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30.11.2022

Lecanemab bei Alzheimer im Frühstadium

     

  • Daten zu Antikörpertherapie gegen Alzheimer veröffentlicht
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  • Lecanemab zeigt moderate Besserung bei Alzheimer im Frühstadium
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  • Forscher sehen Patientennutzen vor allem bei längerer Nutzung
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Der monoklonale anti-Amyloid Antikörper Lecanemab zeigt in einer Phase-III-Studie eine statistisch signifikante Verlangsamung des klinischen Krankheitsverlaufs bei Alzheimer im Frühstadium. Die Daten wurden am 29.11.2022 auf dem CTAD-Kongress (clinical trial on alzheimer's disease) in San Francisco vorgestellt und zeitgleich im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht (siehe Primärquelle).

Die Studie umfasst 1795 an einer leichten Demenz erkrankten Personen, die über einen Zeitraum von 18 Monaten entweder mit Lecanemab oder einem Placebo behandelt wurden. Laut der Studie konnte Lecanemab im Vergleich zur Kontrollgruppe die Amyloid-Marker reduzieren und den Abbau der kognitiven Fähigkeiten um 27 Prozent verlangsamen. Das entspricht einer Differenz von 0,45 Skalapunkten auf dem Clinical Dementia Rating - Sum of Boxes-Score (CDR-SB-Score; Bereich 0 bis 18). Mit dem CDR-SB wird das Fortschreiten der kognitiven Beeinträchtigung in den frühen Stadien der Alzheimer-Krankheit verfolgt.

In Frage steht nun vor allem das für die Zulassung entscheidende klinische Nutzen-Risiko-Verhältnis von Lecanemab. Die Studie beschreibt das Auftreten von unerwünschten Nebenwirkungen von beispielsweise Hirnschwellungen. Erst vor einigen Tagen wurde zudem im Fachjournal „Science“ von einem Todesfall berichtet, der ursächlich auf die Therapie mit Lecanemab zurückgehen soll [I].

Das SMC hat Experten dazu befragt, wie die Studiendaten mit Blick auf die klinische Wirksamkeit, den Patientennutzen und die Nebenwirkungen, auch im Vergleich zu anderen Wirkstoffkandidaten, zu deuten sind.

Zusätzlich zu diesem Research in Context beantworteten zwei Experten aus dem Bereich der Alzheimerforschung Fragen zu Antikörpertherapien in einem einstündigen Press Briefing.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Stefan Teipel, Leiter der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), Rostock/Greifswald und Leiter der Sektion für Gerontopsychosomatik und demenzielle Erkrankungen an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Universitätsmedizin Rostock
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  • Prof. Dr. Jörg B. Schulz, Direktor der Klinik für Neurologie, Uniklinik RWTH Aachen
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  • Prof. Dr. Dr. h.c. Christian Haass, Leiter der Abteilung für neurodegenerative Erkrankungen an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), sowie Standortsprecher am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), München
    und Prof. Dr. Johannes Levin, Stellvertretender Leiter der klinischen Forschung, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), München, und Professor für klinische Neurodegeneration an der Neurologischen Klinik und Poliklinik, Ludwig-Maximilians-Universität München
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  • Prof. Dr. Walter J. Schulz-Schaeffer, Direktor des Instituts für Neuropathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes
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Statements

Prof. Dr. Stefan Teipel

Leiter der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), Rostock/Greifswald und Leiter der Sektion für Gerontopsychosomatik und demenzielle Erkrankungen an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Universitätsmedizin Rostock

„Die Studie ist in sich sehr stimmig und die Daten sind konsistent. Nach einem Zeitraum von 18 Monaten wurde ein Effekt auf das Amyloid, auf den primären Endpunkt, also die Punktzahl im Clinical Dementia Rating (CDR), sowie ein gleichsinniger Effekt auf vorbestimmte sekundäre Endpunkte beobachtet. Gleiches gilt für die Liquormarker. Insgesamt ist die Studie vollständig und nach hohen internationalen Standards durchgeführt.“

