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18.10.2022

COVID-19, Personalmangel, Energiekrise – Deutschlands Kliniken vor dem Winter

     

  • steigende Patientenzahlen, Personalausfälle und hohe Energiekosten belasten die Kliniken
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  • die Bundesregierung verspricht nun rasche Hilfen, plant aber gleichzeitig die angestrebte Reform der Krankenhauslandschaft
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  • Kliniker und Gesundheitsökonomen über die derzeitige Lage und mögliche kurzfristige Auswege
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Die Situation in Deutschlands Kliniken wird durch zunehmende Infektionszahlen, fehlendes Personal und wachsende Energiekosten immer prekärer. Die Inzidenzen liegen in einigen Regionen bereits wieder über der 1000er-Marke, etwa in Bayern und Hessen. Die Normal- und Intensivstationen füllen sich erneut – mit COVID-19-Patientinnen und -Patienten, aber auch mit Betroffenen anderer Atemwegsinfektionen. Viele Kliniken beklagen zahlreiche Krankmeldungen beim medizinischen Personal, mehrere Hundert Betten müssen deshalb abgemeldet und Operationen abermals verschoben werden.

Die Energiekrise aufgrund des Kriegs in der Ukraine treibt zudem die Preise für Strom und Gas. Im Gegensatz zu Unternehmen in der freien Wirtschaft können die Kliniken steigende Kosten aber nicht einfach durch Preiserhöhungen an die Patienten weitergeben, denn für die Finanzierung von Gesundheitsleistungen sind nicht die Krankenhäuser, sondern die Krankenkassen zuständig. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek und der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, warnten wegen der wirtschaftlichen Schieflage zuletzt eindringlich vor Insolvenzen und Evakuierungen. Zudem scheint sich in der Kliniklobby auch die Sorge breitzumachen, der Bund könnte die Misere eine Weile laufen lassen, um die gewünschte Marktbereinigung früher zu erzwingen – ein großes Reformprojekt der aktuellen Regierung ist die Neustrukturierung der Krankenhauslandschaft hin zu weniger Kliniken mit mehr Spezialisierung.

Im „Morgenmagazin“ des ZDF versprach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Dienstagmorgen den Kliniken nun eine baldige Entlastung. Ziel sei es zum Beispiel, alle dafür geeigneten Behandlungen als Tagesbehandlung durchführen zu können. So würden Nachtdienste wegfallen und Pflegekräfte entlastet, betonte er. Die Idee, auf mehr Tagesbehandlungen zu setzen, stammt von Lauterbachs im Mai eingerichteten Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung [I]. Lauterbach verhandelt heute zudem mit Finanzminister Christian Lindner über neue Staatshilfen für die Häuser.

Wie es um Deutschlands Kliniken derzeit bestellt ist, welche möglichen Auswege sich kurzfristig auftun und ob trotz eines drohenden schwierigen Winters bereits die geplante Reform der Klinikstrukturen in Gang gebracht werden könnte, hat das SMC Expertinnen und Experten gefragt.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, und Mitglied des Fachbeirates des Bundesgesundheitsministeriums sowie derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
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  • Dr. Cihan Çelik, Leiter der Sektion Pneumologie, Medizinische Klinik II – Gastroenterologie, Hepatopankreatologie, Endokrinologie und Pneumologie, Klinikum Darmstadt
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  • Prof. Dr. Peter Galle, Direktor der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik und Leiter der COVID-19-Station, Universitätsmedizin Mainz
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Statements

Prof. Dr. Reinhard Busse

Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, und Mitglied des Fachbeirates des Bundesgesundheitsministeriums sowie derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung

Auf die Frage, wie die wirtschaftliche Lage der Kliniken vor dem nahenden COVID-19-Winter insbesondere mit Blick auf die Energiekrise zu bewerten ist:
„Die wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser ist zugegebenermaßen schlecht, da Einnahmen und Kosten auseinandergelaufen sind. Die Krankenhäuser weisen insbesondere auf die Energiekosten hin; laut ,Kostennachweis der Krankenhäuser‘ des Statistischen Bundesamts betrugen die Kosten für „Wasser, Energie und Brennstoffe“ im Jahr 2020 insgesamt 2,056 Milliarden Euro. Dies waren weniger als fünf Prozent der Sachkosten und etwa 1,7 Prozent der Gesamtkosten – oder, pro Bett gerechnet, rund 4000 Euro im Jahr beziehungsweise elf Euro am Tag. Allerdings waren nur rund zwei Drittel der Betten belegt, sodass die Kosten pro belegtem Bett pro Tag bei rund 17 Euro lagen. Dass nur zwei Drittel der Betten belegt waren und immer noch sind, ist das größere Dilemma der Krankenhäuser. Ihre Kosten entstehen für 500.000 Betten, während die Einnahmen nur über 350.000 belegte Betten erfolgen. Der Rückgang der Patientenfälle und der Bettentage ist so groß, dass 700 Akutkrankenhäuser – alle Kliniken bis maximal 200 Betten – geschlossen werden müssten, damit die anderen 700 wieder so voll wären wie 2019. Das zeigt die Größenordnung der Misere auf. Die Auswirkungen des Fallzahlrückgangs um 13 Prozent sind für die Krankenhäuser fast achtfach so groß wie eine Verdoppelung der Energiekosten mit 1,7 Prozent.“

