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23.11.2023

Wie die EU bis 2050 klimaneutral werden kann

     

  • neue Studie modelliert mögliche Reduktionspfade für CO2 in der EU bis 2050
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  • ein Ergebnis: BECCS wird eine sehr wichtige Rolle für Netto-Null 2050 spielen
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  • Forschende bewerten Methodik unterschiedlich, schätzen Umgang mit BECCS als relevant ein
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Bis 2050 will die EU klimaneutral sein. Offen ist derzeit noch, welcher Weg dorthin eingeschlagen wird. Die Planungen müssten in Kürze starten. Ein internationales Forschungsteam hat daher für eine Studie sieben ökonomische Modelle verglichen, die verschiedene CO2-Reduktionspfade für die EU bewerten. Die daraus abgeleiteten Ergebnisse und Handlungsempfehlungen veröffentlichten die Forschenden am 23.11.2023 in der Fachzeitschrift „Joule“ (siehe Primärquelle).

Wenn die Klimaziele kosteneffizient erreicht werden sollen, muss der Energiesektor bis 2040 fast komplett dekarbonisiert werden, schreibt das Forschungsteam. Hilfreich wäre, wenn schon bis zum Jahr 2030 ein Drittel des Endenergieverbrauchs durch Strom gedeckt wird. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 wurden in Deutschland laut AG Energiebilanzen nur 20 Prozent des Endenergieverbrauchs durch Strom gedeckt [I].

Bis 2040 sollten den Forschenden zufolge die Emissionen aus den Sektoren, die in der ESR (Effort Sharing Regulation) zusammengefasst werden – hauptsächlich Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft – um 50 Prozent zurückgehen. Für die restlichen Emissionen spielt den genutzten Modellen zufolge BECCS – Bioenergy with Carbon Capture and Storage, die Nutzung von Bioenergie mit integrierter Kohlenstoff-Speicherung [II] – eine wichtige Rolle. Mit der großflächigen Nutzung von BECCS könnte der Energiesektor bis 2050 insgesamt negative Emissionen erzeugen. Damit könnte der Energiesektor die restlichen Emissionen aus den ESR-Sektoren kompensieren. Das Team hält es daher für sinnvoll, schon bis 2040 mit dem Aufbau von BECCS-Anlagen im großen Maßstab vorzusorgen.

Zur Kernenergie gibt das Forschungsteam keine konkreten Empfehlungen. Die genutzten Modelle zeigen aber eine weitere Präsenz von Kernenergie im künftigen Energiemix der EU, in einem Modell war sie sehr stark. Ob die von den Modellen getroffenen Annahmen plausibel sind und welche Folgen sich aus den getroffenen Empfehlungen ergeben, haben wir unabhängige Expertinnen und Experten aus Fachbereich gefragt.

Übersicht

     

  • Dr. Johannes Emmerling, Senior Researcher, RFF-CMCC European Institute on Economics and the Environment (EIEE), Mailand, Italien
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  • Prof. Dr. Daniela Thrän, Leiterin des Departments Bioenergie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig, und Bereichsleiterin Bioenergiesysteme, Deutsches Biomasseforschungszentrum gGmbH (DBFZ), Leipzig
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  • Dr. Gunnar Luderer, Leiter der Arbeitsgruppe Energiesysteme und stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Transformationspfade, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK)
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  • Prof. Dr. Wilfried Rickels, Leiter des Forschungszentrums Global Commons und Klimapolitik, Institut für Weltwirtschaft (IfW), Kiel
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  • Dr. Jochen Linßen, Abteilungsleitung „Technikbewertung und vernetze Infrastrukturen“, Institut für techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3), Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ)
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  • PD Dr. Patrick Jochem, Abteilungsleitung Energiesystemanalyse, Institut für Vernetzte Energiesysteme, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Stuttgart
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Statements

Dr. Johannes Emmerling

Senior Researcher, RFF-CMCC European Institute on Economics and the Environment (EIEE), Mailand, Italien

Methodik

„Die vorgelegte Studie verwendet eine relative große Anzahl von sehr unterschiedlichen Modellen, sowohl struktureller Art als auch in Bezug auf die Technologien, die abgebildet werden können. Das erklärt auch die sehr große Spannbreite der Ergebnisse. Daher ist insbesondere für die ökonomischen Kosten der kompletten Dekarbonisierung die Spanne der zu erwartenden wirtschaftlichen Kosten sehr hoch.“

Aufteilung der CO2-Reduktion zwischen den Sektoren

„Dass die ETS-Sektoren schneller und stärker zur Dekarbonisierung beitragen werden, ist unstrittig.“ (ETS: Emission Trading System, Emissionshandel der EU, ETS 1 bezeichnet den Handel für Energie und Industrie, ETS 2 den geplanten Handel für Verkehr und Gebäude; Anm. d. Red.)