„Die Frage, die man diskutieren muss, ist, wie relevant der Effekt klinisch ist. In den 18 Monaten Untersuchungszeitraum wurden zwischen der Lecanemab- und der Placebogruppe 0,45 Punkte Unterschied auf der CDR-Skala beobachtet. Davon merkt der Patient wahrscheinlich kaum etwas. Allerdings muss man da auch einen längeren Zeitraum bedenken. Wenn der Effekt persistiert, würde die Differenz über die Zeit noch weiter auseinandergehen und relevanter werden.“

„Insgesamt ist es eine sehr ermutigende Studie. Es wurde zwar nur eine geringfügig geringere Verschlechterung der kognitiven und funktionellen Fähigkeiten gegenüber der Placebogruppe beobachtet – bei einem Score, der bei der untersuchten Gruppe bei Beginn der Studie nur bei drei von 18 Punkten lag, wäre mehr jedoch auch sehr viel verlangt. Zugleich ist der klinische Effekt gleichsinnig zu den Effekten auf die Biomarker“.

„Die häufigste Nebenwirkung, die in der Studie beschrieben wird, ist eine unmittelbare Reaktion auf die Infusion, eine Überreaktion gegen den Antikörper. Mehrheitlich wird diese jedoch als mild bis moderat beschrieben. Die wahrscheinlich wichtigere Nebenwirkung ist eine Signalveränderung, die man in der Bildgebung des Gehirns sieht, die sogenannte Amyloid-related Imaging Abnormalities, kurz AIRA. Bisher sind diese Ödeme (AIRA-E) oder Blutungen (AIRA-H) im Vergleich zu Studien mit anderen Substanzen allerdings eher am Unterrand einzuordnen, was ihre Häufigkeit betrifft. Das liegt im erwarteten Bereich. Die große Frage für die Zulassungsbehörden wird sein: Ist der Effekt so überzeugend, dass man diese unvermeidbaren Nebenwirkungen in Kauf nimmt?“

„In dieser Studie lag die Todesrate bei 0,7 Prozent. Die Todesfälle wurden allerdings als nicht mit der Substanz in Verbindung stehend eingeschätzt. Todesfolgen sind aufgrund einer Überreaktion, einer allergischen Reaktion gegen den Antikörper oder theoretisch auch aufgrund einer Blutung im Gehirn trotzdem immer denkbar. In dieser relativ großen Studie ist das jedoch nicht aufgetreten.“

„Ich halte es für sehr wichtig mit diesen Daten in den Austausch mit der Patientenseite zu treten. Neben der abstrakten Diskussion über Nebenwirkungen und Effekte, dürfen wir nicht vergessen zu ‚übersetzen‘, was beispielsweise diese 0,45 Punkte auf der CDR-Skala für den Patienten ganz konkret bedeuten. Die Betroffenen müssen nachvollziehen können, was sich durch diese Therapie in ihrem Leben verändert. Man muss auch bedenken: Die Substanz wird alle zwei Wochen intravenös verabreicht und initial wird alle drei Monate ein MRT-Scan gemacht. Das ist ein wahnsinniger Aufwand und eine große Belastung für die Patienten. Was gewinne ich in den 18 Monaten und was geht dadurch an Lebensqualität vielleicht auch verloren? Das muss man gegeneinander abwägen.“

„Die Studiengruppe besteht aus Menschen mit einer leichten kognitiven Störung oder einer leichtgradigen Demenz. Es geht also nicht um Personen, die vielleicht schon Schwierigkeiten haben, ihre Angehörigen zu erkennen oder ähnliches, sondern solche, die zwar Gedächtnisstörungen haben, im Alltag aber noch gut oder mit nur geringen Einschränkungen zurechtkommen. Oft haben sie bei komplexen Herausforderungen Probleme, etwa bei Finanzen oder der Planung von größeren Reisen. Sollte Lecanemab zugelassen werden, würde es bei dieser Gruppe eingesetzt werden.“

„Was die Zulassung von Lecanemab zur Behandlung von Alzheimer in Europa betrifft, lässt sich noch keine Aussage treffen – da spielt die Abwägung von Nutzen und Nebenwirkungen eine große Rolle. Es ist auffällig, dass die Autoren der Studie wörtlich schreiben, dass es noch längerdauernde Studien brauche, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Lecanemab zu beurteilen. Bei dieser Phase-III-Studie handelt es sich jedoch bereits um eine Wirksamkeits- und Sicherheitsstudie, die den Behörden zur Zulassung vorgelegt werden sollte. Wenn ich diesen Satz jedoch wörtlich nehme, würde das heißen: Mit dieser Studie können wir noch keine Zulassung beantragen.“

