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22.11.2023

Erhöhtes Reinfektionsrisiko nach Long COVID

     

  • eine Studie legt nahe, dass Long-COVID-Betroffene sich leichter erneut mit dem Virus anstecken und häufiger wieder Long-COVID-Symptome entwickeln
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  • Autorinnen und Autoren der Studie plädieren für Booster-Impfungen für Long-COVID-Betroffene
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  • die Daten sind laut Experten bei genauer Betrachtung zu schwach, die Hypothese sollte aber weiter getestet werden
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Personen, die nach einer Coronainfektion eine Long-COVID-Symptomatik zeigen, haben ein erhöhtes Risiko, sich erneut mit SARS-CoV-2 zu infizieren und anschließend auch wieder Long-COVID-Symptome zu entwickeln. Zu diesem Ergebnis kommen Forschende aus China, nachdem sie ausgewertet haben, wie viele Personen sich mit und ohne Long COVID 2022 erneut infiziert hatten – zu dieser Zeit mit der Corona-Variante Omikron. Alle untersuchten Personen waren 2020 erstmals an der Wuhan-Variante erkrankt, aber nur ein Teil von ihnen zeigte nach drei Jahren eine Long-COVID-Symptomatik. Laut den Autorinnen und Autoren der Studie, die im Fachjournal „The Lancet Respiratory Medicine“ erschienen ist (siehe Primärquelle), sollten Long-COVID-Patienten auf Basis der Ergebnisse mit Booster-Impfungen besonders geschützt werden.

Konkret untersuchten die Forschenden in dieser Längsschnittstudie COVID-19-Überlebende aus dem Frühjahr 2020 zwei und drei Jahre nach der Entlassung aus einem Krankenhaus in Wuhan. Am Ende der Drei-Jahres-Untersuchung ging eine Omikron-Welle durch das Land, bei der sich viele Personen zum zweiten Mal infizierten. Die Forschenden erfassten, ob sich COVID-19-Überlebende mit und ohne Long COVID unterschiedlich häufig mit der Omikron-Variante ansteckten. Sie stellten fest, dass die Reinfektionsrate bei Long-COVID-Erkrankten bei 76 Prozent lag, bei Personen ohne Long COVID bei 67 Prozent. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, dass eine Infektion mit Omikron durch verschiedene Methoden ermittelt wurde: entweder durch ein positives SARS-CoV-2-Testergebnis mit einem Antigen- oder PCR-Test oder durch das Feststellen von Infektionssymptomen nach Kontakt mit einer infizierten Person. Die Reinfektionsraten unterschieden sich mit 39 und 40 Prozent kaum noch voneinander, wenn die Omikron-Infektion eindeutig mit einem molekularen Test nachgewiesen wurde.

Eindeutiger sind hingegen die Daten zu länger anhaltenden Erkrankungssymptomen drei Monate nach der Omikron-Infektion, auch wenn diese nicht objektiv, sondern durch Selbstauskunft erfasst wurden: Personen, die nach der ersten Infektion bereits Long-COVID-Symptome zeigten, litten nach der zweiten Ansteckung häufiger an anhaltenden Symptomen (62 Prozent) als Personen, die zuvor kein Long COVID hatten (41 Prozent).

Nachfolgend erläutern Experten, inwiefern die in China erfassten Daten und Erkenntnisse auf andere Länder übertragbar sind, inwiefern die erhöhte Reinfektionsrate bei Long-COVID-Erkrankten erklärbar ist und ob die Betroffenen als Risikogruppe stärker erfasst werden und ihnen regelmäßige Booster-Impfungen empfohlen werden sollten.

