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08.11.2023

Virusverbreitung bei HPV-Geimpften

     

  • HPV-Impfungen bei Mädchen und Jungen führen zu erfolgreicher Herdenimmunität, allerdings auch zu stärkerer Verbreitung der HPV-Varianten, gegen die nicht geimpft wurde
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  • Autorinnen und Autoren empfehlen, sowohl Mädchen als auch Jungen gegen HPV zu impfen, das Screening-Verfahren jedoch anzupassen
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  • Forschende begrüßen die ‚real life‘-Daten aus Finnland und befürworten die Impfstrategie in Deutschland, Österreich und der Schweiz
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Eine Impfung gegen Humane Papillomaviren (HPV) bei Jungen und Mädchen führt zu einer Herdenimmunität gegen die geimpften Hochrisikovarianten, ermöglicht es aber anderen Virusvarianten, sich in der Bevölkerung zu verbreiten. Dieses Ergebnis, welches am 08.11.2023 im Fachjournal „Cell Host & Microbe“ vorgestellt wurde, beschreibt laut der Studienautorinnen und -autoren die Veränderungen in der Verbreitung von HPV-Varianten, wenn ein Impfprogramm auf einzelne Varianten abzielt (siehe Primärquelle).

Die Forschenden der aktuellen Studie untersuchten die Ausbreitung von unterschiedlichen HPV-Varianten in insgesamt 33 Gemeinden in Finnland. In einigen Gemeinden erhielten sowohl Mädchen als auch Jungen bis 15 Jahre eine Impfung gegen die HPV-Varianten 16 und 18, in manchen Gemeinden wurden dagegen nur Mädchen geimpft und in anderen Gemeinden wurden keine Impfungen gegen HPV vorgenommen. Im Abstand von vier und acht Jahren nach der Impfung testeten die Forschenden auf das Vorkommen von sechzehn unterschiedlichen HPV-Varianten. Das Ergebnis: Die Herdenimmunität war in den Gemeinden am stärksten, in denen Mädchen und Jungen sich impfen ließen, allerdings breiteten sich dort die HPV-Varianten, gegen die nicht geimpft wurde, stärker aus. Die Forschenden sehen in ihren Ergebnissen wichtige Implikationen für die Strategie, HPV und die damit einhergehenden Erkrankungen wie Gebärmutterhalskrebs, einzudämmen.

HPV-Infektionen gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen weltweit. Von den insgesamt über 200 HPV-Varianten können Niedrigrisiko-Typen, wie vor allem HPV6 und HPV11 zu Genitalwarzen und Hochrisiko-Typen, wie HPV16 und HPV18 zu bösartigen Tumoren führen. Um das Risiko einer HPV-Infektion zu reduzieren, empfiehlt die Ständige Impfkommission seit 2007 die HPV-Impfung für Mädchen zwischen neun und 14 Jahren und seit 2018 auch für Jungen. 2021 haben in Deutschland 54 Prozent der Mädchen und 27 Prozent der Jungen bis zu ihrem 15. Lebensjahr die HPV-Impfung vollständig erhalten [I]. Gynäkologinnen und Gynäkologen bieten Frauen für die Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs zwischen 20 und 34 Jahren den sogenannten PapAbstrich und bei Frauen über 35 Jahre alle drei Jahre einen zusätzlichen HPV-Test an [II]. Nur der HPV-Test untersucht vorhandene Virusvarianten.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 2020 die 90-70-90 Strategie, mit der sie gegen Gebärmutterhalskrebs vorgehen will [III]: Bis 2030 sollen 90 Prozent der Mädchen bis zu ihrem 15. Lebensjahr die vollständige HPV-Impfung erhalten haben. 70 Prozent der Frauen bis 35 Jahre sollen mit einem aussagekräftigen HPV-Test gescreent worden sein, und dann noch einmal bis zu ihrem 45. Lebensjahr. Und 90 Prozent der Frauen, die an Gebärmutterhalskrebs leiden, sollen eine entsprechende Behandlung erhalten können.

Inwiefern die aktuelle Studie wichtige Erkenntnisse für die Ausbreitung der HPV-Varianten liefert und ob daraufhin das aktuelle Vorgehen gegen die HPV-Verbreitung angepasst werden sollte, diskutieren unabhängige Forschende in den nachfolgenden Statements.