Rolle von Bioenergie mit integrierter Kohlenstoff-Speicherung (BECCS)

„Technologisch, politisch, und ökonomisch ist nach wie vor umstritten, ob ein weitreichender CCS-Einsatz bis 2030 oder 2040 realistisch ist. Die Studie zeigt aber auch, dass die ökonomischen Kosten einer Implementierung von Netto-Null ohne CCS sehr hoch sein können. Denn eines der in der Studie berücksichtigen Modelle, das nicht die Fähigkeit hat CCS abzubilden, kommt auf sehr hohe Kosten für die vollständige CO2-Vermeidung.“

Rolle der Kernenergie

„Investitionen in Kernenergie sind seit einigen Jahren vor allem politische Entscheidungen, während kostenbasierte Entscheidungen – vor allem wenn man die Zwischen- und Endlagerung der Abfälle berücksichtigt – nukleare Energie kaum kostenoptimal erscheinen lassen. Von daher erscheint eine Verdopplung der Nuklearenergie in Europa sehr unwahrscheinlich – vor allem auch in Anbetracht der Pläne Frankreichs, das eine deutliche Reduzierung der Kernenergie bis 2040 anstrebt. Zudem ist bekannt, dass modell-spezifische Charakteristiken den genauen Energiemix sehr stark beeinflussen und manche Modelle nukleare Energie generell bevorzugen [1].“

Kosten der CO2-Reduktionspfade

„Die ökonomischen und sozialen Kosten von Netto-Null sind mit die größten Diskussionspunkte, sowohl für Haushalte als auch für Firmen in der EU. Die Studie findet hier für das Jahr 2050 eine Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zwischen -20 und +2 Prozent in Bezug auf aktuelle Szenarios. Das ist eine enorme Spannbreite, die für Akteure in der Politik wenig aussagekräftig ist. Insbesondere die Annahme, dass das Bruttoinlandsprodukt um 20 Prozent sinkt, erscheint sehr extrem. Denn verglichen zum Beispiel mit den stark gestiegenen Energiepreisen im Zuge des Ukraine-Kriegs waren die realen Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise gering. Leider bilden nur zwei Modelle die gesamten ökonomischen Kosten ab. Mehr Forschung ist hier nötig, um eine bessere Schätzung für die Kosten zu erhalten. Der von der Studie angegebene Investitionsbedarf liegt hingegen im Bereich der existierenden Studien, und ist ökonomisch machbar für die EU.“

Prof. Dr. Daniela Thrän

Leiterin des Departments Bioenergie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig, und Bereichsleiterin Bioenergiesysteme, Deutsches Biomasseforschungszentrum gGmbH (DBFZ), Leipzig

Methodik

„In dem Artikel werden verschiedene gängige Energiesystemmodelle verglichen. Die gewählten Energiesystemmodelle sind alle etabliert und teilweise seit Jahrzehnten zur Unterstützung für politische Entscheidungsträger in Nutzung. Ebenso handelt es sich bei den Szenarien um gängige Betrachtungsweisen der Möglichkeiten hin zu einem klimaneutralen Energiesystem. Die Modellkombination ist sinnvoll, denn sie zeigt, wo die Modelle hohe Übereinstimmung zeigen und wo sie sich unterscheiden. Damit wird der Möglichkeitsraum gegenüber einer einzelnen Modellbetrachtung nicht nur erweitert, sondern es ist auch zu erkennen, wo die Handlungsoptionen mit hoher Wahrscheinlichkeit kostenoptimal sind – zum Beispiel der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien – und wo das Bild nicht so einheitlich ist – zum Beispiel bei BECCS.“

