Zum Hauptinhalt springen
05.10.2023

Neue Mindestfallzahl für Frühchen-Versorgung

     

  • neue gesetzliche Mindestfallzahl für Frühchen-Behandlung ab 2024
  •  

  • manche Kliniken fallen zugunsten der Qualität aus der Versorgung
  •  

  • Fachleute sehen darin einen logischen Schritt der evidenzbasierten Medizin
  •  

Ab dem kommenden Jahr gilt in Deutschland eine neue gesetzliche Mindestfallzahl für die Versorgung von Frühchen. Künftig müssen die Kinderkliniken jährlich mindestens 25 Säuglinge mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm behandeln, um diese besonders früh geborenen Kinder überhaupt versorgen zu dürfen. Neugeborene gelten allgemein als Frühchen, wenn sie vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Bisher lag diese sogenannte Mindestmenge für Frühchen bei 14, in einer Übergangsphase zuletzt bei 20 Fällen jährlich. Ab dem 1. Januar 2024 greift nun die neue Mindestmenge.

Bis zum 7. Oktober werden die Kliniken von den Krankenkassen darüber informiert, ob sie auf Grundlage der neuen Mindestmenge die Frühchen-Behandlung nach dem Jahreswechsel weiterhin durchführen dürfen. Zuvor hatten die Kliniken den Kassen ihre Prognosen für das kommende Jahr geschickt. Die Landesverbände der Kassen und der Ersatzkassen stimmen den Prognosen nun entweder zu oder widersprechen bei erheblichen Zweifeln. Das Ergebnis wird voraussichtlich Ende Oktober/Anfang November durch den AOK-Bundesverband in einer Transparenzkarte veröffentlicht [I].

Mindestmengen sind vorgeschriebene Mindestfallzahlen für besonders komplizierte Operationen oder Behandlungen. In Kliniken, die die Mindestmengen einhalten, kommt es seltener zu Todesfällen und Komplikationen als in jenen, die nur wenige Eingriffe pro Jahr durchführen. Die Mindestmengen basieren auf der Erkenntnis, dass eine höhere Fallzahl zu einer besseren Qualität der medizinischen Versorgung führt, da das medizinische Personal durch das Wiederholen der Verfahren besser in dessen Durchführung wird. Derzeit gibt es für sieben medizinische Leistungen Mindestmengen [II].

Die Höhe der Mindestmenge orientiert sich an der Fachliteratur über den Zusammenhang von Säuglingssterblichkeit und der Häufigkeit der Behandlung. Für die Sichtung und Bewertung der Daten ist hierzulande das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zuständig. Dieses berichtet an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der daraufhin die Mindestmenge festlegt. Neben dem IQWiG ist an dem Prozess auch das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) beteiligt.

Seit 2010 galt in Deutschland eine Mindestmenge für die Frühchenbehandlung von 14 Fällen pro Jahr und Klinik. Im selben Jahr setzte der G-BA eine höhere Mindestmenge von 30 Fällen fest, allerdings klagten daraufhin mehrere Kliniken und bekamen vor dem Bundessozialgericht recht. Die Begründung: Es gebe keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für die Erhöhung [III]. Seitdem haben mehrere Studien nahegelegt, dass eine höhere Mindestmenge das Leben vieler Frühchen retten oder schwere Gesundheitsschäden verhindern könnte. Die neue Mindestmenge von 25 Fällen pro Jahr und Klinik ist trotz der Erhöhung als konservativ einzuschätzen. Die optimale Mindestmenge für die bestmögliche Versorgung liegt für Frühgeborene eher bei 50 bis 60 Fällen jährlich [IV].

Die Erhöhung der Mindestmenge auf 25 wird dennoch zu einer veränderten Kliniklandschaft führen. Hierzulande werden Kinderkliniken in vier Level eingeteilt; nur Level-I-Kliniken (Perinatalzentren) dürfen aufgrund ihrer Spezialisierung bei Ausstattung und Personal Frühchen unter 1250 Gramm versorgen. Die Mindestmengenregelung betrifft also nur Level-I-Kinderkliniken.

Laut einer Modellrechnung des IQTIG für den G-BA aus dem Jahr 2020 verbleiben bei einer Mindestmenge von 25 insgesamt noch 131 Kliniken, die Frühchen unter 1250 Gramm behandeln dürfen [V]. Im Vergleich zu einer Mindestmenge von 14 würden demnach 37 Klinikstandorte von dieser Versorgung ausgeschlossen. Die Fahrtzeit zum nächstgelegenen Krankenhaus, das die Mindestmenge erfüllt, läge im Durchschnitt bei 24 Minuten, bei einer durchschnittlichen Strecke von 24 Kilometern. Das sind zwei Minuten länger beziehungsweise vier Kilometer mehr als bei einer Mindestmenge von 14 Fällen jährlich. Läge die Mindestmenge bei 55, würde man rund 28 Minuten zur nächsten geeigneten Kinderklinik brauchen, bei einer Strecke von durchschnittlich 32 Kilometern. 69 Klinikstandorte würden dann verbleiben. Je nach Modell errechnet das IQTIG leicht unterschiedliche Zahlen. Einen Antrag einiger Bundesländer zur Wiederaufnahme der Mindestmengen-Beratungen lehnte der G-BA im Juli dieses Jahres ab. Die Bundesländer hatten unter anderem längere Fahrtzeiten moniert und fürchteten in manchen Regionen Versorgungslücken [VI].