Auf die Frage inwiefern sich Lecanemab von den Antikörpern Aducanumab und Gantenerumab in Hinblick auf Wirkweise und klinische Wirksamkeit unterscheidet:
„Alle drei Antikörper zielen auf ähnliche Wirkmechanismen – das sieht man auch an den Nebenwirkungen. Die sind von der Art her praktisch identisch, sie alle verursachen Ödeme und Mikroblutungen mit unterschiedlicher Häufigkeit. Bei Aducanumab sind sie etwas häufiger, bei Lecanemab im Vergleich etwas seltener. Das hängt auch damit zusammen, dass die Dosierungen sich unterscheiden.“

„Von den drei Antikörpern zeigt die vorliegende Studie zu Lecanemab die klarste Evidenz für eine Wirksamkeit. Erst vor kurzem wurde in einer Pressemitteilung bekannt gegeben, dass sich bei Gantenerumab in zwei klinischen Studien keine Wirkung auf den klinischen Endpunkt gezeigt hat. Die Reduktion des Amyloids war deutlich weniger als erwartet. Bei Aducanumab wurde nur in einer von zwei Studien ein Effekt gesehen.“

Prof. Dr. Dr. h.c. Christian Haass

Leiter der Abteilung für neurodegenerative Erkrankungen an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), sowie Standortsprecher am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), München

Prof. Dr. Johannes Levin

Stellvertretender Leiter der klinischen Forschung, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), München, und Professor für klinische Neurodegeneration an der Neurologischen Klinik und Poliklinik, Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. Haass

„Auch wenn der Begriff momentan vielleicht zu häufig verwendet wird: Diese Ergebnisse markieren eine Zeitenwende. Die zentrale Bedeutung von Anti-Amyloid-Therapien für Patienten mit der Alzheimer-Krankheit ergibt sich weniger aus dem Datensatz zu Lecanemab selbst, sondern vielmehr aus der Stimmigkeit des Gesamtbildes mit den Daten zu Aducanumab und Donanemab. Alle diese Antikörpertherapien entfernen effektiv Amyloid-Ablagerungen aus dem Gehirn und scheinen, soweit dazu Daten erhoben wurden, auch einen günstigen Einfluss auf die Tau-Ablagerungen, eine weitere wichtige Komponente der Alzheimer Pathologie zu haben. Einhergehend mit einer wirksamen Reduktion der Amyloid-Ablagerungen ist ein klinischer Effekt, der bei einer Verlangsamung der Krankheitsprogression zwischen 25 bis 30 Prozent zu liegen scheint. Damit wurde basierend auf jahrzehntelanger hochklassiger Grundlagenforschung zum Krankheitsmechanismus im Sinne der Amyloid-Hypothese nun erstmals eine Therapie entwickelt. Die Situation bei Lecanemab ist insofern besonders, da zu diesem Antikörper mit der schon länger abgeschlossenen Phase-II-Studie und der nun neu verfügbaren Phase-III-Studie nun erstmals ein Datensatz vorliegt, der prinzipiell Hoffnungen auf eine Zulassung als Medikament weckt.“

„Der Unterschied zwischen Lecanemab und Gantenerumab scheint in der Sicherheit und der Effektivität zu liegen. Schon bei Dosen, die nicht zu einer ausreichenden Reduktion der Amyloid-Last führten, kam es bei Gantenerumab zu Nebenwirkungen. Der Vergleich zu Aducanumab ist schwieriger. Die Gabe von Aducanumab hat zu einer Reduktion des Amyloids geführt aber eben nicht zu einer erkennbaren Verlangsamung des kognitiven Abbaus. Klar ist, dass Lecanemab bei Patienten mit erheblichen Begleiterkrankungen erprobt wurde, was den Sicherheitsdatensatz aussagekräftig macht.“

