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09.04.2020

Alternative Medien auf Facebook im Kontext von COVID-19

Sogenannte „alternative Nachrichtenmedien“ deutscher Websites haben auf Facebook im Zuge der COVID-19 Pandemie nicht so sehr offenkundige Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, als vielmehr scharf oppositionelle und systemkritische Positionen sowie populistische Darstellungen verbreitet. Zu diesem Schluss kommt ein auf dem Preprint Server arXiv veröffentlichtes – also noch keinem Peer-Review unterzogenes – White Paper von vier Kommunikationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftern um Thorsten Quandt von der Universität Münster.

Für die Studie haben sie knapp 120.000 Facebook-Beiträge aus dem Zeitraum vom 7. Januar bis zum 22. März erhoben, 15.000 stammten von 32 alternativen Nachrichtenmedien. Diese wurden definiert als Online-Medienangebote, die sich als Gegenstimme zu klassischen Medien inszenieren und alternative und systemkritische Stimmen zu Wort kommen lassen. Ungefähr 20.000 aller erfassten Posts befassten sich mit COVID-19, circa 2.500 davon von alternativen Medien. Die Autoren haben anhand dieser Posts die Reichweite alternativer Medienangebote untersucht, außerdem haben sie die behandelten Themen, oft erwähnte oder thematisierte Akteure sowie die Frage analysiert, ob Falschnachrichten oder Verschwörungstheorien verbreitet wurden.

Der Analyse zufolge tragen die alternativen Nachrichtenmedien zur momentanen Unsicherheit in der Bevölkerung bei, auch wenn sie nicht primär offenkundige Lügen oder Falschinformationen verbreiten. In den meisten Fällen haben die untersuchten Medien eher bestimmte, bereits im Publikum vorhandene Meinungen unterstützt.

Gering war zwar ebenfalls der Anteil an Beiträgen mit Verschwörungstheorien, diese wurden aber prominent präsentiert und von Anhängern solcher Theorien auf anderen Kanälen weiterverbreitet, etwa auf YouTube.

Die Autoren betonen die Begrenztheit dieser Studie. So wurden nur Beiträge auf Facebook betrachtet, außerdem nur solche alternativen Medien, die sich auf Deutschland beziehen, und es wurde nur ein kurzer Zeitraum analysiert.

Das Autorenteam plant, in einigen Wochen eine zweite Studie zu veröffentlichen, in der die Facebook-Beiträge der Massenmedien analysiert werden. Die beiden Studien sollen dann kombiniert bei einem Journal zum Peer-Review eingereicht werden.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Mike S. Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) und Leiter des Kompetenzzentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (CHESS), Universität Zürich, Schweiz
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  • Prof. Dr. Markus Lehmkuhl, Professor für Wissenschaftskommunikation in digitalen Medien, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
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  • Dr. Jan-Hinrik Schmidt, Senior Researcher für Digitale Interaktive Medien und Politische Kommunikation, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), Hamburg
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  • Dr. Philipp Müller, Akademischer Rat, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Mannhein
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  • Dr. Joachim Allgaier, Senior Researcher, Lehrstuhl für Technik und Gesellschaft, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH)
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Statements

Prof. Dr. Mike S. Schäfer

Leiter des Kompetenzzentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (CHESS), Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ), Universität Zürich, Schweiz

„Zum Kontext der Studie: Es handelt sich um ein sehr gutes AutorInnenteam von einem der renommiertesten kommunikationswissenschaftlichen Institute Deutschlands, das viel Erfahrung hat mit computer-gestützten Methoden und automatisierten Inhaltsanalysen, wie sie hier zum Einsatz kommen.“

„Der Text ist ein ‚White Paper‘, das von den AutorInnen selbst im Repositorium ‚arXiv‘ hochgeladen wurde. Das heißt, er ist noch nicht von FachkollegInnen begutachtet, gut geheißen und zur Veröffentlichung angenommen worden – dieses ‚Gütesiegel‘ fehlt. Die AutorInnen haben aber die verwendeten Codes und einige Daten öffentlich gemacht.“