Rolle von Bioenergie mit integrierter Kohlenstoff-Speicherung BECCS

„Die Modelle zeigen, dass die Rolle von BECCS im künftigen Energiesystem unterschiedlich bewertet wird und beschreiben BECCS damit als potenziell relevante Handlungsmöglichkeit. Das Papier weist aber auch auf die potenziellen Risiken durch erhöhten Biomasseeinsatz hin. Neben diesen Risiken fehlt den Energiesystemmodellen der Blick auf CO2-Entnahme-Optionen mit Biomasse außerhalb des Energiesystems durch Aufforstung, Kohlenstoffanreicherung im Boden et cetera. Diesen wird in den jüngsten Berichten des IPCC ein hohes Potenzial zugesprochen. Daher greifen die Modellergebnisse an dieser Stelle eher zu kurz – ein Hinweis auf diesen blinden Fleck wäre wünschenswert gewesen.“

„Die Frage, wie sich BECCS auf den Emissionshandel auswirkt, ist entscheidend dadurch geprägt, wie BECCS in den Emissionshandel etabliert wird. Um die in den Modellen dargestellten Effekte zu erreichen, ist es zentral, dass die Emissionen durch BECCS – wie auch andere Maßnahmen der CO2-Entnahme – als ‚zusätzlich‘ eingeführt werden, das heißt, eine gegenüber dem heutigen Stand zusätzliche Verringerung der handelbaren CO2-Mengen damit verbunden ist.“

Dr. Gunnar Luderer

Leiter der Arbeitsgruppe Energiesysteme und stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Transformationspfade, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK)

Methodik

„Die Studie nutzt mehrere anerkannte Energiewirtschaftsmodelle, um Klimaschutzpfade zur Erreichung der Klimaneutralität in der EU bis 2050 abzuleiten. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass durch die Nutzung mehrerer Modelle die Robustheit der Schlussfolgerungen geprüft wird. Kritisch hinterfragen würde ich die durchweg optimistischen Annahmen zum Potential und der Skalierbarkeit von Technologien zur Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre, sowie die offensichtlich eher pessimistischen Annahmen zum technologischen Fortschritt bei Solar- und Windenergie und der Elektromobilität.“

Aufteilung der CO2-Reduktion zwischen den Sektoren

„In der Tat zeigen auch andere Studien, dass Emissionsminderungen in den Sektoren Transport, Gebäudewärme und Landwirtschaft deutlich schwieriger zu realisieren sind als Minderungen bei Kraftwerken und großen Industrieanlagen. Batterieelektrische Autos und Lkw werden in den nächsten Jahren rasant billiger werden – dadurch ergeben sich große Minderungspotentiale, die in vielen Modellen nicht angemessen berücksichtigt sind. Auch durch nachhaltiges Verbraucherverhalten, beispielsweise einen geringeren Fleischkonsum, lassen sich substantielle Emissionsminderungen und gleichzeitig ein Mehrwert für die Gesundheit der Menschen erzielen.“

Rolle von Bioenergie mit integrierter Kohlenstoff-Speicherung BECCS

„Es gibt unvermeidliche Restemissionen, insbesondere aus der Landwirtschaft, bestimmten Industrieprozessen und möglicherweise auch aus dem Flugverkehr. Eine gewisse Menge an Kohlenstoffabscheidung und -speicherung, insbesondere auch in Kombination mit Biomasse, wird notwendig sein, um diese Restemissionen zu kompensieren. Ich halte die Ergebnisse der Studie aber für viel zu optimistisch in Bezug auf die mittelfristige Geschwindigkeit, mit der Biomasse und CCS in den Markt gebracht werden können. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass CCS-Projekte ziemlich teuer sind, einen langen Planungsvorlauf brauchen und oft scheitern. So wichtig es ist, CCS zu entwickeln, so wichtig ist es auch, dessen Potential nicht zu überschätzen und die direkte Vermeidung fossiler CO2-Emissionen zu priorisieren.“

Rolle der Kernenergie

„Viele Kernkraftwerke in der EU sind sehr alt und werden in den nächsten Jahren entweder abgeschaltet oder sehr aufwändig saniert werden. Die wenigen geplanten neuen Reaktoren zeichnen sich durch massive Verzögerungen und Kostensteigerungen aus. Gleichzeitig werden Wind- und Solarstromanlagen immer billiger und können viel schneller gebaut werden. Die Kernenergie ist zwar nahezu CO2-neutral, ich halte aber einen steigenden Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung bei gleichzeitig steigender Stromnachfrage aufgrund der hohen Kosten und langen Planungshorizonte für hochgradig unplausibel. Selbst in absoluten Zahlen wird die Stromerzeugung aus Kernkraftwerken tendenziell sinken. Die für die Klimaneutralität benötigte sehr schnelle Dekarbonisierung der Stromerzeugung wird zum allergrößten Teil durch Erneuerbare Energien erreicht werden.“