Prof. Levin

Auf die Frage wie die Daten mit Blick auf Patientennutzen und Nebenwirkungen zu deuten sind:
„Der Patientennutzen ist gegeben. Allerdings muss man ihn auch realistisch einschätzen. 30 Prozent Progressionsverlangsamung bedeutet eben nicht, dass die Krankheit gestoppt oder geheilt wird. Trotzdem finde ich diese erste Therapieoption sehr wichtig. In der Studie wurden Patienten über 18 Monate behandelt. Es ist vorstellbar, dass die Effekte bei längerer Behandlungsdauer besser sein können. Ich denke neben dem individuellen Patientennutzen auch an einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Die prinzipielle Behandelbarkeit der Alzheimer-Krankheit wird helfen das soziale Stigma von Demenz abzubauen. Zu den Nebenwirkungen ist zu sagen, dass die klinischen Folgen der nicht selten auftretenden Hirnschwellungen in der Regel mild sind und auch wieder abklingen. Selten kommt es auch zu klinisch dramatischen Verschlechterungen. Allerdings ist aufgrund der möglichen schweren Nebenwirkungen auch klar, dass das Medikament nur durch Experten und in einer entsprechend kontrollierten Umgebung eingesetzt werden sollte.“

„Voraussetzung für eine Wirksamkeit von Lecanemab ist der Nachweis von Amyloid-Plaques, gegen die sich die Antikörper richten. In der Studie wurden Patienten mit diesen Veränderungen und einer leichten kognitiven Störung, also in dem Kontext der Amyloid-Plaques der Vorstufe der Alzheimer-Demenz und Patienten mit geringgradigen Symptomen bei manifester Alzheimer-Demenz eingeschlossen und erfolgreich behandelt. Dies ist also das primäre Kollektiv, bei dem eine Wirkung zu erwarten ist. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Patienten in noch früheren Stadien der Alzheimer-Demenz, also wenn nur Amyloid Plaques vorliegen, die aber noch nicht zu Symptomen geführt haben, ebenso profitieren, möglicherweise noch besser als bereits leichtgradig Betroffene. Hier denke ich vor allem an Menschen mit einem Down-Syndrom, aufgrund eines auf Chromosom 21 lokalisierten Gens, das zu vermehrter Amyloid-Produktion führt. Bei fast allen Menschen mit einem Down-Syndrom kommt es daher vorhersehbar zu einer Alzheimer Demenz. Gleichzeitig ergibt sich aber aufgrund dieser sehr großen Risikokonstellation die Möglichkeit sehr früh zu behandeln. Bei sehr früher Behandlung könnte ich mir eine deutlich bessere Wirksamkeit durchaus vorstellen.“

Prof. Dr. Jörg B. Schulz

Direktor der Klinik für Neurologie, Uniklinik RWTH Aachen

„Heute Nacht wurden Daten einer Phase-III-Studie zu dem β-Amyloid Antikörper Lecanemab während einer Konferenz zu Studien bei Alzheimer-Krankheit, der Clinical Trials on Alzheimer's Disease conference in San Francisco, vorgestellt und zeitgleich im ‚New England Journal of Medicine‘ publiziert. In den USA ist bereits ein weiterer Antikörper, Aducanumab, von der FDA zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit zugelassen, die europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat jedoch aufgrund nicht eindeutiger Studienlage (beide Zulassungsstudien wurden formal abgebrochen) und wegen aus ihrer Sicht nicht ausreichender Nutzen-Risiko-Abwägung eine Zulassung für Europa abgelehnt.“

„Die jetzt vorgestellt Studie mit Lecanemab umfasst 1795 Patienten mit Alzheimer-Krankheit im Stadium einer milden kognitiven Beeinträchtigung (MCI) oder milden Demenz. Die Patienten wurden randomisiert entweder mit Lecanemab oder Placebo über 18 Monate behandelt. Dabei wurde Lecanemab alle 14 Tage in einer Dosis von zehn Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht intravenös verabreicht. Der primäre Endpunkt war die Veränderung eines Kognitionsparameters, des Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes (CDR-SB), von Studieneinschluss bis zum 18 Monatszeitpunkt. Sekundäre Endpunkte waren die Abnahme der Amyloid-Last im PET (Positronen-Emissions-Tomografie; Anm. d. Red.), die Veränderung der Bewertung mit zwei weiteren Kognitionsskalen (ADAS-cog14, ADCOMS) und die Veränderung einer Skala zur Bewertung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADCS-ADL).“

