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20.05.2024

Nicht-invasive Elektrostimulation hilft Gelähmten

     

  • nicht-invasive Elektrostimulation zur Verbesserung der Hand- und Armfunktion bei Gelähmten
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  • Studie dokumentiert Erfolge bei Kraft und Beweglichkeit
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  • unabhängige Forschende sind zuversichtlich, rügen aber unter anderem fehlende Vergleichsgruppen
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Eine nicht-invasive Elektrostimulation kann bei gelähmten Patientinnen und Patienten die Hand- und Armfunktion verbessern. Das zeigt ein internationales Forschungsteam in einer Studie im Fachblatt „Nature Medicine“ (siehe Primärquelle). Vom 14. Januar bis zum 24. Dezember 2021 wurden insgesamt 65 Personen mit einer Lähmung des Ober- und Unterkörpers (Tetraplegie) aufgrund einer Rückenmarksverletzung untersucht und in die Studie aufgenommen. Bis Ende Juni 2022 hatten 60 Personen das gesamte Protokoll und die Bewertungen abgeschlossen. Die Forschenden therapierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem eigens entwickelten Elektrostimulationsgerät ARC-EX, das durch die niederländische Firma Onward vertrieben werden soll [I]. Bei der Behandlung werden Elektroden oberhalb und unterhalb der jeweiligen Rückenmarksverletzung auf der Haut angebracht. Das Rückenmark wird anschließend in diesem Bereich von außen mit Stromimpulsen stimuliert.

Alle Probandinnen und Probanden durchliefen über einen Zeitraum von zwei Monaten ein standardisiertes Rehabilitationsprogramm in der Klinik, gefolgt von demselben Rehabilitationsprogramm mit zusätzlicher ARC-EX-Therapie für weitere zwei Monate. Bei 43 Personen (72 Prozent) verbesserte die Therapie die Fingerspitzenklemmkraft, die Bewegung und die sensorischen Fähigkeiten. Die Probandinnen und Probanden gaben zudem eine allgemeine verbesserte Lebensqualität an. Die Untersuchungen zeigten, dass auch die alleinige Rehabilitationsphase zu einer leichten Verbesserung der Arm- und Handfunktionen führte; eine klare Verbesserung der Motorik und Sensorik trat der Studie zufolge allerdings erst nach der ARC-EX-Therapie ein. Eine Vergleichsgruppe, die nur physiotherapeutisch ohne ARC-EX behandelt wurde, gibt es aber nicht. Zudem wird nicht deutlich, inwieweit die vorherige Rehabilitation das Potenzial der Teilnehmenden erhöhte, anschließend positiv auf die ARC-EX-Therapie zu reagieren.

Die ARC-Produktpalette der Firma Onward umfasst neben ARC-EX eine minimal-invasive Therapie zur Rumpfstabilisierung und Blutdruckregulierung (ARC-IM) sowie eine invasive „digitale Brücke“ zur Wiederherstellung der Kommunikation zwischen Gehirn und Körper (Brain-Computer-Interface, ARC-BCI). Alle Produkte befinden sich weiterhin in der Erprobung und sind noch nicht kommerziell verfügbar. Onward strebt derzeit eine Zulassung für die USA und die EU an.

Das SMC hat Forschende dazu befragt, inwieweit nun im Fall der ARC-EX-Therapie tatsächlich von einem messbaren Erfolg gesprochen werden kann.

Übersicht

  • Prof. Dr. Winfried Mayr, Professor im Ruhestand, Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik, Medizinische Universität Wien, und Stellvertretender Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Biomedizinische Technik, Österreich
  • Prof. Dr. Rüdiger Rupp, Leiter der Sektion Experimentelle Neurorehabilitation, Klinik für Paraplegiologie, Universitätsklinikum Heidelberg

Statements

Prof. Dr. Winfried Mayr

Professor im Ruhestand, Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik, Medizinische Universität Wien, und Stellvertretender Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Biomedizinische Technik, Österreich