Auf die Fragen, ob es weiterer kurzfristiger (finanzieller) Unterstützung für die Kliniken bedarf und wenn ja in welcher Form:
„Als die Betten noch voll waren, waren die DRGs (diagnosebezogende Fallgruppen, Anm. d. Red.) aus Sicht der Krankenhäuser eine adäquate Einnahmequelle. Seit 2020 hat sich dieser Blick gewandelt: An Stelle der leeren Betten sind andere Einnahmen wichtiger geworden. So hat das Bundesamt für Soziale Sicherung für den Zeitraum März 2020 bis Juni 2022 den Krankenhäusern insgesamt 22,16 Milliarden Euro als ,Freihaltepauschalen‘, Versorgungsaufschlag und für zusätzliche Intensivbetten zukommen lassen, ohne dass eine dringend notwendige Krankenhausstrukturreform auch nur einen Meter vorangekommen ist. Das waren rund 44.000 Euro pro Bett über den Gesamtzeitraum oder umgerechnet über 50 Euro pro Bett und Tag. Das hat Begehrlichkeiten geschaffen, die sich jetzt in entsprechenden Forderungen niederschlagen.“

„Aus meiner Sicht muss jede weitere finanzielle Unterstützung auf jeden Fall an die Umsetzung von Reformen gekoppelt werden, etwa indem über alle Krankenhäuser hinweg je x Euro Unterstützung y Betten dauerhaft abgebaut werden müssen. Viele Betten existieren gegebenenfalls schon gar nicht mehr beziehungsweise sind nicht mit Personal ausgestattet. So zeigt der Pandemieradar des Robert-Koch-Instituts, dass – allerdings in einer Stichprobe freiwillig meldender Krankenhäuser – rund 80 Prozent der ,betreibbaren Betten auf Normalstationen‘ belegt sind. Bringt man das in Beziehung zu den rund zwei Drittel, die sich für die aufgestellten Betten ergeben, zeigt sich, dass – die Repräsentativität der meldenden Krankenhäuser vorausgesetzt – anscheinend 15 Prozent der Betten sowieso nicht mehr betrieben werden. Solch ein ,Abbau‘ um rund 70.000 Betten entspricht übrigens rechnerisch exakt der offiziellen Kapazität der 700 Akutkrankenhäuser bis 200 Betten. Wenn die Betten ,offiziell‘ abgebaut wären, ergeben sich auch neue – deutlich bessere – Zahlen zur Personalausstattung pro Patienten.“

Auf die Frage, welche Stellschrauben man jetzt in solch einem drohenden schwierigen Winter bereits drehen könnte, um die geplante und notwendige Reform der Klinikstrukturen in Gang zu bringen (weniger Kliniken, mehr Spezialisierung):
„Ganz klar: Jedes Krankenhaus sollte nur die Leistungen erbringen dürfen, für die es personell und technisch adäquat ausgestattet ist. Offiziell und flächendeckend dürfte das erst mit Einführung der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Versorgungsstufen und Leistungsgruppen gelten. Jedoch könnte für Krankenhäuser, die finanzielle Unterstützung erhalten, ab sofort gelten: Keine Abrechnung von Herzinfarktpatienten ohne Linksherzkathetermessplatz, von Schlaganfallbehandlungen ohne Stroke Unit, und von Krebsfällen, wenn es im Haus kein zertifiziertes Zentrum für die jeweilige Krebsart gibt.“

Dr. Cihan Çelik

Leiter der Sektion Pneumologie, Medizinische Klinik II – Gastroenterologie, Hepatopankreatologie, Endokrinologie und Pneumologie, Klinikum Darmstadt

„Aktuell ist bei uns vor allem die Pflege durch Krankheitsfälle beim Personal ausgedünnt. Sowohl COVID als auch andere Atemwegsinfektionen treiben derzeit die Anzahl der Ausfälle nach oben. Im Falle von COVID fallen die Mitarbeitenden dabei ein paar Tage länger aus als bei der gewöhnlichen Erkältung. Genaue Zahlen kann ich Ihnen aus meiner Warte nicht nennen, es schränkt aber den Betrieb erheblich ein. Konkrete Daten haben die Pflegedirektionen und Personalabteilungen.“

„Jede Welle ist anders, da auch andere Schutzmaßnahmen gelten. Derzeit erleben wir eine hohe Dunkelziffer, die die Inzidenz nicht wiedergibt und unser Personal steckt sich im Privatleben an. Nicht im Krankenhaus, wo Maskenpflicht gilt. Wir rechnen damit, dass sich ein Viertel bis ein Drittel im Laufe des Herbst/Winters infizieren wird.“

