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06.12.2023

Welchen Einfluss hat mehr Kernkraft in Europa für die Energiewende?

     

  • 22 Länder wollen bis 2050 Kernkraftwerksleistung verdreifachen
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  • viele dieser Länder sind in der EU und Nachbarn Deutschlands
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  • Forscher beurteilen das unterschiedlich: Verdreifachung unwahrscheinlich, Finanzierung unklar, möglicherweise mit Blick auf strategische Ressourcen interessant
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Ob Kernkraftwerke für Klimaschutz und Energiewende hilfreich oder sogar notwendig sind, darüber wird seit Jahren intensiv diskutiert. Am Rande der Klimakonferenz COP28 haben nun 22 Nationen eine Deklaration unterzeichnet, in der sie ihre Absicht bekunden, die 2020 installierte Leistung von Atomkraftwerken bis 2050 auf das Dreifache zu steigern. Mehr als die Hälfte dieser Nationen (14) liegen in Europa, zum Teil in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Deutschland [I].

Tatsächlich gebaut werden in Europa derzeit nur wenige Kernkraftwerke [II]. Vonseiten der Wissenschaft sind die Positionen uneinheitlich [III] [IV] [V], die Entscheidung für oder gegen Kernkraft ist ein politisches Thema. In Deutschland stehen derzeit weder Neubau noch Wiederinbetriebnahme auf der Agenda.Wir haben Fachleute daher ausdrücklich nicht gefragt, ob Kernenergie in Deutschland wieder eine Rolle spielen soll. Allerdings sind die meisten der 14 europäischen Unterzeichnerländer Mitglied in der EU und mit Deutschland über ein gemeinsames Stromnetz verbunden. Wir haben deshalb Wissenschaftler aus Energieökonomie und Netzbetrieb gefragt, wie Kernkraft und erneuerbare Energien bei der Stromversorgung zusammenspielen können, wie sich die Kosten für die Energiewende in Europa dadurch entwickeln werden und wie realistisch ein massiver und schneller Ausbau der Kernenergiekapazität in Europa ist.

Übersicht

  • Prof. Dr. Christian Rehtanz, Institutsleiter, Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3), Technische Universität Dortmund
  • Dr. Walter Tromm, Wissenschaftlicher Sprecher des KIT-Zentrums Energie, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Eggenstein-Leopoldshafen
  • Prof. Dr. Martin Weibelzahl, Professor für Digitale Energiemärkte an der Universität Luxemburg sowie Institutsteil Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik,(FIT)
  • Prof. Dr. Andreas Löschel, Professor am Lehrstuhl für Umwelt-/Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit, Ruhr-Universität Bochum

Statements

Prof. Dr. Christian Rehtanz

Institutsleiter, Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3), Technische Universität Dortmund

Auf die Frage, ob bis 2050 eine Verdreifachung der Kernenergieleistung von 2020 erreicht werden kann:
„Wenn man die Bauzeiten der letzten AKW-Vorhaben in Europa betrachtet, dann ist eine Verdreifachung sehr ambitioniert.“

Mögliche Rolle von Kernenergie in künftigen Energiesystemen
„Kernenergie hat den großen Vorteil, dass sie grundlastfähig ist, das heißt, dass der Grundbedarf an elektrischer Energie ohne den Ausstoß von CO2 gedeckt werden kann. Die Auswirkungen von etwaigen Gefahren und die Endlagerung sind mit den massiven Risiken des Klimawandels abzuwägen, was viele Länder offenkundig anders entschieden haben als Deutschland.“

„Mittlerweile sind erneuerbare Energien bei entsprechenden Standorten sehr wettbewerbsfähig. Nimmt man als Referenz die Kosten geplanter AKW in Europa, dann sind diese deutlich teurer, auch wenn man Speichertechnologien oder die Verwendung von Gas plus Abscheidung von CO2 – CCS – oder Wasserstoff als Zwischenpuffer hinzunimmt. Günstigere in Serie gefertigte Reaktoren sind zur Kostenreduktion versprochen worden, jedoch ist der Nachweis hierzu noch nicht erbracht.“