„Die Effekte der Behandlung mit Lecanemab waren in allen untersuchten primären und sekundären Endpunkten signifikant positiv. Gemessen mit der CDR-SB wurde die Erkrankungsprogression um 27 Prozent verlangsamt, bei den Aktivitäten des täglichen Lebens machte der Unterschied 37 Prozent aus. Die Unterschiede zwischen den mit Lecanemab und Placebo behandelten Patienten waren bereits nach sechs Monaten signifikant und nahmen mit weiter Behandlungsdauer zu. Die PET-Amyloid-Last wurde sehr deutlich und signifikant reduziert.“

„Wie bei der Therapie mit anderen gegen Amyloid gerichteten Antikörpern, traten unter Behandlung mit Lecanemab auch unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) auf. Von besonderer Bedeutung sind Ödeme und Mikrohämorrhagien (Amyloid-related imaging abnormality, ARIA), die meistens klinisch stumm bleiben und deswegen nur durch Bildgebung mittels Magnetresonanztomographie (MRT) detektiert werden können. Die Inzidenz von Ödemen, sogenannte ARIA-E, in der Bildgebung betrug 12,5 Prozent in der Lecanemab-Gruppe und 1,7 Prozent in der Placebo-Gruppe. Die Inzidenz der mit Symptomen assoziierten ARIA-E lag bei 2,8 Prozent in der Lecanemab-Gruppe und bei 0 Prozent in der Placebogruppe. Die ARIA-H-Rate (ARIA-H: Zerebrale Mikroblutungen und oberflächliche Siderose (Eisenspeicherkrankheit, Anm. d. Red.)) betrug 17,0 Prozent in der Lecanemab-Gruppe und 8,7 Prozent in der Placebogruppe. Die Inzidenz der symptomatischen ARIA-H lag bei 0,7 Prozent in der Lecanemab-Gruppe und bei 0,2 Prozent in der Placebogruppe. Bei der isolierten ARIA-H (das heißt ARIA-H bei Patienten, bei denen nicht auch ARIA-E auftrat) gab es kein Ungleichgewicht zwischen Lecanemab (8,8 Prozent) und Placebo (7,6 Prozent). Die Gesamtinzidenz von ARIA (ARIA-E und/oder ARIA-H) betrug 21,3 Prozent in der Lecanemab-Gruppe und 9,3 Prozent in der Placebo-Gruppe. Insgesamt ist die Inzidenz von ARIA bei Lecanemab im Vergleich zu anderen Antikörpern niedrig. Das im Vergleich niedrige Risiko wirkt sich günstig auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Lecanemab aus.“

„Die Daten sind über alle Endpunkte und Untersuchungsergebnisse konsistent und überzeugend.“

„Was ist der Vorteil von Lecanemab gegenüber den anderen Antikörpern, deren Studienergebnisse nicht in gleicher Weise überzeugend waren und zum Teil auch zu höheren Nebenwirkungsraten führten? Lecanemab ist besonders gegen kleine und mittelgroße (50 bis 200 Kilo-Dalton) lösliche Protofibrillen gerichtet, während die anderen Antikörper, einschließlich Aducanumab und Gantenerumab, eher aggregiertes Amyloid abbauen. Tatsächlich gelten die Protofibrillen als die toxische Form des Amyloids.“

„Im nächsten Schritt wird jetzt die Zulassung einer Lecanemab-Therapie bei der FDA und der EMA beantragt. Die Daten sind so überzeugend und konsistent und die berichteten Nebenwirkungen vergleichsweise gering, dass es (hoffentlich) keinen Zweifel an einer positiven Entscheidung geben kann. Ich halte den Patientennutzen für hoch bei guter Nutzen-Risiko-Abwägung, zumal die Daten zeigen, dass sich dieser bei langer Anwendung möglicherweise noch weiter verstärkt. Studien dazu sind initiiert. Die Therapie ist nur geeignet für Patienten mit einer Alzheimer-Krankheit im Stadium einer milden kognitiven Beeinträchtigung oder einer leichten Demenz, nicht jedoch für Patienten im fortgeschrittenen Stadium einer Alzheimer-Krankheit. Zur Diagnose muss der Nachweis einer positiven Amyloid-Pathologie mit Liquorpunktion oder Amyloid-PET durchgeführt werden. Die Patienten müssen in der Lage sein, zur Erfassung potenzieller Nebenwirkungen eine MRT-Untersuchung durchzuführen und Kontraindikationen für diese (zum Beispiel Herzschrittmacher) müssen ausgeschlossen sein.“

