Grenzen bei der Gewinnung von humanen Organen

„Die Xenotransplantation könnte künftig dazu beitragen, Menschen verlässlich zu einem Ersatzorgan zu verhelfen, die unter einer schweren oder gar lebensbedrohlichen Organinsuffizienz leiden. Die Xenotransplantation ist medizinethisch grundsätzlich zu begrüßen, solange keine identitätsrelevanten Eingriffe erfolgen, die das grundsätzliche Selbstverständnis des Menschen verändern oder seine Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Aus tierethischen Gründen sollte die Xenotransplantation jedoch lediglich als Brückentechnologie verstanden werden, die möglichst durch weniger aufwändigere und nicht tierverbrauchende Verfahren auf lange Sicht ersetzt werden sollte.“

„Hürden bestehen insbesondere noch bei der Gewinnung funktionaler menschlicher Organe und Gewebe im Tier, bevor an klinische Studien oder gar an einen klinischen Einsatz zu denken ist. Hier besteht noch ein erheblicher Forschungsbedarf. Sowohl aus ethischen als auch biotechnologischen Gründen eignet sich dieses Verfahren nicht bei nichtmenschlichen Primaten. Dagegen scheinen derzeit andere Verfahren der Xenotransplantation, nämlich die Erzeugung tierischer Organe von gentechnisch modifizierten Schweinen für den Menschen, erfolgversprechender zu sein.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Rüdiger Behr: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Karola Kreitmair: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Throesch BT et al. (2024): Functional sensory circuits built from neurons of two species. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2024.03.042.

Huang J et al. (2024): Generation of rat forebrain tissues in mice. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2024.03.017.

Weiterführende Recherchequellen

Science Media Center (2023): Chimärer Affe geboren. Research in Context. Stand: 09.11.2023.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Zheng C et al. (2021): The road to generating transplantable organs: from blastocyst complementation to interspecies chimeras. Development. DOI: 10.1242/dev.195792.

[II] Cao J et al. (2023): Live birth of chimeric monkey with high contribution from embryonic stem cells. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2023.10.005.

[III] Wang H et al. (2024): Interspecies chimerism with human embryonic stem cells generates functional human dopamine neurons at low efficiency. Stem Cell Reports. DOI: 10.1016/j.stemcr.2023.11.009.

[IV] Johnston J et al. (2022): Clarifying the Ethics and Oversight of Chimeric Research. Hastings Center Report. DOI:10.1002/hast.1427.

[V] Deutscher Ethikrat (2011): Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung. Stellungnahme.

[VI] Hyun I et al. (2021): ISSCR guidelines for the transfer of human pluripotent stem cells and their direct derivatives into animal hosts. Stem Cell Reports. DOI: 10.1016/j.stemcr.2021.05.005.