Übersicht

     

  • Dr. Tim Waterboer, Abteilungsleiter Infektionen und Krebs-Epidemiologie, Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg
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  • Prof. MD Elmar A. Joura, Associate Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe in der Abteilung für allgemeine Gynäkologie und gynäkologische Onkologie, Medizinische Universität Wien, Österreich
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  • Prof. Dr. Ulrike Wieland, Oberärztin und stellvertretende Direktorin des Instituts für Virologie, Uniklinik Köln, und Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Papillom- und Polyomaviren
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  • PD Dr. Andreas M. Kaufmann, Leiter der Arbeitsgruppe Gynäkologische Tumorimmunologie, Klinik für Gynäkologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Vertreter des HPV-Management Forums
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Statements

Dr. Tim Waterboer

Abteilungsleiter Infektionen und Krebs-Epidemiologie, Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg

Infektionsraten von HPV werden in der Forschung als Stellvertreter für die spätere Entstehung von Krebs gesehen. Da die HPV-Impfung noch relativ neu ist und zunächst nur bei jungen Frauen vorgenommen wurde, ist der Zeitraum für ein Follow-up begrenzt. Es gibt keine Daten zur HPV-Impfung, die mehr als 15 Jahre alt sind. Deshalb ergibt sich der Zeitraum der Untersuchung mit den Messabständen von vier und acht Jahren im Wesentlichen aus der gegebenen Datenverfügbarkeit. Wichtige Fragen, die in Zukunft gestellt werden, sind: Wie lange halten die Antikörper an? Wann kommt es zu Durchbruchsinfektionen? Und wie schützt die Impfung vor Krebsarten, die erst viele Jahre später auftreten? All diese Fragen kann man nur im Laufe der Zeit beantworten.“

„Grundsätzlich spricht für die Methodik der Studie, dass das Journal, in dem die Studie publiziert wurde, sehr hochrangig ist. Man kann also von einem gründlichen Review ausgehen. Ein weiterer Pluspunkt an der Studienmethodik ist, dass die Forschungslandschaft in Finnland hervorragend organisiert ist. Gerade bei populationsbasierter Forschung wird darauf geachtet, dass Proben und Testergebnisse in Bio- und Datenbanken sorgfältig abgelegt werden und man dadurch umfassend mit den Daten arbeiten kann.“

Entstehung und Bedeutung neuer zirkulierender Virusvarianten

„Das Prinzip des Type Replacements (nach erfolgreicher Eliminierung der mit dem Impfstoff gerichteten Varianten besetzen andere Virusvarianten die frei gewordene ökologische Nische; Anm. d. Red.) ist bekannt. Grundsätzlich ist es so, dass wenn sich evolutionärer Druck auf ein Virus auswirkt, dieses dem Druck ausweicht. Evolutionärer Druck entsteht gegen die Virus-Typen, gegen die geimpft wird – in diesem Fall die zwei Hochrisikotypen 16 und 18. Es ist daher plausibel, dass diese Hochrisikotypen langfristig durch andere Hochrisikotypen ersetzt werden könnten, was zu einer Änderung der Zusammensetzung der Hochrisikotypen führt. Auswirkungen auf Niedrigrisikotypen wie 6 oder 11 sind dagegen bei bivalenter Impfung eher nicht zu erwarten.“

„Zwei Ergebnisse der Studie sind besonders erwähnenswert: Zum einen ist in der aktuellen Studie das Type Replacement in genderübergreifenden Impfgruppen stärker als in Gruppen, in denen nur Mädchen geimpft wurden. Das ist damit zu erklären, dass der Begriff der Herdenimmunität sich immer auf die ganze Bevölkerung bezieht. Herdenimmunität ist nicht dort zu erreichen, wo nur Mädchen geimpft werden. Das wiederum ist die Erklärung, warum gerade in genderübergreifenden Impfgruppen der evolutionäre Druck so groß ist. Zum anderen ist die Schnelligkeit des Type Replacements überraschend: Bei SARS-CoV-2 wurde Type Replacement bereits beobachtet. Man spricht hier auch von ,Immune-Escape-Varianten‘. Da es sich bei SARS-CoV-2 um ein RNA-Virus handelt, erfolgt das Ausweichen wesentlich schneller als bei einem DNA-Virus, wie HPV. Dass bei dem sich langsam verändernden HPV schon nach acht Jahren ein Type Replacement nachweisbar ist, ist eine Neuigkeit, die so nicht unbedingt erwartbar war.“