Das SMC hat Expertinnen und Experten dazu befragt, welche Wirkung die neue Frühchen-Mindestmenge auf die Kliniklandschaft haben wird, welche Chancen oder gar Risiken damit verbunden sind und inwieweit nun weiterer Aufklärungsbedarf für Eltern besteht.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Ursula Felderhoff-Müser, Direktorin der Klinik für Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Essen, und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)
  •  

  • Prof. Dr. Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  •  

  • Prof. Dr. Holger Stepan, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig
  •  

  • Prof. Dr. Mario Rüdiger, Leiter des Fachbereiches Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin und Leiter des Projektes Feto-Neonataler-Pfad, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM)
  •  

  • Prof. Dr. Dominique Singer, Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
  •  

  • Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, und Mitglied des Fachbeirats des Bundesgesundheitsministeriums sowie derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
  •  

  • Prof. Dr. Ulrich Thome, Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig
  •  

Statements

Prof. Dr. Ursula Felderhoff-Müser

Direktorin der Klinik für Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Essen, und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)

Höhe und Wirkung der Mindestmenge

„Eine Mindestmenge entspricht der wissenschaftlichen Evidenz, eher werden in der Literatur noch höhere Mindestmengen als 25 empfohlen. Derzeit existieren rund 160 Level-I-Zentren (Maximalversorgung für sehr kleine Frühgeborene unter 1250 Gramm, für diese Zentren soll die Mindestmenge gelten) und 45 Level-II-Zentren (spezialisierte Versorgung für Frühgeborene über 1250 Gramm, Versorgung kranker Reifgeborener). Die Versorgungspyramide steht also auf dem Kopf. Nach Einführung der Mindestmenge werden geschätzt etwa 20 bis 25 Prozent der Kliniken von Level-I- in Level-II-Zentren umgewandelt, aber nicht geschlossen werden. Diese können dennoch durchaus alle Frühgeborenen über 1250 Gramm und auch reifgeborene kranke Neugeborene versorgen, die die weitaus höhere Zahl der Früh- und Neugeborenen ausmacht als die sehr unreifen Kinder. Extremfrühgeburtlichkeit ist in den allerseltensten Fällen ein Notfall, es ist also durchaus möglich, die Mutter mit Baby im Bauch in ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe zu verlegen. Oft geht einer solchen Frühgeburt noch einige Tage ein stationärer Aufenthalt voraus, wo alles getan wird, das Kind möglichst lange im Mutterleib zu halten. Es zeigt sich auch aus Beobachtungen aus anderen Ländern (zum Beispiel Skandinavien), dass eine zentralisierte Versorgung solch seltener Fälle möglich ist und sogar zu Verbesserungen der Überlebensrate führt. Mit einer anderen schweren Erkrankung (zum Beispiel einem seltenen Tumor) kann man ja auch nicht an jedem Ort von einem Spezialisten betreut werden.“

„Die Perinatalzentren Level I und II müssen laut Bestimmungen des G-BA mit einem ärztlichen Schichtdienst (24/7, 365 Tage) und auch einem klar definierten Pflegeschlüssel ausgestattet sein. Ich gehe davon aus, dass die Versorgung der Frühgeborenen mit einer gewissen Umverteilung (reifere Kinder nach Level II) gut möglich sein wird. Umverteilungen wird es auch durch reduzierte Verlegungen kleiner Frühgeborener zu Interventionen bei Komplikationen geben. Das Problem der Versorgungsstrukturen mit Kinderkliniken liegt eher an der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendmedizin insgesamt, wo sehr hohe Vorhaltekosten anfallen und diese auch für Kinder jenseits der Neugeborenenperiode nicht auskömmlich abgebildet sind. Das gilt es in Zukunft dringend zu verbessern.“

Quantität vs. Qualität

„Bei einer Mindestmenge von 25 Kindern sehe ich keine Gefahr, dass Quantität auf Kosten der Qualität geht, eher das Gegenteil ist der Fall.“

Aufklärungsbedarf für Eltern

„Die Eltern sollten umfassend informiert sein, welche Leistungen das Perinatalzentrum vorhält, zum Beispiel welche anderen Fachgebiete der Kinder- und Jugendmedizin, weitere Fachgebiete zur Versorgung von kleinen Frühgeborenen (zum Beispiel Augenheilkunde), Angebote der Ernährung mit Muttermilch, Mutter-Kind-Einheiten, Nachsorgeangebote ambulant etc.“

Kooperationen zwischen Kinderkliniken

„Es gibt einige solche gut funktionierenden Beispiele der Zusammenarbeit von Level I, Level II und perinatalen Schwerpunktkliniken zum Beispiel in Dresden und Umgebung, wo ein solcher Zusammenschluss trotz der Entfernungen sehr gut funktioniert.“

Klinikreform und Mindestmenge

„Für die Neonatologie gilt nach dem derzeitigen Stand auch weiterhin die G-BA-Qualitätssicherungsrichtlinie Früh- und Reifgeborene [1]. Es ist jedoch zur Verhinderung von weiteren Kinderklinikschließungen extrem wichtig, dass auch die übrigen Gebiete der Kinder- und Jugendmedizin, also die Versorgung der Kinder, die älter als einen Monat sind, endlich eine auskömmliche Finanzierung erhalten.“

Prof. Dr. Christoph Bührer

Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Höhe und Wirkung der Mindestmenge