Technisches Zusammenspiel von Kern- und erneuerbare Energien
„Wenn man sich ein auf erneuerbaren Energien basiertes Energiesystem vorstellt, welches mit Wasserstoff und Gaskraftwerken gepuffert werden soll, dann würden Elektrolyseure nur wirtschaftlich sein, wenn sie viele Einsatzstunden – circa 4.000 bis 6.000 Stunden im Jahr – aufweisen. Das heißt, die Elektrolyse zur Produktion von Wasserstoff kann nicht nur Spitzen aus den erneuerbaren Energien verwenden, sie braucht mehr Strom. Im Zusammenspiel mit AKW könnte die Erzeugung von Wasserstoff aus erneuerbaren Energien und zusätzlich Kernenergie gemeinsam einfacher in einem Gesamtsystem optimiert werden: Der Strom der AKW geht nur ins Netz, wenn erneuerbare Energien nicht genug für den Bedarf erzeugen, sonst in die Elektrolyse. AKW würden die Abhängigkeit von einem noch zu entwickelnden globalen Wasserstoffmarkt verringern. Die Option einer zusätzlichen Energiegewinnung durch AKW wird von vielen Ländern strategisch als Absicherung einer sicheren Versorgung gesehen, die gleichzeitig CO2 reduziert oder neutral ist.“

Dr. Walter Tromm

Wissenschaftlicher Sprecher des KIT-Zentrums Energie, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Eggenstein-Leopoldshafen

Auf die Frage, ob bis 2050 eine Verdreifachung der Kernenergieleistung von 2020 erreicht werden kann:
„Eine Verdreifachung ist sicherlich nicht sehr realistisch, es geht den unterzeichnenden Nationen meines Erachtens aber auch eher darum, die Kernenergie neben den erneuerbaren Energien als CO2-arme Stromproduktion auf der COP28 zu positionieren. Das IEA-Szenario, das ich kenne [1], sieht nur einen signifikanten Beitrag, nicht aber eine Verdreifachung der Kernenergie für die Stromproduktion vor und selbst die World Nuclear Association WNA sieht als Ziel, 25 Prozent der weltweiten Stromproduktion bis 2050 mit Kernkraft zu decken, von zurzeit circa zehn Prozent. Dazu müssten etwa 30 Gigawatt Leistung pro Jahr gebaut werden, also zum Beispiel 30 Reaktoren vom Typ AP 1000 von Westinghouse oder circa 20 EPR – European Pressurised Reactor – von EdF oder APR 1400 aus Südkorea. Das klingt viel, wurde aber in den 80er-Jahren schon mal so gemacht, also durchaus realistisch.“

„Wenn das so käme, wären 25 Prozent der Stromproduktion durchaus eine relevante Rolle neben den Erneuerbaren.“

Mögliche Kosten von Kernenergie
„Die IEA sieht Kernenergie als eine der kostengünstigsten Formen der Stromproduktion an, nach Stromgestehungskosten [2], aber insbesondere die Lebensdauerverlängerung der bestehenden Anlagen ist sehr kosteneffizient, weil die Anlagen abgeschrieben sind und damit nur noch die Produktionskosten anfallen.“

Prof. Dr. Martin Weibelzahl

Professor für Digitale Energiemärkte an der Universität Luxemburg sowie Institutsteil Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik,(FIT)

Auf die Frage, ob bis 2050 eine Verdreifachung der Kernenergieleistung von 2020 erreicht werden kann:
„Eine Verdreifachung der Kernenergie bis 2050 würde mit Blick auf die Klimaschutz- und Energiepolitik eine Rolle rückwärts bedeuten, die weder aus technischer noch ökonomischer oder ökologischer Sicht zu rechtfertigen ist. Ökonomisch ist die Kernenergie unter Berücksichtigung der enormen Kosten, die mit einer Endlagerung umweltschädlicher radioaktiv belasteter Abfälle verbunden sind, und im Vergleich zu alternativen Technologien zur Stromerzeugung ohne eine signifikante Investitionsförderungen kaum wettbewerbsfähig. Dies führt in direkter Konsequenz zu einer mittel- bis langfristigen erheblichen finanziellen Belastung für heutige und zukünftige Generationen.“