Kosten der CO2-Reduktionspfade

„Berechnungen zu den wirtschaftlichen Kosten des Klimaschutzes sind hochgradig unsicher. Investitionen in Höhe von einigen Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung sind nötig, um den Umstieg auf ein erneuerbares Energiesystem zu schaffen. Demgegenüber stehen massive Einsparungen bei den Importen von Öl, Gas und Kohle, und zahlreiche wirtschaftliche Chancen, beispielsweise beim Maschinen- und Anlagenbau oder in der Energiewirtschaft. Diese Chancen wurden in zumindest einem der an der Studie teilnehmenden Modelle nicht ausreichend berücksichtigt, was dazu führt, dass die wirtschaftlichen Einbußen deutlich zu hoch geschätzt werden.“

Prof. Dr. Wilfried Rickels

Leiter des Forschungszentrums Global Commons und Klimapolitik, Institut für Weltwirtschaft (IfW), Kiel

Methodik

„In der Studie wird eine beeindruckte Anzahl an Modellen angewandt, um verschiedene Möglichkeiten zur Erreichung von Netto-Null Emissionen zu betrachten. Sowohl der sektorale als auch regionale Detaillierungsgrad ist beeindruckend und die betrachten Szenarien bieten eine Vielzahl von wichtigen Informationen für die Ausgestaltung der notwendigen klimapolitischen Rahmenbedingungen.“

Aufteilung der CO2-Reduktion zwischen den Sektoren

„Auch in anderen Studien liegen die Kosten für die Emissionsvermeidung in ESR-Sektoren (Effort Sharing Regulation, verbindliche Emissionsreduktionsziele der EU-Staaten zum Beispiel für Verkehr, Gebäude und Abfall bis 2030; Anm. d. Red.) deutlich über den Kosten in den ETS-Sektoren. Aufgrund der Vielzahl der Modelle ist es schwierig einzuschätzen, welche Friktionen und Annahmen die Vermeidungskosten in den einzelnen Sektoren treiben. In der Regel werden Emissionsreduktionen durch ordnungspolitische Maßnahmen flankiert, die dazu beitragen, dass die impliziten Vermeidungskosten höher sind, dafür dann die Marktpreise in den jeweiligen Instrumenten (ETS 1 und ETS 2) aber deutlich höher. Das würde dafürsprechen, dass die Studien die Kosten sogar noch unterschätzen.“

„Das ETS 2 wird voraussichtlich erst ab 2030 seine volle Wirkung entfalten und dann zu einer effizienten Klimapolitik beitragen. Insbesondere lassen sich dann im Rahmen des ETS 2 die regionale Verteilung der Emissionsreduktionen, zu denen die Studie ebenfalls interessante Einblicke liefert, voraussichtlich einfacher organisieren als in der ESR, da hier der zwischenstaatliche Emissionshandel relativ negativ besetzt ist und die damit möglichen Effizienzgewinne nur bedingt genutzt werden.“

Kosten der CO2-Reduktionspfade

Auf die Frage, ob ein verstärkter Einsatz von Bioenergie mit integrierter Kohlenstoff-Speicherung (BECCS) im Energiesektor notwendig ist, um die Emissionen anderer Sektoren auszugleichen:
„Das ist nicht nur realistisch, sondern notwendig. Inwieweit mögliche Folgen aus der Ausweitung von BECCS für die Landnutzung sowie Nutzungskonflikte für die Biomasse in der Modellierung berücksichtigt sind, kann ich nicht beurteilen. Natürlich ergibt sich ebenfalls eine Konkurrenz mit der Erreichung der CO2-Senke im LULUCF Bereich (LULUCF: Treibhausgas-Emissionen durch Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft; Anm. d. Red.).“

„Bei BECCS ist die Integration in das EU ETS relativ naheliegend, da diese Technologie im Vergleich zu anderen Technologien eine emittierende Aktivität beinhaltet und damit unter die ETS-Direktive fällt, derzeit aber aufgrund der Biomasserichtlinie von der Zertifikatepflicht ausgenommen ist. Mit der Aufhebung dieser Ausnahme sowie einer entsprechenden freien Allokation von Zertifikaten, hätten Biomassebetreiber einen Anreiz durch den Einsatz von CCS, ihre Zertifikate freizusetzen.“