Prof. Dr. Walter J. Schulz-Schaeffer

Direktor des Instituts für Neuropathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes

„Im Volksmund wird die Vorstellung geäußert, dass es bei dementen Patienten im Gehirn ‚rieseln‘ würde. Tatsächlich sind bei Untersuchungen des Gehirngewebes dieser Personen mit einem Mikroskop Ablagerungen zu finden, so genannte Amyloid-Plaques. Daher liegt die Überlegung nahe, diese Ablagerungen mit modernen Medikamenten zu bekämpfen und auf diese Weise die Demenzerkrankung zu mildern.“

„Der aktuell gewählte Ansatz besteht darin, einen Abwehrvorgang hervorzurufen, den der Körper selber vornehmen kann. Der Körper kann etwas Fremdes erkennen, dagegen Antikörper bilden und die Antikörper vermitteln dann die körpereigene Abwehrreaktion.“

„Die Ablagerungen, die bei Alzheimer-Patienten im Gehirngewebe zu finden sind, bestehen aus einem Abbauprodukt eines körpereigenen Eiweißes. Weil der Körper eines Alzheimer-Kranken diese Ablagerungen nicht als fremd erkennt, bildet er keine Antikörper gegen sie. Daher werden als Medikamente Antikörper entwickelt, die den körpereigenen Abwehrprozess anstoßen sollen.“

„Nachdem frühere Studien zur Medikamentenentwicklung keinen messbaren Erfolg gezeigt haben, scheint der Antikörper Lecanemab bei frühen Formen der Alzheimer-Krankheit den Krankheitsprozess zu verlangsamen, wie eine aktuelle Untersuchung von 1795 Patienten zeigt, von denen 898 mit dem Antikörper behandelt wurden und 897 Patienten ein Placebo erhielten. Dies ist ein wichtiger, lange erhoffter Fortschritt.“

„Die Erklärung, warum der aktuelle Antikörper wirksamer zu sein scheint als vorher getestete andere Antikörper, könnte sein, dass der Antikörper Lecanemab gegen eine Frühform der Ablagerungen gerichtet ist, und nicht in erster Linie gegen die Ablagerungen selbst. Es ist recht wahrscheinlich, dass Frühformen der Alzheimer-Plaques den Schädigungsprozess an den Nervenzellen und damit die Alzheimer-Krankheit auslösen, während die Plaques Ausdruck des erfolgreichen Entsorgungsprozesses der schädigenden Frühformen sind und deshalb besser ‚in Ruhe‘ gelassen werden sollten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Stefan Teipel: „Ich war Mitglied von Advisory Boards für die Firmen Roche, Biogen, Eisai und Grifols und bin Mitglied des Independent Data Safety Monitoring Boards der Studie ENVISION (Biogen).“ 

Prof. Dr. Johannes Levin: „Johannes Levin berichtet über Referentenhonorare von Bayer Vital, Biogen und Roche, Beratungshonorare von Axon Neuroscience und Biogen, Autorenhonorare von Thieme Medical Publishers und W. Kohlhammer GmbH Medical Publishers. Darüber hinaus meldet er Vergütungen für seine Tätigkeit als Chief Medical Officer für die MODAG GmbH und ist Erfinder in einem von der MODAG GmbH angemeldeten Patent "Pharmaceutical Composition and Methods of Use" (EP 22 159 408.8).“

Prof. Dr. Jörg B. Schulz: „Ich erhalte Forschungsunterstützung (Aufbau eines deutschlandweiten Demenzregisters) von Biogen und Eisai sowie Vortragshonorare von Biogen, Eisai und Roche.“

Prof. Dr. Dr. h.c. Christian Haass: „Kollaboration mit Denali Therapeutics.“

Prof. Dr. Walter J. Schulz-Schaeffer: "Ich bin an keiner klinischen Studie zum Alzheimer beteiligt und habe daher keinen Interessenkonflikt“.

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

van Dyck CH et al. (2022): Lecanemab in Early Alzheimer’s Disease. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2212948.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Piller C (2022): Second death linked to potential antibody treatment for Alzheimer’s disease. Science. DOI: 10.1126/science.adf9701.