„Es gibt einen linearen Zusammenhang zwischen Mindestmenge und Überleben von Frühgeborenen unter 1250 Gramm Geburtsgewicht, bis zu einer jährlichen Mindestzahl von etwa 60 solcher Frühgeborenen. Bei einer Mindestzahl von 60 würden bundesweit etwa 60 Kinder mehr überleben [2]. Die jetzt angesetzte Zahl von 25 ist niedrig und als politischer Kompromiss anzusehen. Bisher gibt es mehr als 160 Perinatalzentren Level 1, denen weniger als 50 Perinatalzentren Level 2 gegenüberstehen. Mit Einführung der neuen Mindestmenge verschiebt sich dieses Verhältnis auf etwa 120 zu 90, das heißt, es gibt immer noch mehr Perinatalzentren Level 1 als Level 2. Zum Vergleich: In Schweden gibt es acht Perinatalzentren Level 1 und 28 Perinatalzentren Level 2. Dort liegt die Überlebensrate von Frühgeborenen unter 28 Schwangerschaftswochen bei 86,3 Prozent, in Deutschland gegenwärtig nur bei 77,5 Prozent.“

„Von der Mindestmengenregelung sind nur etwa ein Prozent aller Geburten betroffen. Nur bei einer kleinen Anzahl von Risikogeburten ist nach Berechnungen des G-BA mit einer moderaten Erhöhung der Wegezeiten zu rechnen, der Durchschnitt liegt dann bei 24 bis 25 Minuten bei einer durchschnittlichen Wegstrecke von 24 Kilometer. Die Hälfte aller Patienten hat rechnerisch lediglich eine Fahrtzeitverlängerung von einer Minute (50. Perzentil) verglichen mit der Ausgangslage vor Inkrafttreten des Mindestmengenbeschlusses. Nur ein Prozent aller Patienten hat eine Fahrtzeitverlängerung von mehr als vier Minuten und eine Gesamtfahrtzeit zum nächstgelegenen Standort von mehr als 75 Minuten (99. Perzentil). Schweden hat mit 447.435 Quadratkilometern eine deutlich größere Fläche als Deutschland (357.588 Quadratkilometern) und kann trotzdem auch im dünnbesiedelten Norden exzellente Ergebnisse vorweisen, obwohl es in ganz Schweden wie gesagt nur acht Perinatalzentren Level 1 gibt.“

Quantität vs. Qualität

„Die Standards für Strukturen und Abläufe der Frühgeborenenversorgung sind in der QFR-RL (Qualitätssicherungsrichtlinie Früh- und Reifgeborene) festgehalten und werden regelmäßig vom Medizinischen Dienst überprüft. Eine Klinik, die die QFR-RL-Anforderungen nicht erfüllt, verliert ihren Status als Perinatalzentrum, sofern sie die Auflagen nicht innerhalb gesetzter Fristen erfüllt.“

Aufklärungsbedarf für Eltern

„Die einfach anzugebende Zahl, wie viele Frühgeborene unter 1250 Gramm eine Klinik jährlich behandelt, kann bereits eine große Orientierungshilfe sein – nur, was ein Team aus Ärzten und Schwestern häufiger macht, macht es auch gut. Zusätzlich gibt es das Internetportal www.perinatalzentren.org, wo Eltern die nächstgelegenen Perinatalzentren einschließlich ihrer Ergebnisqualität angezeigt werden.“

Kooperationen zwischen Kinderkliniken

„Vielerorts gibt es bereits gute Beziehungen zwischen Level-1- und Level-2-Perinatalzentren. Hat sich ein sehr kleines Frühgeborenes in einem Level-1-Perinatalzentrum stabilisiert und ist es der Hochrisiko-Zone entwachsen, kann es oft nach einigen Wochen in ein heimatnahes Perinatalzentrum Level 2 verlegt werden. Die Gesamtzahl der kleinen Frühgeborenen und die Gesamtzahl der Perinatalzentren ändert sich wenig, nur die Aufgaben werden etwas präziser verteilt – zum Wohle der kleinen Kinder.“

Klinikreform und Mindestmenge

„Im Bereich der Perinatalmedizin ist mit der Definition von Perinatalzentren, Anforderungen an Strukturen und Prozesse sowie der regelmäßigen Veröffentlichung der Ergebnisqualität schon seit Längerem realisiert, was die Krankenhausreform und das Transparenzgesetz auch für andere Bereiche anstrebt. Zuständig für eine bedarfs- und ressourcenorientierte Krankenhausplanung wären eigentlich die Länder, die das aber auch aufgrund lokaler politischer Rücksichtnahme in den letzten Jahrzehnten nicht hinbekommen haben. Das Bundesgesundheitsministerium würde gerne, die Länder lassen es aber nicht. Dadurch kommt der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen in Form des Gemeinsamen Bundesausschusses eine Ersatzfunktion zu – sowohl die Mindestmengen (nicht nur in der Perinatalversorgung) als auch die Qualitätsrichtlinien (wie die QFR-RL) sind ein Produkt des Gemeinsamen Bundesausschusses.“