„Ob sich das Type Replacement auf das Krebsrisiko auswirkt, ist noch nicht zu sagen. Erstmal gilt der Trend, dass durch Impfung weniger Krebserkrankungen entstehen. Wenn Virus-Varianten durch andere ersetzt werden, muss das nicht zu einem Anstieg des Krebsrisikos führen, sondern eher zu einer Abschwächung des Abwärtstrends.“

„Was jetzt erstmal wichtig ist: Auch Männer bekommen HPV-verursachten Krebs. Deshalb sollten auch sie vor HPV-Infektionen geschützt werden. Dank der genderübergreifenden Impfung schützen sich Männer und Frauen selbst und gegenseitig. Diese starken Effekte erhalte ich für viel wichtiger als den Effekt des Type Replacements.“

Mögliche Änderung aktueller Screeningverfahren

„Die Entscheidung, wie gegen HPV gescreent wird, ist hochgradig kompliziert und wird durch viele Meinungsträger wie zum Beispiel Berufsverbände und Krankenkassen beeinflusst. Die Komplexität wird an der Länge der Diskussion deutlich. In den Niederlanden wurde vor wenigen Jahren komplett umgeschwenkt vom zytologischen Screening auf HPV-Tests. Dieser Entscheidung lag jedoch eine mehrjährige Debatte zugrunde. Dieses Paper wird am Screeningverfahren in Deutschland erstmal gar nichts ändern. Das ist auch gut so, wir brauchen noch viel mehr Daten und Gewissheit bevor man das System anpasst. Je besser wir verstehen, wie die HPV-Impfung funktioniert, desto zielgerichteter kann das Screening eingesetzt werden. Beides muss in Einklang miteinander gebracht werden.“

Steigerung der HPV-Impfquote

„Das Ziel der WHO, eine Impfquote von 90 Prozent zu erreichen ist natürlich ein Wunsch, wird aber von der Mehrheit der Forschenden für unrealistisch gehalten. Zudem kann bereits mit einer geschlechterneutralen Impfquote von circa 70 Prozent eine Herdenimmunität erreicht werden. Die Frage ist vielmehr, wie man eine hohe Impfquote erreichen könnte. Dazu gibt es eine klare Antwort: In Schulen impfen. Länder, in denen schulbasiert geimpft wird – wie in Australien –, erreichen hohe Impfquoten. Dies ist erwiesenermaßen ein effektives Tool. Zudem wäre ein längerer Impfschutz wichtig. Wenn der HPV-Impfschutz 20 Jahre und mehr anhält, könnte die Impfung ins Kindesalter verschoben werden. Es ist leichter, Kinder zu impfen, da diese ohnehin regelmäßig geimpft werden. Noch dazu sind Diskussionen rund um Sexualität, was bei einer HPV-Impfung kaum vermeidbar ist, mit Teenagern häufig schwierig. Die ersten Studien zu HPV-Impfungen sind von 2006 und es sieht bisher sehr gut aus, dass der Impfschutz lang anhält.“

Aktuell gibt es den bilaventen, quadrivalenten und nonavalenten (Impfstoff immunisiert gegen zwei/ vier/neun HPV-Varianten; Anm.d. Red.) Impfstoff gegen HPV. In der aktuellen Studie wurde der bivalente Impfstoff verabreicht. Wenn sich dann eine andere Hochrisikovariante durchsetzt, gibt es ja schon den nonavalenten Impfstoff, der diese Variante eventuell bereits abdeckt. Insgesamt gibt es etwa 14 HPV-Hochrisikotypen. Aufgrund der laufenden Entwicklung weiterer Impfstoffe, ist es absehbar, dass bald alle Hochrisikotypen und zusätzlich einige Niedrigrisikotypen (vor allem HPV 6 und 11) abgedeckt werden können. Optimal wäre eine breite Schutzimpfung, die viele Varianten berücksichtigt. Um einen global erfolgreichen Impfstoff zu etablieren, ist es wichtig, dass dieser keiner Kühlung bedarf und kostengünstig ist. Die derzeitigen Kosten pro Impfdosis sind global gesehen ein gewaltiges Problem. Das liegt aber auch daran, dass die Herstellung des HPV-Impfstoffs nicht günstig ist. Ich sehe die Entwicklung jedoch optimistisch, da weltweit an HPV-Impfstoffen geforscht wird.“

Prof. MD Elmar A. Joura

Associate Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe in der Abteilung für allgemeine Gynäkologie und gynäkologische Onkologie, Medizinische Universität Wien, Österreich