Übersicht

  • Prof. Dr. Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie, Universitätsspital Zürich, Schweiz
  • Prof. Dr. Julian Schulze zur Wiesch, Leitender Oberarzt der Sektion Infektiologie und Leiter des Ambulanzzentrums Virushepatologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

Statements

Prof. Dr. Onur Boyman

Direktor der Klinik für Immunologie, Universitätsspital Zürich, Schweiz

„Dieser Artikel versuchte in einer großen Anzahl von erwachsenen Patienten, die infolge einer SARS-CoV-2-Infektion mit der Wuhan-Variante zwischen Januar 2020 und Ende Mai 2020 in Wuhan, China, hospitalisiert und danach wieder aus dem Spital entlassen wurden, den Einfluss der im Winter 2022 vorgefundenen SARS-CoV-2 Omikron-Variante zu untersuchen. Dabei wurde unter anderem auch analysiert, ob die Patienten vor der Infektion mit der Omikron-Variante Long-COVID-Beschwerden hatten oder nicht.“

Definition von Long COVID

„Die Long-COVID-Definition, die in diesem Artikel verwendet wird, ist nicht sehr präzise, da unklar ist, wie weit die letzte (Re-) Infektion mit SARS-CoV-2 zurückliegt. Die Unterscheidung in Long COVID versus Non-Long COVID wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund des Vorherrschens klinischer Beschwerden getroffen, die mit Long COVID kompatibel waren, ohne jedoch zu wissen, ob und wann die Patienten erneuten Kontakt mit dem SARS-CoV-2-Virus hatten.“

Aussagekraft der Studie

„Die Behauptung, dass Long-COVID-Betroffene sich häufiger reinfizierten als die Non-Long-COVID-Gruppe, fußt auf den Daten, die in der Tabelle 2 präsentiert werden. Diese Daten sind bei genauerer Betrachtung nicht unproblematisch. Erstens fällt die Diskrepanz zwischen den Prozentzahlen der klinisch versus durch einen spezifischen Antigen- oder RT-PCR-Test festgestellten Omikron-Infektionsfälle auf. Für Long-COVID-Betroffene wurde mittels klinischen Verdachts- und Patientengeschichte (sogenannter Anamnese) in 76 Prozent der Fälle eine Omikron-Infektion vermutet, aber nur in 39 Prozent aller Long-COVID-Betroffenen ein positiver spezifischer Antigen- oder RT-PCR-Test gefunden. Dahingegen wiesen Non-Long-COVID-Betroffene in 40 Prozent einen positiven spezifischen Antigen- oder RT-PCR-Test auf, aber klinisch wurde nur in 67 Prozent aller Non-Long-COVID-Betroffenen eine Omikron-Infektion vermutet. Offensichtlich erlaubt ein spezifischer Antigen- oder RT-PCR-Test eine objektivere –und somit ,fairere‘ – Diagnose als die klinische Beurteilung bei einer Person, die entweder bereits eine COVID-19-bezogene Diagnose wie Long COVID hat, was den beurteilenden Arzt beeinflussen kann, oder nicht. Außerdem fällt auf, dass die Kontrollgruppe der ,Community controls‘ eine höhere klinische Omikron-Infektionsrate von 83 Prozent als die Long-COVID-Betroffenen (76 Prozent) aufweist, was die Behauptung der höheren Anfälligkeit für Re-Infektionen mit SARS-CoV-2 von Long COVID-Betroffenen wiederum in Frage stellt.“

Auf die Frage, inwiefern es plausibel ist, dass Long COVID-Betroffene anfälliger für Folgeinfektionen sind und was der Grund dafür sein könnte:
„Erstens stellt sich die Frage, ob die Evidenz, dass Long COVID-Betroffene anfälliger für Re-Infektionen mit SARS-CoV-2 sind, in diesem Artikel ausreichend ist. Meiner Meinung nach ist die Evidenz ungenügend, um zu diesem Schluss zu kommen.“

Empfehlung der Booster-Impfung

„Zusätzlich zu obengenannten Punkten ist zu erwähnen, dass die Autoren dieser Studie Personen studiert haben, die 2020 infolge einer SARS-CoV-2-Infektion hospitalisiert wurden. Da bekannt ist, dass eine schwere –und somit eher hospitalisationspflichtige – SARS-CoV-2-Infektion mit einem erhöhten Risiko für Long COVID einhergeht und dass eine Immunschwäche (inklusive eine diskrete Immunschwäche) ein erhöhtes Risiko für eine schwere SARS-CoV-2-Infektion birgt, können diese Resultate nicht auf die allgemeine Bevölkerung angewandt werden, deren Großteil nie wegen einer SARS-CoV-2-Infektion hospitalisiert werden musste. Bei Long-COVID-Betroffenen sollte in jedem Fall fachkundig und kritisch beurteilt werden, inwiefern eine Immunschwäche eine Rolle spielen und ob eine Boosterimpfung nützlich sein könnte.“