Prof. Dr. Holger Stepan

Direktor der Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig

Höhe und Wirkung der Mindestmenge

„Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen dem Behandlungsvolumen (also der Fallzahl) und der Ergebnisqualität bei der Versorgung von Frühgeborenen. Insofern steht die Mindestmenge von 25 auf einer mehr als ausreichend belegten wissenschaftlichen Evidenz. Die Erhöhung der Frühchen-Mindestmenge wird sich auf die Versorgungsstruktur positiv auswirken. Dies wird geschehen durch bessere zentralisierte Betreuung der Hochrisiko-Säuglinge und auch durch bessere Ressourcenverteilung und Zuordnung sowie Konzentration von spezialisiertem Personal. Die gegenwärtige und nicht gut erklärbare Situation, dass es mehr Level-1-Zentren als Level-2-Zentren gibt, wird sich in die richtige Richtung korrigieren. In ländlichen Regionen erwarte ich keine Probleme in Hinsicht auf die Zugänglichkeit. Die Entfernungen in Deutschland sind überschaubar und wir haben gegenwärtig eine Überversorgung mit Perinatalzentren. Es gibt seriöse Berechnungen, wonach selbst deutlich höhere Mindestmengen die Distanz zum nächsten Zentrum durchschnittlich um Minuten beziehungsweise einige Kilometer erhöhen würden. Die bestmögliche Versorgung eines Frühchens ist wichtiger als die nächstmögliche.“

Quantität vs. Qualität

„Ich denke nicht, dass es dazu kommt, dass einige Kliniken die Fallzahlen nun bewusst hochschrauben. Kliniken, die die erhöhte Mindestmenge nicht erfüllen, werden dies kaum durch ein in irgendeiner Art geändertes Management beeinflussen können und dies würde ich auch nicht unterstellen.“

Kooperationen zwischen Kinderkliniken

„Das ist regional sicherlich unterschiedlich. Im besten Fall bestehen Kooperationen auf Augenhöhe über die Level-Grenzen hinweg. Aber das ist sicherlich ausbaufähig.“

Prof. Dr. Mario Rüdiger

Leiter des Fachbereiches Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin und Leiter des Projektes Feto-Neonataler-Pfad, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM)

Höhe und Wirkung der Mindestmenge

„Die Erhöhung der Mindestmengen ist ein wichtiger und notwendiger Schritt in Richtung Verbesserung der Versorgungssituation Früh- und kranker Neugeborener in Deutschland. In der aktuellen Diskussion um die Zentralisierung der Versorgung dieser Kinder wird jedoch häufig vergessen, dass diese nur gleichzeitig mit einer Sicherstellung der regionalen Versorgung von Schwangeren und kranken Neugeborenen erfolgen darf. Dazu sind jedoch nicht nur technische und strukturelle Voraussetzungen notwendig, vielmehr ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Partner in einer Region neu zu definieren. Telemedizin, Anpassungen in der Aus- und Weiterbildung beziehungsweise in der Finanzierung sind nur einige zu bearbeitende Themen, um den künftigen Herausforderungen mit Geburtenrückgang und Personalmangel begegnen zu können.“

„Die internationale Datenlage weist auf einen klaren Zusammenhang zwischen Menge der Versorgung und der Chance, als extrem unreifes Kind zu überleben. Auch für Deutschland liegen vergleichbare Daten vor, demnach müsste die Mindestmenge sogar bei 50 Fällen pro Jahr liegen. Durch die neue Mindestmenge wird es zu einer Reduktion der Level-I-Einrichtungen kommen, diese werden aber – in einer anderen Leveleinstufung – weiterhin die Versorgung in der Region sicherstellen. Damit wird die Vorhaltung wichtiger Personal- und Geräteressourcen in weniger Zentren konzentriert. In Regionen, in den bisher nur sehr wenige extrem unreife Frühgeborene geboren wurden, werden die Fahrtwege für die Eltern länger. Allerdings haben viele Level-I-Zentren die Möglichkeit, Eltern unterbringen zu können. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass die im Level-I-Zentrum geborenen Kinder zeitnah, das heißt, wenn der medizinische Zustand es erlaubt, wieder in die heimatnahe Einrichtung zur weiteren Betreuung verlegt werden. Da die Mehrzahl (rund 90 Prozent) der zu frühen Geburten nicht als Notfall auftreten, wird es zu keiner Gefährdung der Versorgung kommen.“

Quantität vs. Qualität

„Es existieren bereits gut etablierte Verfahren zur Qualitätssicherung. Daher ist der Effekt, dass Kliniken ihre Fallzahlen zuungunsten der Qualität erhöhen werden, nicht zu erwarten.“

Aufklärungsbedarf für Eltern

„Es besteht mit www.perinatalzentren.org bereits eine Informationsplattform für Eltern von Frühgeborenen. Damit ist das Verfahren, welches aktuell im Rahmen der Krankenhausreform für alle Häuser geplant ist, Realität in der Versorgung von Frühgeborenen.“

Kooperationen zwischen Kinderkliniken

„In Ostsachsen existiert das deutschlandweit erste und einzige Zentrum für feto/neonatale Gesundheit, in dem stationäre Einrichtungen unterschiedlicher Level und ambulante Ärzte zusammenarbeiten, um in einer Region mit rund 15.000 Geburten die Versorgung von Schwangeren sowie Früh- und kranken Neugeborenen sicherzustellen.“

Klinikreform und Mindestmenge

„Im Rahmen der Klinikreform werden einige Prinzipien, die in der Perinatalmedizin bereits seit mehreren Jahrzehnten etabliert sind, für die allgemeine Krankenhausversorgung vorgeschlagen. Mit der geplanten Fokussierung der Maximalversorgung auf wenige hochspezialisierte Einrichtungen wird die Krankenhausreform zu einer weiteren Zentralisierung der Versorgung sehr unreifer oder schwer kranker Kinder führen. Damit werden die dann verbleibenden Kliniken wahrscheinlich deutlich mehr als 50 extrem unreife Kinder pro Jahr versorgen; eine Maßnahme mit der jährlich mehr als 60 Kindern in Deutschland das Leben gerettet werden kann.“