„Daneben stellen sich in einigen Ländern mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz bereits heute erhebliche Fragen, die einem massiven Ausbau der Kernenergie entgegenstehen. Insofern erscheinen Energie- und Klimaszenarien, die eine Verdreifachung der Kernenergieleistung bis 2050 unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen in Europa nur bedingt realistisch.“

Mögliche Rolle von Kernenergie in künftigen Energiesystemen
„Die Zukunft unserer Energiesysteme ist wie ein komplexes Puzzle. Die Frage ist, ob Kernenergie das fehlende oder das auszusortierende Puzzlestück ist.“

„Spätestens seit den Reaktorkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie der russischen Besetzung des ukrainischen Kernkraftwerkes Saporischschja wurde deutlich, dass das Bild der Kernenergie als umweltverträgliche, kostengünstige und (versorgungs-)sichere Stromerzeugungstechnologie eine Illusion ist. Im Gegenteil wurde durch diese Ereignisse deutlich, welche enormen Risiken sowohl durch den Betrieb als auch durch gezielte Fremdeinwirkungen auf Kernkraftwerke in Kriegs- und Friedenszeiten entstehen können.“

„Zwar kann Kernenergie einen Beitrag zur Verringerung klimaschädlicher Treibhausgasemissionen leisten, aber gleichzeitig entstehen durch die ungeklärte und extrem langfristige Problematik einer sicheren Endlagerung radioaktiv belasteter Abfälle vielfältige ungelöste Probleme. Diese gehen mit enormen Gefahren für Umwelt und Gesellschaft einher und sind unter Berücksichtigung bekannter und bestehender Alternativen, wie dem Ausbau erneuerbarer Energien, nicht zu rechtfertigen.“

„Vor diesem Hintergrund wäre zwar denkbar, dass die Kernenergie einen Beitrag zur Grundlastversorgung während einer Transformation des Stromsystems hin zu einer flächendeckenden Integration erneuerbarer Energien leistet. Demgegenüber stehen allerdings hohe Kosten und Gefahren für Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft. Statt einer Lösung für die Grundlast, würde die Kernkraft daher zur einer Art Ewigkeitslast für Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft werden.“

Mögliche Kosten von Kernenergie
„Ein signifikanter Ausbau der Kernenergie könnte wohl nur durch eine enorme Investitionsförderung angestoßen werden, was gleichzeitig die Investitionssicherheit für den Ausbau anderer Erzeugungstechnologien erdrutschartig beeinflussen würde. Dies gefährdet insbesondere auch erneuerbare Energien. Es ist daher Wunschdenken, dass wir durch den Ausbau der Kernenergie eine sichere, bezahlbare und nachhaltige Stromversorgung für heutige und zukünftige Generationen garantieren können.“

„Viel wichtiger als eine mögliche Debatte über die Fortführung und den Ausbau der Kernenergie in Deutschland ist die Weiterentwicklung regulatorischer Rahmenbedingungen und der Abbau bürokratischer Hürden, um zeitnah den Ausbau erneuerbarer Energien sowie dringend benötigter Flexibilitäten im Energiesystem massiv voranzutreiben. Hier gibt es bereits heute wichtige innovative Bausteine wie Speicher und Nachfrageflexibilität, um das Thema der Grundlastabdeckung auf neuen Wegen in den Griff zu bekommen.“

„Entsprechend müssen wir unser Stromsystem rasch dahingehend weiterentwickeln, um zielgerichtete Anreize für den Ausbau erneuerbarer Energien sowie Flexibilitätstechnologien zu schaffen. Sofern es gelingt, eine solche Integration erneuerbarer Energien zeitnah und zielgerichtet voranzutreiben, können wir auch mit erheblich niedrigeren Stromkosten rechnen, als dies in Folge eines blinden Ausbaus der Kernenergie zu erwarten wäre. Und gleichzeitig würden wir natürlich unabhängiger vom Import für die Kernenergie erforderlicher Ressourcen aus dem Ausland werden.“