Erfolgsbewertung

„Bei der Studie handelt es sich offenbar um eine für die Gerätezulassung nach der Medizinprodukteverordnung (MDR) notwendige Sicherheits- und Wirksamkeitsstudie, die die Firma Onward organisiert und finanziert hat. Die Abwicklung der komplexen Studie in relativ kurzer Zeit wurde durchaus beeindruckend organisiert und präsentiert, und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihren Zweck für die Produktzertifizierung erfüllen. Insofern ist die Studie positiv zu bewerten, da sie geeignet ist, um ein wichtiges Werkzeug für die Rehabilitation für die klinische Praxis verfügbar zu machen. Seit Inkrafttreten der MDR 2021 ist bedauerlicherweise eher das Gegenteil zu verzeichnen, nämlich der Verlust von über viele Jahre bewährten Stimulationsgeräten für den begrenzten Nischenmarkt Rehabilitation.“

„Hinsichtlich des wissenschaftlichen Innovationsgehalts und der klinischen Therapierelevanz muss die Studie jedoch aus verschiedenen Gründen eher kritisch betrachtet werden: Sie validiert ein grundsätzlich nützliches Werkzeug für die Rehabilitationsmedizin und das bereits bekannte Prinzip der Rückenmarkstimulation – eigentlich Posturalwurzelstimulation beziehungsweise Stimulation der hinteren, rein sensorischen Nervenwurzeln – für eine begrenzte Teilgruppe von Patienten mit Lähmungen in der oberen Extremität nach Querschnittlähmung.“

„Die Auswahl der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer beschränkt sich auf die chronische Phase – ab einem Jahr nach der Querschnittverletzung. Weitere Studien zur Anwendung der Stimulation bereits in der Erstrehabilitation wären sehr wichtig, mit potenziell positiven Auswirkungen in dieser bedeutenden weichenstellenden Frühphase nach dem Unfall. Wichtig wären auch Studien zu anders ausgeformten Lähmungsprofilen, etwa sensorisch und motorisch komplette Lähmung oder die relativ häufig zusätzlich gegebenen Denervationen einzelner Muskelgruppen. Auch methodisch gibt es außer dem vorgestellten einheitlich angewendeten Parametersatz noch wichtige Variationsmöglichkeiten in den Stimulationsparametern, die zu individuell besseren Ergebnissen führen können.“

Vergleich zu herkömmlicher Rehabilitation

„Wenn man die erzielten Verbesserungen (Beispiel in Abbildung 3) betrachtet, ergibt sich ein kontinuierlicher Fortschritt über die vier Monate, über die die Physiotherapie angewendet wurde, jedoch keine wirklich ausgeprägte zusätzliche Wirkung der Stimulation über die Monate drei und vier, eventuell mit Ausnahme einer leicht positiven Tendenz bei sensorischen Funktionen.“

„Das gewählte Studiendesign verzichtet leider auf eine Vergleichsgruppe, die durchgehende Physiotherapie ohne Stimulation unter sonst gleichen Bedingungen angewendet hätte. Das heißt nicht, dass die Stimulation nicht als Werkzeug für die Rehabilitation im weiteren Rahmen nützlich sein könnte, aber unter den gegebenen stark eingeschränkten Studienbedingungen erscheint die Wirkung eher geringgradig.“

„Andere Anwendungsszenarien, etwa in einer früheren Phase nach der Verletzung könnten aber wesentlich ausgeprägtere Wirkungen zeigen. Es wäre wichtig, auch solche Studien durchzuführen. Auch gibt es viele Variablen für das Anwendungsprotokoll: Einerseits hinsichtlich Stimulationsparameter mit Elektrodenkonfiguration und Intensität, die den Pool rekrutierter sensorischer Nervenfasern bestimmen, und anderseits hinsichtlich der Frequenz, die besonderen Einfluss auf die spinale Signalverarbeitung zeigt. Wie sich auch bei anderen Anwendungen der Neuromodulation immer wieder zeigt, wird es notwendig sein, mehr auf Personalisierung und individuell optimierte Einstellungen zu setzen, um zu bestmöglichen Therapieerfolgen zu kommen. Dafür kann das vorgestellte System sicherlich ein nützliches Werkzeug sein, aber in der Regel wohl nur als Teil ganzheitlicher Ansätze und in Kombination mit anderen technischen Geräten und angepasster Physiotherapie.“