Prof. Dr. Dominique Singer

Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

Höhe und Wirkung der Mindestmenge

„Zunächst ist der Benefit einer Zentralisierung der Perinatalmedizin offensichtlich, wie etwa am Beispiel der skandinavischen Länder deutlich wird, die trotz sehr großer Flächenausdehnung nur wenige Perinatalzentren haben und dennoch (oder trotzdem) die niedrigsten neonatalen Mortalitäten weltweit aufweisen. Neben diesen epidemiologischen Daten ist es auch intuitiv nachvollziehbar, dass seltene Vorkommnisse wie frühe Frühgeburten von solchen Kliniken besser gemanagt werden können, die relativ regelmäßig mit diesen Situationen konfrontiert sind. Wer weniger als alle zwei Wochen mit einem Frühgeborenen unter 1500 Gramm (Geburtsgewicht; = Definition der ,sehr kleinen‘ Frühgeborenen) zu tun hat, der wird naturgemäß über weniger Routine verfügen als Zentren, in denen dies zwei- oder dreimal wöchentlich vorkommt. Hierzu gibt es auch Statistiken, die aber selbstverständlich keine wirklich valide Aussage darüber zulassen, ob eine bedenkliche Untergrenze nun bei 20, 25, 30 oder XY Geburten pro Jahr liegt; sicher ist nur, dass auch 25 im internationalen Vergleich noch eine sehr geringe Zahl ist.“

„Dies alles bedeutet auch nicht automatisch, dass die Frühgeborenenmedizin in kleineren Häusern kategorisch schlechter sein muss. Dies gilt besonders für Deutschland, wo kleinere Häuser nicht selten von Kolleginnen und Kollegen geleitet werden, die zuvor viele Jahre an neonatologischen Abteilungen großer Universitätskliniken zugebracht haben und die Neonatologie aus dem Effeff beherrschen. Von ihnen wird dann nicht ganz zu Unrecht vorgebracht, dass sie sich in einem kleineren Haus sogar individueller um ihre Patienten kümmern könnten. Hierbei wird jedoch möglicherweise unterschätzt, dass die High-End-Neonatologie eine Teamaufgabe darstellt, die eine beträchtliche interdisziplinäre und interprofessionelle Infrastruktur (von der Kinderchirurgie bis zur Augenheilkunde etc.) voraussetzt, welche ohne ,regelmäßige Übung‘ extrem schwer vorzuhalten ist.“

Quantität vs. Qualität

„Dass, um eine bestimmte Mindestmenge zu erreichen, Frühgeburten sehenden Auges in Kauf genommen werden, die man sonst (durch Prolongierung von Risikoschwangerschaften) hätte vermeiden können, sollte man Niemandem unterstellen. Dennoch ist allein der Begriff der ,Mindestmenge‘ kontraintuitiv, weil das Ziel der Perinatalmedizin ja gerade nicht darin besteht, so viele Frühgeborene wie möglich, sondern im Gegenteil, so wenige wie möglich hervorzubringen. Und diesem Ziel kann man in solchen Zentren gelassener nacheifern, die sich wegen ihrer Größe um die Erreichung einer Mindestmenge keine Sorgen machen müssen. Ob man das an sich erstrebenswerte Ziel einer Zentralisierung durch die wirtschaftliche Hintertür einer Mindestmenge erzwingen kann, erscheint ohnehin fraglich. Auch, was den Fachkräftemangel anbelangt, wird allgemein bezweifelt, dass qualifizierte Pflegepersonen in wirklich großer Zahl aus dünner besiedelten Regionen in die Ballungsräume umziehen werden, um dort [weiter]arbeiten zu können.“

Kooperationen zwischen Kinderkliniken

„Immerhin unterscheidet sich die Frühgeburt als geburtshilflich-neonatologischer Notfall auch von mehr oder weniger elektiven Eingriffen wie dem großen Kniegelenkersatz. Das heißt, es ist nicht mit der Festlegung einer Mindestmenge für die größten ,Anbieter‘ getan. Es bedürfte hier vielmehr einer vernetzten Versorgungsstruktur, innerhalb derer die Spitzenzentren sich auf die High-End-Medizin beschränken können, um ihre Patienten sodann in regionale Kliniken weiterzuleiten, deren keineswegs ,minderwertige‘ Aufgabe darin besteht, die an den Spitzenzentren erzielte Erfolge ,nach Hause zu bringen‘. Derzeit gibt es viele sogenannte Level-1-Zentren (im Rest der Welt spricht man bei den High-End-Kliniken umgekehrt von Level-IV-Kliniken), die nicht nur vergleichsweise überschaubare Fallzahlen aufweisen, sondern die Patienten auch bis zur Entlassung betreuen, was bei sehr großen Distanzen (wie etwa in den skandinavischen Ländern) kein praktikables Konzept wäre.“