„Eine solche Konstruktion erfordert entsprechende up-stream-Korrekturen bei der Berechnung der LULUCF Emissionen. Entsprechend ist BECCS aber sicherlich die Technologie, die am einfachsten in das EU ETS zu integrieren wäre, ohne die ETS-Direktive grundsätzlich zu ändern. Gemessen an der Nachfrage nach negativen Emissionen wäre allerdings eine grundsätzliche Änderung sinnvoll, so dass auch andere Technologien wie DACCS (Direct Air Carbon Capture and Storage, Herausfiltern von CO2 aus der Luft; Anm. d. Red.) in das EU ETS integriert werden können.“

Dr. Jochen Linßen

Abteilungsleitung „Technikbewertung und vernetze Infrastrukturen“, Institut für techno-ökonomische Systemanalyse (IEK-3), Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ)

Methodik

„Die genutzten Modelle sind sehr unterschiedlich in der Modell-Philosophie: allgemeine, partielle Gleichgewichtsmodelle, makroökonomische Modelle und Bottom-Up techno-ökonomische Modelle. Wie die Rahmendaten für Modellläufe harmonisiert worden sind, wird im Artikel und dem Zusatzmaterial nicht dargestellt. Wie das sektorale ALADIN (Verkehr) und das FORECAST-Modell (Industrie und Gebäude) mit den Gesamtenergiesystemmodellen gekoppelt worden ist, wird im Artikel ebenfalls nicht diskutiert.“

„Für die Bewertung der Modellergebnisse bleibt unklar, welche Input-Daten verwendet wurden zum Beispiel spezifisches Investment Windenergie, Kernenergie oder CO2-Speicherkosten und wie diese zwischen den Modellen harmonisiert worden sind. Ein Vergleich von nicht harmonisierten Modellen ist wenig aussagekräftig. Der Import von fossilen und grünen Energieträgern, zum Beispiel von E-Fuels und Wasserstoff in die EU wird nicht erwähnt und es bleibt unklar, ob diese Option überhaupt in den Modellen hinterlegt ist. Grüner Wasserstoff und auch dessen Import wird für die EU als wichtige Lösung in allen derzeitigen Szenarien diskutiert [2] [3].“

„Für die Modellierung von Erneuerbare-Energien-dominierten Systemen – die Paper-Ergebnisse liegen für das EU-System 2050 zwischen 65 Prozent und 80 Prozent – ist eine hohe zeitliche unterjährliche Auflösung für die Bewertung von Speichern und Flexibilitäten notwendig. Aus dem Artikel wird nicht ersichtlich, wie eine flexible Stromerzeugung, Speicherung und Nachfrageflexibilität in verschieden EU-Ländern sowie der Stromtransport zwischen den Ländern – räumliche Flexibilität – berücksichtigt wird.“

CO2-Reduktion nach Sektoren

„Treibhausgas-Reduktionsmaßnahmen im Verkehrs- und Transportbereich sind mit hohen Gesamtinvestitionen verbunden, da sehr viele Bestandsfahrzeuge und Heizungen beziehungsweise Gebäudesanierungen für signifikante Reduktionen ersetzt beziehungsweise durchgeführt werden müssen. Auch an dieser Stelle kann auf die bereits genannten Szenarien verwiesen werden. Dennoch ist ein effizienter und treibhausgasneutraler Verkehr und Gebäudebestand essenziell für die Zielerreichung der EU.“

„Schwer vermeidbare Treibhausgas-Emissionen in Industrieprozessen und in der Landwirtschaft können durch Negativ-Emissionstechniken mit BECSS und auch Direct Air Capture ausgeglichen werden. Ob eine Aussage zu den Gesamtsystemkosten getroffen werden kann ohne, dass eine integrierte Gesamtoptimierung, sondern lediglich eine Modellkopplung angewandt wurde, ist fraglich.“

Rolle von Bioenergie mit integrierter Kohlenstoff-Speicherung BECCS

„Die Nutzung von BECCS – effiziente Strom- und Wärmeerzeugung mit nachgeschalteter CO2-Abscheidung, Nutzung oder Speicherung – ist eine kosteneffiziente Maßnahme zur Erreichung von negativen Emissionen. Schwer vermeidbare Treibhausgas-Emissionen in Industrieprozessen und in der Landwirtschaft können so ausgeglichen werden. Das nachhaltige Biomassepotenzial muss dabei im Auge behalten werden und eine CO2-Infrastruktur mit Speicherung in der EU geschaffen sein. Statt ausschließlich die Emissionen des Stromsektors mit BECCS bilanziell zu kompensieren, sollte auch der Einsatz von Biomasse für die ohnehin notwendige industrielle Prozesswärmeerzeugung mit anschließender Abscheidung und Speicherung in Erwägung gezogen werden.“