Hürden der Therapie

„Beeinträchtigungen nach zervikaler Querschnittverletzung können äußerst unterschiedlich ausgeprägt sein. Neben den in der Studie untersuchten klinischen Kategorien inkompletter Querschnittlähmung AIS B bis D gibt es auch Fälle mit kompletter motorischer und sensorischer Lähmung (AIS A), mit großen interindividuellen Unterschieden in den verbliebenen neuralen Funktionen auch innerhalb all dieser Gruppen. Auch gibt es immer wieder nicht mehr nervversorgte (denervierte) Muskelgruppen, die andere entsprechend angepasste Rehabilitationsstrategien erfordern. Insgesamt ergeben sich also große Unterschiede in den Voraussetzungen der Patientinnen und Patienten, denen mit individuellen Konzepten Rechnung zu tragen ist.“

Einsatz im klinischen Alltag

„Die Firma Onward beschäftigt sich mit Stimulationssystemen unter der Bezeichnung ARC für nicht-invasive Elektroden an der Hautoberfläche (Bezeichnung EX) und Implantate (IM). Beides ist nicht alleinstehend, aber es ist grundsätzlich positiv zu sehen, dass sich das Angebot technischer Werkzeuge für die Rehabilitation nach Querschnittlähmung damit erweitert. Dies hat insbesondere auch Bedeutung, weil gerade wegen der neuen Medizinprodukteregulierung der Europäischen Union schon zahlreiche nützliche und bewährte Stimulationsgeräte verloren gegangen sind, da der relativ kleine Markt der Querschnittrehabilitation die nun gegebenen Mehrkosten nicht mehr rückfinanzieren kann. Umso wichtiger werden Marktteilnehmer, die weiterhin Werkzeuge anbieten können.“

„Limitierend für die Anwendung im klinischen Alltag ist vor allem das wachsende Problem knapper Personalressourcen, sodass es generell schwierig ist, nützliche neue Technik in die klinische Routine zu bringen. Vorausgesetzt, entsprechend geschultes Personal mit ausreichend zeitlichem Spielraum stünde zur Verfügung, um ARC und andere Stimulationsgeräte individuell optimiert anzupassen und eine regelmäßige Anwendung zu unterstützen, wäre das eine substanzielle Aufwertung der therapeutischen Möglichkeiten. Die Praktikabilität wäre dann also gegeben, und der klinische Mehrwert von Stimulationsgeräten im Allgemeinen wie auch ARC ebenso.“

Prof. Dr. Rüdiger Rupp

Leiter der Sektion Experimentelle Neurorehabilitation, Klinik für Paraplegiologie, Universitätsklinikum Heidelberg

Erfolgsbewertung

„Die Studie hat eine große Zahl von Untersuchungsmethoden angewandt, die nicht nur die Kraft und Sensibilität in den Armen und Händen bei Menschen mit einer chronischen Schädigung des Halsrückenmarks, sondern auch die Fähigkeit zur Ausführung von typischen Alltagsfunktionen wie das Greifen eines Bechers, testen. In der Mehrzahl der Studienteilnehmenden konnte bei allen dieser Untersuchungen eine deutliche Verbesserung der Kraft, der Sensibilität und der Alltagsfähigkeiten unter der zweimonatigen ARC-Therapie im Vergleich zu einer ebenso langen vorgeschalteten Physiotherapie festgestellt werden. Die Verbesserungen waren so groß, dass die Studienteilnehmenden eine Verbesserung ihrer Lebensqualität angaben, was die wenigsten Verfahren erreichen. Insofern sind die Ergebnisse als sehr relevant für die Verbesserung der Behandlung von Menschen mit hoher Querschnittlähmung und damit verbundenen Einschränkungen der Arm- und Handfunktion anzusehen. Einen kleinen Wehrmutstropfen gibt es allerdings, denn es wurden keine Patienten mit einer kompletten Querschnittlähmung eingeschlossen, die den höchsten Bedarf für eine Funktionsverbesserung der oberen Extremitäten haben.“