„Wir haben bei uns am UKE durchschnittlich rund 90 Frühgeborene unter 1500 Gramm pro Jahr. Daraus in Zukunft ,mal eben‘ 115 oder so zu machen, weil eine kleinere Klinik im Umkreis schließen muss (wobei sich diese Frage bei uns de facto so nicht stellen wird), wäre in der Tat schwierig, weil wir die Frühchen dann vor allem wegen des momentanen Pflegepersonalmangels gar nicht mehr leitliniengerecht versorgen könnten. Hierzu gibt es eine jüngst erschienene Studie der Münchener Kollegen im Bundesgesundheitsblatt [3], in der deutlich wird, dass die Einhaltung aller Vorgaben letztlich dazu führt, dass die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr zu gewährleisten ist und drohende Frühgeburten teilweise (widersinnigerweise!) in periphere Kliniken ausgelagert werden müssen. Und die Vorstellung, dass nach Schließung kleinerer Kliniken das dortige Pflegepersonal umgehend Haus und Hof verlässt und in die Ballungszentren zieht, um dort weiterzuarbeiten, ist – wie schon gesagt – eher unrealistisch.“

Prof. Dr. Reinhard Busse

Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, und Mitglied des Fachbeirats des Bundesgesundheitsministeriums sowie derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung

Gesetzlicher Hintergrund

„Da die Bundesländer im Zuge ihrer Krankenhausplanung in der Regel nur Fachabteilungen definieren (und damit keine Leistungen), können Krankenhäuser weitgehend selbst entscheiden, welche Leistungen sie erbringen. Um die damit verbundenen strukturellen Probleme (etwa mangelnde personelle Qualifikationen und technische Ausstattung) und unterdurchschnittliche Erfahrung als Prozessparameter mit ihren negativen Auswirkungen auf die Patientenergebnisse zu vermindern hat der Bundesgesetzgeber im Lauf der Zeit verschiedene Qualitätssicherungsansätze beschlossen, die in der Regel vom Gemeinsamen Bundesausschuss konkretisiert werden müssen. Dazu zählen ,Kriterien für die indikationsbezogene Notwendigkeit und Qualität der durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Leistungen, insbesondere aufwändiger medizintechnischer Leistungen; dabei sind auch Mindestanforderungen an die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität festzulegen‘ (§136 SGB V), aber auch ein ,Katalog planbarer Leistungen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist, sowie Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen‘ (§136b SGB V). Die Versorgung der jährlich etwa 6000 Frühgeborenen unter 1250 Gramm fällt unter beide Regelungen: Die seit 2006 existierende Richtlinie gemäß §136 definiert für bestimmte Neugeborene (nach Geburtsgewicht, Schwangerschaftswoche etc.) die Versorgung in sogenannten Perinatalzentren sowie deren personelle und technische Ausstattung, wobei es zwei Stufen gibt (Level I mit höheren Anforderungen und Level II) und die Richtlinie nach §136b, die seit 2010 zusätzlich Mindestfallzahlen für Frühgeborene unter 1250 Gramm festlegt. Die Menge war zunächst auf 14 festgelegt, aber noch 2010 beschloss der G-BA eine Erhöhung auf 30, die allerdings vom Bundessozialgericht revidiert wurde. Derzeit gilt eine Mindestmenge von 20, die ab 2024 auf 25 steigt. Frühgeborenen unter 1250 Gramm sollten in Level-I-Zentren versorgt werden; sie bilden dort die wichtigste, wenn auch nicht die einzige Patientengruppe.“

Landschaft der Kinderkliniken

„Natürlich wäre eine einheitliche Definition von Anforderungen an Personal, technischer Ausstattung und Fallzahlen für die zu versorgende Population, also Neugeborenen, die zu früh und/oder mit niedrigem Geburtsgewicht zur Welt kommen, sinnvoll. Allerdings haben die Bundesländer es bei der ,Planung‘ der Perinatalzentren versäumt, neben den vom G-BA in der Richtlinie festgelegten Strukturanforderungen auch die Epidemiologie, also die Fallzahlen, systematisch zu berücksichtigen. Die dadurch zum Teil sehr niedrigen Fallzahlen mit den negativen Auswirkungen auf die Qualität – und das heißt, unnötiges Versterben – hat die Mindestmengenregulierung und ihre Verschärfung überhaupt erst notwendig gemacht. So versorgen die 166 Level-I-Perinatalzentren (alle mit mindestens sechs neonatologischen Intensiv-Therapie-Plätzen) im Schnitt nur 35 Patienten im Jahr. Mehr Frühgeborene gibt es auf 500.000 Einwohner, die im Schnitt ein Zentrum versorgt, nicht. Sollte ein Schnitt von 50 erreicht werden (und dies, wäre für die Qualität wünschenswert, wie das IQTIG 2020 errechnet hat), wären es 700.000 Einwohner – also etwa 25 Zentren statt derzeit 38 in NRW, 5 statt 8 in Berlin, 2 bis 3 statt 5 in Hamburg, 4 statt 5 in Schleswig-Holstein, und bundesweit weniger als 120. Diese Zahlen zeigen: Die Zentren mit den wenigsten Patienten liegen allerdings keinesfalls nur im ländlichen Raum: allein in NRW gibt es fünf Zentren mit weniger als 25 Fällen im Jahr – in Bottrop, Düsseldorf, Duisburg, Herdecke und Siegen, jeweils nur wenige Kilometer vom nächsten Zentrum mit mehr Fällen entfernt. In Schleswig-Holstein sind es 20 Fälle in Heide – und 23 im 30 Minuten entfernten Itzehoe. Wenn das so wäre, das heißt, wenn es nicht zu viele Zentren mit zu wenigen Patienten für eine qualitativ hochwertige (und übrigens auch wirtschaftliche) Versorgung gäbe, dann gäbe es auch gar keinen Streit darum, ob eine Mindestgrenze von 20, 25 oder 30 notwendig ist.“