„Es ist nicht nur das Personal, das die angespannte Lage hervorruft. Tatsächlich nehmen wir derzeit sehr viele Patienten auf, die ohne COVID-Infektion nicht ins Krankenhaus müssten. Wir sind gerade im steilen Anstieg der Infektionen, irgendwann ist mit einem Rückgang zu rechnen. Ich kann es aber nicht absehen, wie hoch es noch steigen wird. Unser Personal ist davon genauso betroffen wie die Normalbevölkerung.“

„Vor circa drei Wochen hatten wir noch 21 COVID-Patienten im Haus. Heute sind es 119. Bei mehr als der Hälfte dieser Aufnahmen ist COVID ein mitverursachender Faktor, der diese Patienten krankenhauspflichtig gemacht hat. Das sind die zusätzlichen Aufnahmen, die COVID gerade verursacht. Die Welle spielt sich zum Großteil auf der Normalstation ab, da auch ältere Patienten mit Impfung gut vor schweren Verläufen geschützt sind. 90 Prozent der Fälle sind auf der Normalstation.“

Auf die Frage, inwieweit der von der neuen Regierungskommission vorgeschlagene Ausbau der Tagesbehandlung zu einer kurzfristigen Entlastung der Kliniken führen könnte:
„Das sind strukturelle Änderungen, deren Wirkung uns in einer akuten Welle nicht helfen werden, aber für die Zukunft sicher wichtig werden.“

Auf die Frage nach weiteren pragmatischen Maßnahmen, die schnell Entlastung bringen könnten:
„Wir sind dran, leider haben diese auch einen Preis. Wir ändern unsere Verfahrensanweisungen so, dass nun jede Abteilung bei der COVID-Betreuung mehr als bisher mitbetreuen muss. Die schiere Zahl der Fälle bringt uns dazu, dass auch chirurgische Abteilungen COVID-Patienten mit Symptomatik behandeln müssen. Wir als Internisten helfen bei der Therapieentscheidung. Unsere planbaren Untersuchungen haben wir als Abteilung vollständig abgesagt, das wird jetzt auch auf die anderen Abteilungen zukommen. Operationssäle müssen geschlossen werden, die Versorgungsqualität im Nicht-COVID-Bereich wird enorm leiden.“

Auf die Frage, welche Stellschrauben man jetzt in solch einem drohenden schwierigen Winter bereits drehen könnte, um die geplante und notwendige Reform der Klinikstrukturen in Gang zu bringen (weniger Kliniken, mehr Spezialisierung):
„Interessanterweise hat COVID-19 zwar die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, aber es ist eine schon sehr bekannte Erkenntnis, die zum Nachteil der kleineren Häuser ist. Was wir derzeit merken, ist, dass wir mit den sehr knappen Ressourcen in der Pflege nicht effektiv umgehen. Auf der einen Seite würde die Schließung von nicht-spezialisierten kleineren Kliniken dazu führen, dass mehr Pflege für die Maximalversorger und Zentren zur Verfügung steht, die in Deutschland Garant für medizinische Versorgungsqualität sind. Auf der anderen Seite ist es natürlich oft nicht der Wunsch der Bevölkerung, dass Krankenhäuser außerhalb der Ballungsgebiete schließen und die Wege länger werden. Außerdem hat sich unser System durchaus auch während der Pandemie bewährt. Wir haben als koordinierendes Krankenhaus leichtere COVID-Fälle zuverlässig in kleinere Kliniken verlegt. In der Hochphase der Pandemie wäre ohne die Hilfe und den Zugriff auf diese zusätzlichen Betten keine Versorgung mehr möglich gewesen.“

Prof. Dr. Peter Galle

Direktor der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik und Leiter der COVID-19-Station, Universitätsmedizin Mainz

„Aktuell beträgt der mittlere Krankenstand bei uns an der Universitätsmedizin Mainz rund 17 Prozent. Die Mitarbeitenden fallen in der Regel etwa ein bis zwei Wochen aus. In einer Infektionswelle können in einzelnen Bereichen der Universitätsmedizin Mainz möglicherweise bis zu 25 Prozent der Belegschaft erkranken. Wir gehen davon aus, dass unsere Personallage vermutlich noch bis April angespannt bleibt.“

„An der Universitätsmedizin Mainz werden aktuell 78 Patient:innen mit einer SARS-CoV-2-Infektion stationär behandelt, davon liegen neun Patienten auf der Intensivstation (Stand 17.10.2022). Der von der Regierungskommission vorgeschlagene Ausbau der Tagesbehandlung würde an der Universitätsmedizin Mainz keine Entlastung bringen, da die Herausforderung bei der Behandlung von stationären Patient:innen liegt, insbesondere die hochbetagten und schwer pflegebedürftigen Personen. Stattdessen könnte eine kurzfristige Entlastung der Klinik erreicht werden, wenn COVID-19-Tests nur noch anlassbezogen durchgeführt werden würden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung (22.09.2022): Tagesbehandlung im Krankenhaus zur kurzfristigen Entlastung der Krankenhäuser und des Gesundheitswesens. Stellungnahme.