Technisches Zusammenspiel von Kern- und erneuerbare Energien
„Kernenergie hat den Vorteil, dass sie die Grundlast eines Stromsystems abdecken kann. Sie kann allerdings nicht dynamisch die eigene Stromeinspeisung reduzieren. Im Gegensatz dazu sind zum Beispiel Pumpspeicher- oder Gaskraftwerke sehr gut geeignet, um auf kurzfristige Schwankungen der Stromnachfrage zu reagieren. Auch erneuerbare Energien sind hierzu teilweise in der Lage, sind allerdings wind- und wetterabhängig.“

„Wichtig für das zukünftige Stromsystem ist es, sich zweierlei Dinge vor Augen zu führen: Zunächst können wir die Grundlast strukturell verändern, in dem wir auf der Stromnachfrageseite beispielsweise industrielle Prozesse verstärkt an der Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien ausrichten. Dies spart am Ende auch Geld und Emissionen für Unternehmen. Daneben gibt es neben Kernkraftwerken viele weitere Möglichkeiten einer Grundlastabdeckung wie etwa neue Speichertechnologien. Dies macht die Kernenergie klar zum Dinosaurier der Stromversorgung, den wir lieber nicht ausgraben sollten.“

Prof. Dr. Andreas Löschel

Professor am Lehrstuhl für Umwelt-/Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit, Ruhr-Universität Bochum

„Aus Sicht des Klimaschutzes ist die Atomkraft eine Technologie, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Den größten Beitrag werden aber die erneuerbaren Energien leisten. Die Kapazitäten der Kernkraft werden trotzdem – parallel zum Anstieg der Stromnachfrage – steigen, auch wenn der Anteil der Atomkraft nicht substanziell werden dürfte. Tatsächlich macht der Ausbau der Kernkraft Stand heute energiewirtschaftlich und kostenseitig weniger Sinn. Die selbstgesteckten Ausbauziele dürften entsprechend mit Vorsicht zu betrachten sein. Ganz unbenommen von der ungelösten Frage der Endlagerung.“

„Viele Länder schauen aber nicht nur auf heutige Kosten, sondern stärker auf sicherheitspolitische Implikationen, mögliche Abhängigkeiten von kritischen Ressourcen und setzen auf Weiterentwicklung der Technologie in der Zukunft. Deutschland sollte diese Überlegungen etwa bei der Forschungspolitik nicht außer Acht lassen, auch wenn ein Neubau von Kernkraftwerken in absehbarer Zeit nicht auf der Tagesordnung stehen dürfte.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Walter Tromm: „Ich bin bei der OECD-NEA in dem Nuclear Science Committee (für Deutschland berufen), und im VDI leite ich den Kraftwerkstechnik-Ausschuss und bin deshalb in dem Energie- und Umweltbeirat des VDI, bin aber nicht in irgendeinem Industrie-Gremium oder einer Lobby Organisation.“

Prof. Dr. Martin Weibelzahl: „Ich sehe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Andreas Löschel: „Ich habe keine Interessenkonflikte. Ich war Leitautor des Kapitels zu Energiesystemen des 6. Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] IEA (2021): Net Zero by 2050. A Roadmap for the Global Energy Sector.

[2] IEA (2020): Projected Costs of Generating Electricity. 2020 Edition.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Energy.gov (2023): Declaration to Triple Nuclear Energy.

[II] Schnyder M (2023): The World Nuclear Industry Status Report 2023.

[III] IPCC (2022): Mitigation of Climate Change. Contribution of Working Group III to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change.

[IV] Boitier B et al. (2023): A multi-model analysis of the EU’s path to net zero. Joule. DOI: 10.1016/j.joule.2023.11.002.

[V] Von Hirschhausen et al. (2023). Energie- und Klimaszenarien gehen paradoxerweise von einem starken Ausbau der Atomenergie aus. DIW Wochenbericht 44, 2023. DOI: 10.18723/diw_wb:2023-44-1.