Vergleich zu herkömmlicher Rehabilitation

„Die Studienergebnisse zeigen, dass es auch in den ersten zwei Monaten, in denen nur Physiotherapie angewandt wurde, zu Verbesserungen der Handkraft und Handfunktion bei den chronischen – also damit austherapierten – Studienteilnehmenden kam. Als dann aber die Physiotherapie mit der ARC-Therapie kombiniert wurde, kam es zu deutlich größeren Verbesserungen auch von Parametern, die sich durch die Physiotherapie nicht verbessert hatten. Wenn man bedenkt, dass in dieser Patientengruppe mit Langzeitlähmungen eigentlich keine großen Verbesserungen mehr zu erreichen sind, sind die Ergebnisse sehr vielversprechend.“

„Auch hier gibt es eine kleine Einschränkung: Mit dem einarmigen Studiendesign, bei dem keine echte Kontrollgruppe vorgesehen wurde, die nur Physiotherapie erhielt, kann man nicht genau beurteilen, wie groß die Effekte der ARC-Therapie ohne die vorbereitende Physiotherapie ausgefallen wären. Eigentlich war laut der Studienbeschreibung auf clinicaltrials.gov eine einmonatige Pause – eine sogenannte Wash-Out-Period – vorgesehen, die dann aber in der Studie nicht umgesetzt wurde. Ich gehe aber davon aus, dass die Effekte ohne eine vorbereitende Physiotherapie zwar etwas geringer, aber dennoch deutlich nachweisbar gewesen wären.“

Hürden der Therapie

„Eine wichtige Aussage fehlt mir in der Publikation: Es wurde nicht getestet, wie lange nach Beendigung der Therapie die Effekte anhalten. Es könnte nämlich sein, dass diese nach Beendigung der Therapie zumindest zum Teil wieder verloren gehen. Erst wenn die funktionellen und Kraftverbesserungen von Dauer sind, lässt sich dauerhaft die Lebensqualität der Menschen mit hoher Querschnittlähmung verbessern. Schade, dass bei einer so aufwendigen Studie die Studienteilnehmenden nicht ein bis zwei Monate nach Beendigung der ARC-Therapie nachuntersucht wurden.“

Einsatz im klinischen Alltag

„Ein großer Vorteil der ARC-Therapie gegenüber anderen deutlich aufwendigeren Therapieverfahren ist der einfache Einsatz im klinischen Alltag. Es ist ein nicht-invasives Verfahren, bei der keine OP oder ähnliches benötigt wird. Es müssen lediglich zwei kleine Elektroden im Nackenbereich und zwei größere Elektroden am Bauch oder an der Hüfte platziert und am Gerät die Stimulationsstärke eingestellt werden. Das dauert keine drei Minuten. Wenn man bedenkt, dass eine klassische Physiotherapieeinheit in Deutschland 30 Minuten beträgt, dann sind maximal drei Minuten Vorbereitungszeit mehr als akzeptabel, vor allem wenn man einen zusätzlichen Therapienutzen erreicht. Die Stimulation ist quasi ein Booster für die Physiotherapie, die Stimulation selbst wird nicht als schmerzhaft empfunden. Insofern eignet sich die ARC-Therapie hervorragend als Ergänzung zu bestehenden Therapiekonzepten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Winfried Mayr: „Ich habe keine Interessenkonflikte. Im Ruhestand bin ich diesbezüglich komplett entlastet und fühle mich nur den Interessen der Betroffenen beziehungsweise deren Zugang zu wirksamer Rehatechnik und fairen Informationen verpflichtet.”

Prof. Dr. Rüdiger Rupp: „Der Sponsor dieser Studie ist die Firma Onward, bei der ich früher im Advisory Board war und mit denen ich ein Forschungsprojekt zur invasiven Rückenmarkstimulation hatte. Aktuell bin ich im Data Safety Management Board in einer Studie zur Kreislaufstabilisierung mittels invasiver Stimulation beteiligt. An der vorgestellten Studie war ich in keiner Weise beteiligt.“

Primärquelle

Moritz C et al. (2024): Non-invasive spinal cord electrical stimulation for arm and hand function in chronic tetraplegia: a safety and efficacy trial. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-024-02940-9.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Onward (02.04.2024): Onward Medical Submits De Novo Application to FDA for its ARC-EX System.