„Es handelt sich um eine wichtige Studie, da drei verschiedene Strategien – Jungen und Mädchen, nur Mädchen, keine Impfung – unter ,real-life‘ Bedingungen untersucht werden. Verglichen werden 33 finnische Kommunen, geimpft wurde mit der bivalenten HPV 16/18 Impfung und der Beobachtungszeitraum beträgt vier beziehungsweise acht Jahre.“

„Die Studie zeigt aus praktischer Sicht folgendes: Die Impfung verhindert perfekt und anhaltend Infektionen mit den in der Impfung enthaltenen Stämmen.“

„Die geschlechtsneutrale Strategie ist einer Impfung von ausschließlich Mädchen überlegen.“

„Eine geringe, relative Zunahme von einzelnen HPV-Stämmen ist in einer geimpften Bevölkerung zu erwarten und nicht überraschend.“

„Es wurde lediglich eine geringe, relative Zunahme von zwei Stämmen in geimpften Kohorten beobachtet: HPV 52 und 66. HPV 52 wird durch die in Deutschland, Österreich und der Schweiz angewendete nonavalente Impfung (HPV 6/11/16/18/31/33/45/52/58) verhindert und HPV 66 ist weitgehend harmlos. Beobachtungsstudien werden weiter durchgeführt.“

„Meine Schlussfolgerung ist daher, dass für Deutschland, Österreich und die Schweiz die beste HPV-Impfstrategie gewählt wurde (geschlechtsneutral und breiter Impfschutz).“

Prof. Dr. Ulrike Wieland

Oberärztin und stellvertretende Direktorin des Instituts für Virologie, Uniklinik Köln, und Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Papillom- und Polyomaviren

Zur Methodik

„Die Methodik der Studie ist sehr komplex und ausgesprochen aufwendig. Die Follow-Up-Zeiten nach Impfung sind mit vier und acht Jahren sinnvoll gewählt.“

Auf die Frage für wie überraschend das Ergebnis ist, dass sich andere Virus-Genotypen durchsetzen, gegen die nicht geimpft wurde:
„Das ist nicht sehr überraschend, da bereits frühere Studien Hinweise darauf gaben, dass dies möglich sein könnte, insbesondere wenn mit dem bivalenten Impfstoff geimpft wird [1] [2] [3]. Das bedeutet zunächst für das Krebsrisiko für die Bevölkerung wenig, da der bei uns seit 2016/2017 vorwiegend eingesetzte nonavalente Impfstoff einige der ‚non-vaccine targeted HPVs‘ des Artikels bereits abdeckt, wie zum Beispiel HPV33, 52 und 58 beziehungsweise diese HPV-Typen in Zervixkarzinomen nur sehr selten vorkommen [4].“

Mögliche Änderung aktueller Screeningverfahren

„Das aktuelle Screeningverfahren in Deutschland braucht momentan meiner Meinung nach infolge dieser Studie nicht überdacht werden. Frauen unter 35, egal ob geimpft oder ungeimpft, sollten routinemäßig nicht auf HPV gescreent werden, da sie zu häufig ohne Krankheitswert positiv wären.“

Auf die Frage, für wie realistisch und sinnvoll das Ziel der WHO sei, eine Impfquote von 90 Prozent zu erlangen:
„Da Portugal dieses Ziel bereits erreicht hat, und etliche Länder in Europa 80 Prozent erreicht oder überschritten haben (Spanien, Großbritannien, Malta, Norwegen, Island) ist das prinzipiell möglich und natürlich sehr sinnvoll. In England wurde durch das dortige HPV-Schulimpfprogramm bei jungen Frauen, die ab September 1995 geboren wurden, das Zervixkarzinom schon fast eliminiert [5]. Erreichen könnte man eine Erhöhung der HPV-Impfraten in Deutschland durch ärztliche Gesundheitsbildung an Schulen, Schulimpfungen, die Unterstützung und Intensivierung von HPV-Impfaktivitäten während der U11- und J1- Vorsorgeuntersuchungen, sowie durch Einladung zu diesen Untersuchungen und durch die Finanzierung der U11-Vorsorgeuntersuchung durch alle Krankenkassen [6] [7] [8].“