Klinikreform und Mindestmenge

„Mindestmengen sind ,Krücken‘, wenn eine Gesamtplanung fehlt. Sinnvoll wäre es, wenn die Krankenhausplanung in Deutschland insgesamt rational wäre, also Zugang, Qualität und Epidemiologie (Fallzahlen) miteinander kombiniert würden. Genau dies war der Ansatz der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. So sollten alle Patienten, beziehungsweise die für sie notwendigen Leistungen, in Leistungsgruppen eingeteilt werden, und diese je nach Komplexität der Leistungen einem bestimmten (Mindest-)Krankenaus-Level zugeordnet werden. Die Anforderungen nach Leistungsgruppen sollten die anderen existierenden Qualitätsanforderungen (wie die hier genannten Richtlinien des G-BA einschließlich der Mindestmengen) ersetzen. Paradox: Die gleichen Länder, die jetzt die bereits rechtskräftige Erhöhung der Mindestmenge auf 25 kippen wollen, haben vorher die Vorschläge der Regierungskommission, die die getrennte Festlegung von Mindestmengen nur für Frühgeborene ja erübrigt hätten, so weit verwässert, dass die Mindestmengen zur Qualitätssicherung neben den Leistungsgruppen erhalten bleiben müssen.“

Prof. Dr. Ulrich Thome

Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig

Höhe und Wirkung der Mindestmenge

„Der Gemeinsame Bundesausschuss hat festgelegt, dass Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm nur noch in Kliniken zur Welt kommen und versorgt werden sollen, die mindestens 25 solche Kinder im Jahr behandeln. Diese Mindestmenge wurde von zuvor 14 auf 25 angehoben. Der Gemeinsame Bundesausschuss folgt damit der zunehmend verfügbaren wissenschaftlichen Beweislage, dass Frühgeborene in Zentren mit höherer Zahl behandelter Patienten im Durchschnitt weniger schwere Komplikationen haben sowie häufiger überleben. Optimal, so hat die Forschung festgestellt, wäre eine Mindestzahl von 50. Eine so hohe Zahl wäre zwar im Sinne der Kindergesundheit aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse sinnvoll, wurde aber bisher nicht festgeschrieben. Die Festlegung auf nur 25 Fälle trug vermutlich der Befürchtung Rechnung, dass die wenigen Zentren, die dann übrigblieben, nicht ad hoc in der Lage wären, die deutlich anwachsenden Patientenzahlen zu verkraften, die behandelt werden müssten, wenn alle anderen, kleineren Zentren diese Patientengruppe plötzlich nicht mehr versorgen dürfen. Es wäre daher im Sinne der Kindergesundheit zu wünschen, wenn die Mindestmenge in weiteren, kleineren Schritten bis auf 50 angehoben werden würde.“

„Da aufgrund von Ungereimtheiten im DRG-System viele kinderklinische Behandlungen nicht auskömmlich refinanziert werden, nutzten viele Kinderkliniken die Frühgeborenenversorgung, um andere, defizitäre Bereiche quer zu finanzieren. Dieses Vorgehen ist jedoch problematisch, da die für die Frühgeborenenversorgung ausgezahlten Fallpauschalen ja nun dazu da sind, für die Frühgeborenenversorgung eingesetzt zu werden. Wird jetzt durch die neue Mindestmengen-Regelung einem Teil der Kinderkliniken die Versorgung extrem kleiner Frühgeborener verwehrt, könnte es sein, dass einige Kinderkliniken wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden. Andere werden ihre Schwerpunkte anders setzen müssen, um wirtschaftlich überleben zu können. Es wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert, das DRG-System für die pädiatrischen Therapien insgesamt zu überarbeiten. Jede Therapie ist in der Kinderklinik immer teurer als in der Erwachsenenmedizin, da Kinder einen höheren Betreuungsaufwand haben. Dem sollte im Fallpauschalensystem endlich angemessen Rechnung getragen werden, damit Kinderkliniken nicht mehr darauf angewiesen sind, alles, was sie sonst machen, durch die Frühgeborenenversorgung quer zu finanzieren.“

„In vielen Fällen werden Kliniken die Versorgung einstellen müssen, die sich in Ballungsräumen befinden und die alternative Klinik nicht sehr weit entfernt ist. Einer Analyse des IQTIG aus dem Jahr 2020 zufolge verlängert sich die durchschnittliche Wegstrecke von 20 auf 24 Kilometer und die Fahrzeit von 20 auf 24 Minuten. Das würden sicherlich die allermeisten Eltern gerne in Kauf nehmen, wenn sie dafür eine höhere Chance haben, dass ihr Kind gut überlebt. In ländlichen Gebieten können sich dennoch die Fahrzeiten mitunter deutlich verlängern. Dies betrifft jedoch so wenige Fälle, dass es damit in diesen Gebieten nicht möglich wäre, ein erfahrenes Behandlungsteam mit guter Behandlungsqualität aufrecht zu erhalten. Nach den Modellrechnungen würden bei der Mindestmenge von 25 bundesweit nur bei 64 Kindern eine Fahrstrecke von über 100 Kilometer auftreten (19 Kinder bei einer Mindestmenge von 14), aber für diese 64 Kinder müssten viel zu viele Perinatalzentren erhalten bleiben, um die Fahrstrecken für alle deutlich zu reduzieren. Praktisch alle großen Kliniken haben dieses Problem auf andere Weise gelöst: Unterbringung der Eltern in einem Elternhotel in der Nähe des Perinatalzentrums, stationäre Aufnahme der Mütter bei drohender Frühgeburt. Selbst bei unverhofftem Geburtsbeginn ist ein Perinatalzentrum in aller Regel noch erreichbar. Langfristig zahlt sich das auf jeden Fall aus, da die Liegedauer in der Klinik klein ist im Vergleich zur Lebensdauer des Kindes.“