Rolle der Kernenergie

„Der Primärenergiebedarf in der EU27 betrug im Jahr 2018 laut Eurostat knapp 1376 Megatonnen Öleinheiten (Mtoe). Die gültige Richtlinie zur Energieeffizienz der EU aus dem Mai 2023 schreibt eine Reduktion des Primärenergiebedarfs um 38 Prozent auf 853 Mtoe im Jahr 2030 vor. Alle Modellrechnungen (siehe Abbildung 4) weisen einen nicht den Richtlinien entsprechenden deutlich höheren Primärenergiebedarf im Jahr 2030 auf – zwischen etwa 960 und 1510 Mtoe aus. Der Primärenergiebedarf im Startjahr 2020 der Rechnungen betrug 1236 Mtoe (EuroStat). Die Rechenergebnisse des Modells GCAM liegen deutlich über dem historischen Wert und die des NEMESIS-Modells deutlich darunter. Die Trendentwicklungen bezüglich Primärenergiebedarf und Mix in den Modellrechnungen sind daher nur bedingt aussagekräftig. Weiterhin sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich in den Aussagen und es lässt sich nur schwer ein eindeutiger Trend zur Kernenergie erkennen.“

„Ob die Kernenergie eine kosteneffiziente Maßnahme zur Treibhausgas-Reduktion in Europa ist, kann durch fehlende Angaben zu Kraftwerksinvestitionen, Lebensdauern et cetera nicht nachvollzogen werden. Eine Verdopplung der Strommenge aus Kernenergie im Szenario mit dem Modell GCAM würde bei gleichen Volllaststunden eine Verdopplung der Kapazität der Kernkraftwerke bedeuten. In Erneuerbare-Energien-Systemen ist dies eine sehr optimistische Annahme und es ist damit von sinkenden Auslastungen auszugehen. Zusammen mit dem zusätzlich notwendigen Ersatzbedarf von alten Reaktoren durch neue Reaktoren nach aktuellen Sicherheitsstandards ergibt sich daraus mit den derzeitigen Bauzeiten in Europa ein unrealistisches Ausbauszenario in nur 27 Jahren.“

Sind die von der Studie berechneten Investitionskosten und wirtschaftlichen Einbußen realistisch?

„Die Frage kann nicht beantwortet werden, da keine techno-ökonomischen Angaben, zum Beispiel spezifische Investitionen, Effizienzen, Lebensdauern der einzelnen Techniken gemacht werden.“

Dieses Statement entstand in Zusammenarbeit mit Dr. Felix Kullmann, der gemeinsam mit Herrn Linßen am Forschungszentrum Jülich arbeitet.

PD Dr. Patrick Jochem

Abteilungsleitung Energiesystemanalyse, Institut für Vernetzte Energiesysteme, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Stuttgart

Methodik

„Ein äußerst spannendes und lesenswertes Papier mit geeigneten Abbildungen. Es versucht methodisch unmögliches, nämlich die Kopplung von sieben Modellen, um das klimaneutrale Europa 2050 besser verstehen zu können. Sehr überzeugend, was die Kolleg:innen hier geschafft haben! Die verwendeten Modelle sind überzeugend ausgewählt, da sie sowohl die globale Perspektive als auch die sektorenspezifischen Charakteristika und makroökonomische Einflüsse berücksichtigen.“

CO2-Reduktion nach Sektoren

„Im Großen und Ganzen sind die Ergebnisse wenig überraschend und liegen allesamt im Bereich der bereits vorliegenden Einzelstudien. Auch hier ist es die Quadratur des Kreises, diese umfangreichen Ergebnisse in einem Journalpapier unterzubringen.“