Weiterentwicklung der Impfstoffe

„Der optimale HPV-Impfstoff würde zum Beispiel eine Erweiterung des nonavalenten Impfstoffs sein, der schon ziemlich optimal ist, und beispielsweise noch die HPV-Typen 35, 39 und 59 abdecken. Der nonavalente Impfstoff deckt bereits über 90 Prozent der HPV-Typen in Zervixkarzinomen und über 95 Prozent der HPV-Typen in HPV-bedingten Oropharynx-Karzinomen ab [9] [10]. Der bivalente Impfstoff, der in dem vorliegenden Artikel untersucht wurde, wird in Deutschland kaum eingesetzt. Möglicherweise bieten in fernerer Zukunft HPV-Impfstoffe, die auf dem HPV-L2-Kapsidprotein basieren eine breitere Kreuzimmunität gegen mehr HPV-Typen als die aktuellen, auf dem HPV-L1-Kapsidprotein basierenden Impfstoffe.“

PD Dr. Andreas M. Kaufmann

Leiter der Arbeitsgruppe Gynäkologische Tumorimmunologie, Klinik für Gynäkologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Vertreter des HPV-Management Forums

Zur Methodik

„Die epidemiologische Studie, auf der diese Auswertung der HPV-Genotypenprävalenz beruht, wurde als ,community randomized trial‘ angelegt, das heißt es wurden jeweils elf Ortschaften pro Studienarm zufällig verteilt, die mindestens 50 Kilometer voneinander entfernt lagen. Dabei wurde auf eine vergleichbare Einwohnerzahl und vergleichbare historische HPV 16/18-Infektionsrate in den drei Studienarmen geachtet. Damit sind eventuell Unterschiede der Grundvoraussetzungen zwischen den Studienarmen ausgeglichen. Von den circa 20.000 zur Studie eingeladenen 13- bis 14-jährigen Jugendlichen wurden in Studienarm A 43 Prozent der Mädchen und 17,5 Prozent der Jungen mit dem bivalenten HPV-Vakzin Cervarix geimpft, im Studienarm B 49 Prozent der Mädchen geimpft, wobei Jungen als Placebo eine Hepatitisimpfung erhielten, und im Studienarm C alle Studienteilnehmenden die Hepatitis-Plazeboimpfung erhielten.“

„Demnach ist die Durchimpfungsquote im Studienarm A in etwa so hoch wie gerade in Deutschland – wobei wir in Deutschland zur Hälfte Ältere als 14-Jährige impfen, was die Effektivität beeinträchtigt. Nach vier und acht Jahren wurden die Mädchen zur gynäkologischen Untersuchung mit einer Probenabnahme für eine genotypisierende HPV-Testung eingeladen und 84 Prozent beziehungsweise 59 Prozent der HPV-Geimpften sowie 82 Prozent der Placebo-Geimpften (nur Jahr 4) nahmen teil. Damit ist eine gute repräsentative Studienprobenzahl gewährleistet. Neben der Bestimmung der Impfstoff-enthaltenen Genotypen HPV16/18 sowie der gut durch Kreuzprotektion nahe verwandten Typen HPV31 und 45 wurden auch weitere 12 HPV-Genotypenprävalenzen verglichen.“

„Für die Impfstoffgenotypen wurde zuvor bereits publiziert, dass bei Mädchen in der geimpften Population die Vakzineeffizienz 93 Prozent für HPV16, 96 Prozent für HPV18, 71 Prozent für HPV31 und 92 Prozent für HPV45 betrug. Beim Prävalenzvergleich der nicht-Impfstoff-Genotypen zeigt die vorliegende Publikation einen statistisch signifikanten Anstieg der HPV-Genotypen 52 und 66 beim Vergleich des Studienarms A mit B sowie A mit C acht Jahre nach Impfung.“

„Die Durchführung der Studie als Vergleichsstudie von HPV geimpften und ungeimpften Studienpopulationen sowie die Auswertung der Daten zur HPV-Genotypen-Häufigkeit in den jeweiligen Studienarmen entspricht dem wissenschaftlichen Standard. Die reelle Studie wird durch eine Modellierung der Studiendaten unterstützt, die ein vergleichbares Ergebnis erbrachte. Die Studie wurde kurz nach Zulassung des Impfstoffs durch die EMA (European Medicines Agency) begonnen und 13 bis 14-Jährige eingeschlossen, damit nach bereits vier Jahren Effekte messbar sind, wenn diese Jugendlichen nach Aufnahme sexueller Aktivität sich potenziell mit HPV infiziert haben. Dadurch ist eine erste HPV-Testung im Alter von 18 Jahren bereits sinnvoll und kann den Impfschutz als Abnahme der HPV-Impfstofftypen gegenüber den nicht-Impfstofftypen sowie zur Placebo-Studienpopulation nachweisen. Eine Wiederholung der Testung nach acht Jahren bestätigt den anhaltenden Impfschutz. Das hier beschriebene Ergebnis eines Anstiegs von zwei HPV nicht-Impfstoff Genotypen ist dank der relativ großen Studienpopulationen statistisch signifikant nachweisbar. Der Effekt tritt vor allem in dem ,geschlechtsneutral‘ geimpften Studienarm zu Tage, weil hier die Abnahme der Impfstofftypen und damit auch die Möglichkeit zur stärkeren Verbreitung der anderen HPV-Typen besonders gegeben ist.“