Quantität vs. Qualität

„Es gibt eine Reihe von Qualitätskriterien, die von Kinderkliniken, die derart kleine Frühgeborene versorgen, eingehalten werden müssen. Die Mindestmenge ist dabei nur einer von vielen Bausteinen. Auf diese Weise wird die Qualität gesichert.“

Aufklärungsbedarf für Eltern

„Viele Eltern setzen sich erst mit dem Thema Frühgeburtlichkeit auseinander, wenn sie selbst davon betroffen sind. Diese Eltern sind sich oftmals nicht darüber im Klaren, wie gefährlich die Situation für ihr Kind ist, und wie sehr es darauf ankommt, dass ein erfahrenes Team die Behandlung übernimmt. Die Eltern könnten verstärkt auf das Portal perinatalzentren.org hingewiesen werden, dieses jedoch benötigt mehr laienverständliche Erklärung zu den angewendeten statistischen Verfahren. Hierüber wäre eine verstärkte Aufklärung von Eltern sowie die Vorsorge tragenden Frauenärzte sinnvoll.“

Kooperationen zwischen Kinderkliniken

„Viele Level-1-Perinatalzentren, auch mein eigenes, arbeiten eng mit den umliegenden Kinderkliniken zusammen. Dies umfasst beispielsweise Absprachen über die Vorgehensweise bei bestimmten Erkrankungen, wechselseitiger Besuch der Fortbildungsveranstaltungen, Absprachen über die Verteilung von Frühgeborenen, die nicht der Mindestmengenregelung unterliegen, und die heimatnahe Verlegung von Frühgeborenen, die die spezialisierte Versorgung im Level-1-Perinatalzentrum nicht mehr benötigen.“

Klinikreform und Mindestmenge

„Die Mindestmengenregelung passt gut zu den weiteren Vorhaben in der von Herrn Professor Lauterbach angestrebten Klinikreform. Es soll dabei ja festgelegt werden, welche Kliniken welche Spezialisierungen vorhalten sollen, und welche nicht, damit jede Klinik für die Erkrankungen, die sie behandelt, leistungsfähige, erfahrene Arbeitsgruppen bilden kann. Dazu gehört selbst verständlich auch, dass nicht mehr alle Kinderkliniken extrem kleine Frühgeborene versorgen sollten. Das steigert die Quote erfolgreicher Behandlungen und senkt die Zahl der Komplikationen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Christoph Bührer: „Als eines der wenigen wirklich ganz großen Perinatalzentren Deutschlands sind wir von den Mindestmengen nur sekundär betroffen, andere Umstände, die als Interessenkonflikte gedeutet werden könnten, sehe ich nicht.“

Prof. Dr. Mario Rüdiger: „Ich unterstütze den Bundesverband das Frühgeborene Kind e.V. als wissenschaftlicher Berater im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und bin Direktor des deutschlandweit ersten Zentrums für feto/neonatale Gesundheit, welches neue Formen der regionalen, interdisziplinären und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit erprobt.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Gemeinsamer Bundesausschuss (20.09.2005): Qualitätssicherungs-Richtlinie Früh- und Reifgeborene.

[2] Heller G et al. (2020): Wie hoch ist die optimale Mindestmenge für die Behandlung Frühgeborener mit einem Geburtsgewicht unter 1250 g in Deutschland? Z Geburtshilfe Neonatol. DOI: 10.1055/a-1259-2689.

[3] Fichtner D et a. (2023): Gefährdet der Pflegepersonalmangel auf neonatologischen Intensivstationen die Versorgungssicherheit Neugeborener? Bundesgesundheitsblatt. DOI: 10.1007/s00103-023-03749-6.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] AOK-Bundesverband (2023): Mindestmengen-Transparenzkarte 2023.

[II] Gemeinsamer Bundesausschuss (2023): Mindestmengen für planbare medizinische Eingriffe.

[III] Gemeinsamer Bundesausschuss (18.12.2012): BSG-Urteil zur Mindestmenge für die Versorgung von Früh- und Neugeborenen: Eine Entscheidung mit Licht und Schatten. Pressemitteilung.

[IV] Heller G et al. (2020): Wie hoch ist die optimale Mindestmenge für die Behandlung Frühgeborener mit einem Geburtsgewicht unter 1250 g in Deutschland? Z Geburtshilfe Neonatol. DOI: 10.1055/a-1259-2689.

[V] Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (15.12.2020): Folgenabschätzungen zu Mindestmengen Früh- und Neugeborene mit einem Aufnahmegewicht von < 1.250g.

[VI] Deutsches Ärzteblatt (20.07.2023): G-BA lehnt Antrag der Länder zum Aussetzen der Mindestmengen bei Frühchen ab. Presseartikel.