„Die Autoren schreiben insbesondere wenig, wie sie mit den Inkonsistenzen in den Modellen und Modellannahmen umgegangen sind, zum Beispiel in Bezug auf unterschiedliche Energienachfragen oder den Erzeugungsmix (siehe Abbildung 4). Beispielsweise zeigen die Unterschiede bei der Bioenergienutzung und auch bei der Wasserstoff- oder Speichernutzung, dass diese noch preissensitiv zu sein scheinen. In diesem Hinblick wäre es schön gewesen, zunächst für die nächsten Jahre ein eindeutiges Szenario aufzuzeigen (no-regret) und dann ab circa 2035 die Unsicherheiten in den unterschiedlichen Transitionspfaden – zum Beispiel in Richtung Hydrogen-, eFuels- oder AllElectric-World – darzustellen. Darüber hinaus scheint die Fokussierung auf BECCS als die einzige veritable Carbon-Dioxide-Removal-Technologie etwas einseitig zu sein – insbesondere im Hinblick auf die großen Unsicherheiten der technoökonomischen Parameter dieser Technologien (siehe auch Abbildung 3). Auch der Ausbau der nuklearen Kraftwerke ist aufgrund deren sinkenden Vollaststunden wegen des hohen Anteils an fluktuierender Energieerzeugung durch Wind und Solar aus heutiger Sicht sicherlich mit Unsicherheiten verbunden.“

„Die tieferen und notwendigen Einblicke der Sektorenmodelle ergänzen das Modellportfolio passend, sind jedoch aufgrund der üblichen Wortbeschränkung von Journalartikeln im Papier nicht ausreichend erläutert. Eine Emissionsminderung von 94 Prozent im Transportsektor erscheint aus heutiger Sicht optimistisch. Vermutlich ist der Schiffs- und Flugverkehr hier nicht berücksichtigt. Leider lassen sich die Annahmen in dem Papier nicht vollständig nachvollziehen.“

Rolle von Kernenergie

„Der in den Ergebnissen genannte Ausbau der nuklearen Kraftwerke würde aufgrund deren sinkender Vollaststunden wegen des hohen Anteils an fluktuierender Energieerzeugung durch Wind und Solar zu deutlich höheren Stromgestehungskosten der nuklearen Anlagen führen und diese damit unwirtschaftlicher machen. Andere Modellergebnisse zeigen unter anderem aus diesen Gründen niedrigere Anteile der Kernenergie im zukünftigen Strommix. Der Einfluss auf das Gesamtsystem ist jedoch nicht erheblich, da die Kernkraftwerke durch erneuerbare Energiequellen mit Speichern – die in der Analyse auch großen Teils unerwähnt bleiben – ersetzt werden und die Gesamtsystemkosten auf ähnlicher Höhe bleiben. Auch Geothermie-Anlagen könnten hier durchaus einen Anteil übernehmen.“

Wirtschaftliche Kosten

„Der wirtschaftliche Einfluss – Investitionen von etwa 2,2 Prozent des BNP 2050 – scheint durchaus realistisch zu sein. Einschränkend könnten weitere Krisen und insbesondere Rohstoffengpässe genannt werden, die aber in den genutzten Modellen üblicherweise unberücksichtigt bleiben.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Johannes Emmerling: „Ich sehe keine Conflicts of Interest. Nur sind einige der Koautoren anscheinend in einer anderen Abteilung und geografischen Location meines Arbeitgebers (CMCC) tätig.“

Prof. Dr. Daniela Thrän: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Dr. Gunnar Luderer: „Prof. Dr. Gunnar Luderer hat mit eigenen, thematisch verwandten Szenarienberechnungen zu Expertisen des EU Scientific Advisory Board on Climate Change beigetragen.“

Prof. Dr. Wilfried Rickels: „Interessenkonflikte habe ich nicht.“

Dr. Jochen Linßen: „Ich bestätige hiermit, dass ich keine Interessenkonflikte bei dem Thema und auch im Zusammenhang mit den Autoren sehe.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Boitier B et al. (2023): A multi-model analysis of the EU’s path to net zero. Joule. DOI: 10.1016/ j.joule.2023.11.002.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Wilkerson J et al. (2015): Comparison of integrated assessment models: Carbon price impacts on U.S. energy. Energy Policy. DOI: 10.1016/j.enpol.2014.10.011.

[2] European Commission (2021): EU reference scenario 2020 - Energy, transport and GHG emissions: trends to 2050. DOI: 10.2833/35750

[3] IEA (2023): Energy Technology Perspectives 2023.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] AG Energiebilanzen (2023): Auswertungstabellen zur Energiebilanz Deutschland – Daten für die Jahre von 1990 bis 2022.

[II] Science Media Center (2018): Das Kohlendioxid muss raus. Fact Sheet. Stand: 21.12.2018.