Entstehung und Bedeutung neuer zirkulierender Virusvarianten

„Eine Verschiebung der Häufigkeiten und relative Zunahme von einigen HPV-Genotypen war diskutiert und erwartet worden und ist nicht überraschend. Solche Phänomene werden auch bei anderen Viren beobachtet. Damit geht aber nicht eine Veränderung deren Karzinogenität einher und der Impfeffekt der Verhinderung von 70 bis 90 Prozent der Karzinome durch die HPV-Impfung wird nicht maßgeblich reduziert. Selbst wenn sich die Häufigkeit der Infektion mit HPV52 erhöht, bleibt das Risiko für die einzelne infizierte Frau so, wie vor der HPV-Impfung. In der gesamten Population können durch diesen Typ hervorgerufen Karzinome aber zunehmen. Da die Evolution der HPV sehr langsam verläuft ist nicht zu erwarten, dass dieser Genotyp schnell eine höhere Karzinogenität entwickeln wird.“

Mögliche Änderung aktueller Screeningverfahren

„Es gibt keinen Anlass derzeit das Screening durch HPV-zytologische Ko-Testung auf Grund dieser Studiendaten zu ändern. Erstens sind die hier als leicht ansteigend beschriebenen HPV-Genotypen (HPV52 und 66) in den aktuell verwendeten Screening-HPV-Tests enthalten und damit werden sie erfasst. Zweitens werden diese HPV-Genotypen nicht karzinogener und würden früher zu Karzinomen führen, es steigt nur die Anzahl der Infizierten, die aber individuell das gleiche Risiko – und damit Alter – haben wie in einer ungeimpften Population. Drittens haben wir in Deutschland eine Impfquote von maximal 60 Prozent der Mädchen – wobei davon die Hälfte nach dem 15. Geburtstag geimpft wurde und nach bereits erworbener HPV-Infektion eine geringere Schutzwirkung haben – sodass auch Geimpfte weiterhin unverändert gescreened werden müssen. Eine HPV-Testung bei jüngeren Frauen, ob geimpft oder nicht, führt hauptsächlich zur Auffindung transienter, selbstlimitierender Infektionen oder meist regredierender niedrig-gradiger Gewebeveränderungen, was aber eine Welle an unnötiger, teurer und belastender Abklärung und Übertherapie nach sich ziehen würde.“

Generelle Situation in Deutschland

„Das Robert Koch-Institut hat in Zusammenarbeit mit dem HPV-Labor der Klinik für Gynäkologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin eine HPV-Prävalenzuntersuchung für Deutschland durchgeführt. Es wurden in zwei Studienrunden die HPV-Genotypen bei Frauen im Alter von 20 bis 25 Jahren untersucht. Zuerst als Basisstudie 2010/2011 [11] als diese Altersgruppe noch nicht geimpft war und dann nochmals als Effektivitätsstudie 2017/2018 als diese Altersgruppe die ersten Geimpften umfasste. Dies war eine populationsbasierte Studie mit deutschlandweiter repräsentativer Studienteilnahme. Die Ergebnisse zeigten vergleichbare Effekte wie in der Studie von Pimenoff et al. berichtet. Bei HPV-Geimpften nahmen die Impfstoff-HPV Genotypen deutlich ab, wobei eine adjustierte Vakzineeffizienz von 46,4 Prozent für HPV16/18 und 49,1 Prozent HPV6/11/16/18 dokumentiert wurde. Gegenüber der Basisstudie nahm die Prävalenz von HPV16/18 von 22,5 Prozent auf 10,3 Prozent bei den nicht-geimpften jungen Frauen ab. Dies repräsentiert den Effekt der Herdenimmunität durch reduzierte Weitergabe einer Infektion durch geimpfte Personen in der Population. Auch in dieser Studie im realen Versorgungskontext zeigte sich ein Anstieg der Prävalenzen von einigen Nicht-Impfstoff-Genotypen. Dies betraf die Genotypen HPV31, 33, 45 und 52. Da in Deutschland vorwiegend der quadrivalente Impfstoff (Gardasil) verwendet wurde und bei diesem eine Kreuzprotektion gegen die Genotypen HPV31 und 45 nur marginal besteht, ist das Spektrum der zunehmenden Genotypen etwas breiter. Allerdings sind alle diese Typen in den HPV-Screeningtests enthalten und im Nachfolgeimpfstoff (Nonavalente Vakzine, Gardasil9) mit abgedeckt, sodass sie durch Impfung ebenfalls verhinderbar sind.“