Prof. Dr. Julian Schulze zur Wiesch

Leitender Oberarzt der Sektion Infektiologie und Leiter des Ambulanzzentrums Virushepatologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

„Diese Studie ist ein weiterer, kleiner Mosaikstein um das Wissen zu den Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion, dem Long-COVID-Syndrom, oder einer COVID-19-Omikron-Reinfektion besser abschätzen zu können. Diese Studie schaut sich aber nur eine ganz bestimmte Patientenpopulation an – hier muss man vorsichtig sein, nicht zu sehr zu verallgemeinern. Der positive Einfluss der Impfungen auf den Verlauf von Reinfektionen und unser Wissen zur richtigen Anwendung von antiviralen Medikamenten müssen bei den Themen Reinfektion, Long COVID und Immunschutz bedacht werden. Sie haben in der Praxis eine größere Bedeutung.“

Auf die Frage, ob die Definitionen für Long COVID mit der international verwendeten Long-COVID-Beschreibung vergleichbar ist:
„Zumindest sind die Definitionen so klar, dass man eben aus dieser Studie weitere hilfreiche Informationen extrahieren kann.“

Auf die Frage, ob die erhobenen Daten die Aussage erlauben, dass sich Long-Covid-Betroffene häufiger reinfizieren:
„Nur eingeschränkt. Die Autoren haben dieses Resultat – für welches es verschiedene Erklärungen geben mag – aus meiner Sicht schon etwas zu pointiert interpretiert. Aber zumindest die Hypothese sollten wir weiter testen. Im Alltag würde ich aber warnen, dass Patienten mit Long-COVID-Symptomen nach dem Lesen dieser Studie nunmehr zusätzliche Befürchtungen hegen. Ich denke, der allgemeine doch benigne Langzeit-Verlauf einiger der somatischen Folgeerscheinungen einer frühen COVID-19-Infektion mit dem Wild-Typ bei damals ungeimpften Patienten, wie zum Beispiel der Lungenfunktion, sollten aus meiner Sicht mehr betont werden.“

Auf die Frage, inwiefern es plausibel ist, dass Long-COVID-Betroffene anfälliger für Folgeinfektionen sind und was der Grund dafür sein könnte:
„Hier können wir nur spekulieren – so haben einige Patienten mit Long COVID sich zum Beispiel besonders früh infiziert und hatten zum Zeitpunkt der Omikron-Variante schon wieder niedrigere Titer. Auch das Impfverhalten und viele andere (unbekannte) Variablen mögen einen Einfluss haben. Aber die Hypothese, dass eine – aus welchem Grund auch immer – nicht optimale Immunantwort mit zu Long COVID führt und im Effekt sich auch in einer Prädisposition für eine Reinfektion ausdrückt, sollte weiter in experimentellen immunologischen Beobachtungsstudien getestet werden.“

Empfehlung der Booster-Impfung

Die Hypothese der Autoren erscheint zumindest plausibel, basierend auf den Ergebnissen einiger andere experimenteller Studien zu dem Thema. Allerdings liefert diese aktuelle Studie keine oder nur wenige immunologische Daten, um diese Hypothese zu unterlegen. Aktuell empfehlen wir eine Booster-Impfung anhand der aktuellen Stiko-Empfehlungen und auf besonderem Wunsch – und besonders in diesem Fall dann nur bei einem Zurückliegen eines Antigenkontaktes durch Impfung oder Infektion von mindestens sechs Monaten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Onur Boyman: „Ich habe keine Interessenkonflikte betreffend diesem Thema.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Zhang H et al. (2023): 3-year outcomes of discharged survivors of COVID-19 following the SARS-CoV-2 omicron (B.1.1.529) wave in 2022 in China: a longitudinal cohort study. The Lancet Respiratory Medicine. DOI: 10.1016/ S2213-2600(23)00387-9.