Auf die Frage, für wie realistisch und sinnvoll das Ziel der WHO sei, eine Impfquote von 90 Prozent zu erlangen:
„Die WHO möchte bis 2030 eine 90 Prozent Impfquote bei Mädchen bis zum 15. Lebensjahr weltweit erreichen. Das ist eine sinnvolle und meiner Meinung nach der einzig möglichen Strategie, um im Jahr 2100 Zervixkarzinome zu einer seltenen Erkrankung zu reduzieren. Die 90-Prozent-Impfquote mit vollständiger Dosis zu erreichen, ist bisher nur wenigen Ländern gelungen (zum Beispiel Norwegen, Rwanda, Burundi, Mexico). Die durchschnittliche Impfquote der Zielpopulation liegt weltweit bei circa 67 Prozent für die erste Impfdosis. Sie ist generell höher und die 90-Prozent-Marke wird nur in Ländern mit Schulimpfprogrammen erreicht. Dabei ist es einfacher und erfolgreicher die Zielpopulation als eine Jahrgangsstufe zu definieren als, wie in Deutschland, ein Altersspektrum von neun bis 18 Jahren und eine Praxis-basierte Impfstrategie durchzuführen. Zudem werden in Deutschland etwa 50 Prozent der Geimpften erst nach dem 15. Lebensjahr geimpft, oft, wenn sie bereits sexuell aktiv und möglicherweise infiziert sind. Dadurch wird die Effektivität der prophylaktischen HPV-Impfung deutlich reduziert.“

„Eine Verbesserung der Impfquoten könnte durch frühere Impfung mit besserer Erreichbarkeit der Mädchen durch ein Schulimpfprogramm erreicht werden. Ab dem neunten Lebensjahr ist die Impfung zugelassen und sollte sogleich konsequent angewendet werden. Es gibt keinen Grund für eine spätere Impfung, denn je früher, umso besser ist der Impfschutz gegeben. Auch die Impfung von Jungen, zumal wenn nicht ausreichende Impfungen bei Mädchen erreicht werden, führt zu einem schnelleren Erreichen einer Herdenimmunität. Neben diesem Beitrag profitieren Jungen auch durch die Verhinderung HPV-assoziierter Krebserkrankung im Anal- und Kopf-Hals-Bereich. Als weitere Maßnahme muss Screening mit anschließender konsequenter Therapie der Krebsvorstufen weltweit verfügbar gemacht werden. Hierfür werden aber spezifischere Tests, am besten für Dysplasien und nicht nur die HPV-Infektion, benötigt und die Kapazität für effiziente Therapien muss geschaffen werden.“

Weiterentwicklung der Impfstoffe

„Eine optimale Impfung gegen HPV würde bereits im Säuglingsalter gegeben werden. Der Nachweis einer Effektivität würde aber lange dauern, bis zum Alter, wenn Ansteckung und Entwicklung von Gewebeveränderungen gemessen werden können. Die hierzu notwendigen Studien werden aber nicht mehr durchgeführt, da der Patentschutz ausgelaufen ist. Der optimale Impfstoff würde gegen möglichst viele HPV-Genotypen breit schützen und mit einer Impfdosis eine dauerhafte Immunität generieren.“

„Inzwischen haben Länder wie Indien (Serum Institute of India) und China eigene HPV-Impfstoffe entwickelt, die mehr Typen abdecken und damit eine breitere Schutzwirkung haben werden. Ob diese in der EU zugelassen und verfügbar werden, bleibt abzuwarten. Die Forschung hat neue Impfstoffe in Entwicklung und Prüfung. Dabei sind L2-basierte Impfstoffe vielversprechend, da dieses HPV-Kapsidprotein eine sehr breite Kreuzimmunität und -protektion vermittelt. Eine Prüfung der Immunogenität und Sicherheit einer solchen L2-Impfstoffentwicklung erfolgt derzeit am Deutschen Krebsforschungszentrum.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Tim Waterboer: „Ich habe mit den Autoren des vorliegenden Papers zuvor an gemeinsamen Publikationen zusammengearbeitet. Ich bin Mitglied in Advisory Boards von Merck Sharp & Dohme (MSD).“

Prof. MD Elmar A. Joura: „Ich bin primary investigator für den quadrivalenten Impfstoff und den nonavalenten HPV-Impfstoff von MSD.“

Prof. Dr. Ulrike Wieland: „Ich bin die Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Papillom- und Polyomaviren, das vom Bundesministerium für Gesundheit finanziert wird. Wir erhalten keine Zuwendungen von Impfstoffherstellern.“

PD Dr. Andreas M. Kaufmann: keine Angabe

Primärquellen

Pimenoff VN et al. (2023): Ecological diversity profiles of non-vaccine-targeted HPVs after gender-based community vaccination effort. Cell Host & Microbe. DOI: 10.1016/j.chom.2023.10.013.

Weiterführende Recherchequellen

Loenenbach A et al. (2023): Human papillomavirus prevalence and vaccine effectiveness in young women in Germany, 2017/2018: results from a nationwide study. Frontiers in Public Health. Doi: 10.3389/fpubh.2023.1204101

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Shing JZ et al. (2022): Precancerous cervical lesions caused by non-vaccine-preventable HPV types after vaccination with the bivalent AS04-adjuvanted HPV vaccine: an analysis of the long-term follow-up study from the randomised Costa Rica HPV Vaccine Trial. The Lancet Oncology. DOI: 10.1016/S1470-2045(22)00291-1.

[2] Gray P et al. (2018): Evaluation of HPV type-replacement in unvaccinated and vaccinated adolescent females—Post-hoc analysis of a community-randomized clinical trial (II). International Journal of Cancer. DOI: 10.1002/ijc.31281.

[3] Mesher D et al. (2016): Population-Level Effects of Human Papillomavirus Vaccination Programs on Infections with Nonvaccine Genotypes. Emerging Infectious Diseases. DOI: 10.3201/eid2210.160675.

[4] de Sanjose S et al. (2010): Human papillomavirus genotype attribution in invasive cervical cancer: a retrospective cross-sectional worldwide study. The Lancet Oncology. DOI: 10.1016/S1470-2045(10)70230-8.

[5] Falcaro M et al. (2021): The effects of the national HPV vaccination programme in England, UK, on cervical cancer and grade 3 cervical intraepithelial neoplasia incidence: a register-based observational study. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(21)02178-4.

[6] Wittenberg I et al. (2020): Wie die Impfprävention gefördert werden kann. Perspektiven der Onkologie. Deutsches Ärzteblatt Supplement.

[7] Robert Koch-Institut (2022): Epidemiologisches Bulletin 36/2022.

[8] Sternjakob-Marthaler A et al. (2022): Human papillomavirus vaccination of girls in the German model region Saarland: Insurance data-based analysis and identification of starting points for improving vaccination rates. PLOS One. DOI: 10.1371/journal.pone.0273332.

[9] de Sanjose S et al. (2010): Human papillomavirus genotype attribution in invasive cervical cancer: a retrospective cross-sectional worldwide study. The Lancet Oncology. DOI: 10.1016/S1470-2045(10)70230-8.

[10] Guo T et al. (2016): The potential impact of prophylactic human papillomavirus vaccination on oropharyngeal cancer. Cancer. DOI: 10.1002/cncr.29992.

[11] Deleré Y et al. (2014): Human Papillomavirus prevalence and probable first effects of vaccination in 20 to 25 year-old women in Germany: a population-based cross-sectional study via home-based self-sampling. BMC Infectious Diseases. Doi: 10.1186/1471-2334-14-87.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Robert Koch-Institut: Repräsentativbefragungen im Studienmodul 2 der Interventionsstudie zur Steigerung der HPV-Impfquoten in Deutschland (InveSt HPV). Stand: 14.09.2023.

[II] Gemeinsamer Bundesausschluss: Gebärmutterhalskrebs Früherkennung für Frauen ab 35 Jahren - Informationen zum Angebot der gesetzlichen Krankenversicherung. Stand: November 2022.

[III] World Health Organization (2020): Global strategy to accelerate the elimination of cervical cancer as a public health problem.