„Die Studie untersucht, so die AutorInnen, die Informations-Pandemie, die die eigentliche Covid19-Pandemie begleitet: die Verbreitung von Falschnachrichten in Social Media. Untersucht werden Facebook-Posts von 32 ‚alternativen Medien‘. Das sind Medien, die das Ziel verfolgen, traditionelle oder ‚Mainstream‘-Medien zu korrigieren. Beispiele sind ‚Russia Today‘, ‚Tichys Einblick‘ oder die ‚Junge Freiheit‘. Gefunden wurden 2.446 Corona-bezogene Posts dieser Medien zwischen Januar und März 2020, die mit 18.000 Posts von ‚Mainstream‘-Medien verglichen wurden.“

„Mit einer computergestützten Inhaltsanalyse wurde erfasst, welche Reichweite die Posts haben, welche Themen sie ansprechen, welche Akteure erwähnt werden und ob sie Falschnachrichten (Fake News) oder Verschwörungstheorien enthalten.“

„Die eingesetzten Methoden sind nicht übermäßig innovativ, aber im Fach etabliert und werden kompetent angewandt: unter anderem Web-Crawling für die Erhebung der Posts, ‚Topic Modelling‘ zur Beschreibung der Themen oder ‚Named Entity Recognition‘ zur Identifikation der Akteure. Insgesamt werden diese computergestützten Methoden vor allem eingesetzt, um Interaktionen, Themen und Akteure auf Facebook zu strukturieren. Darüber hinaus liefern die AutorInnen dann vor allem qualitative Einschätzungen – zum Beispiel zu den Unterschieden von ‚alternativen‘ und ‚Mainstream‘-Medien – ohne formale (Signifikanz-)Tests dieser Unterschiede.“

„Falschnachrichten zu erkennen ist nie einfach. Die Lösung der AutorInnen: Sie suchen nach Wörtern, die in Zusammenhang zu bestimmten ‚Narrativen‘ auf Factchecking-Seiten vorkommen, in den Texten der ‚Mainstream‘-Medien und ‚alternativen‘ Medien. Das ist machbar, bringt aber zwei Herausforderungen mit sich: Einerseits werden so Falschinformationen nur dann erkannt, wenn sie auf Factchecking-Seiten schon behandelt worden sind. Andererseits wird so nur erfasst, ob Texte Falschnachrichten grundsätzlich thematisieren – aber nicht, ob sie diese auch inhaltlich übernehmen oder unkritisch verbreiten.“

„Die Studie zeigt, entgegen vielen öffentlich geäußerten Befürchtungen, keine dramatischen Befunde: ‚Alternative Medien‘ posten auf Facebook deutlich seltener zu Corona als etablierte Medien. Ihre Posts lösen auch weniger User-Reaktionen aus, wenngleich der Unterschied zu den etablierten Medien diesbezüglich nicht so groß ist. ‚Alternative Medien‘ sind kritisch gegenüber Mainstream-Medien, je nach ideologischer Positionierung eher rechts oder eher links eingefärbt – das ist erwartbar. Wohl am interessantesten: Die AutorInnen finden so gut wie keine Falsch-Nachrichten oder Verschwörungstheorien in den Facebook-Posts der ‚alternativen Medien‘: Nur 1,1 Prozent aller gesammelten Posts fallen in diese Kategorien. Die AutorInnen resümieren entsprechend: ‚Our analysis does not reveal a notable amount of disinformation‘ (S. 17) beziehungsweise ‚The analysis did not uncover a large number of posts sharing ‚fake news‘‘ (S. 16).“

„Die Überschrift – ‚Pandemischer Populismus‘ – ist überspitzt. Im Text wird kein elaboriertes Populismus-Konzept eingeführt und die verwendeten Methoden sind nicht gut dafür geeignet, populistische Argumentationsmuster zu erfassen. Ob Kernmerkmale von Populismus in den Texten vorkommen, müsste man anders, zum Beispiel mit manuellen Inhaltsanalysen untersuchen und ist von anderen Teams auch anders gemacht worden. Die im vorliegenden Aufsatz verwendeten Methoden eignen sich eher dazu, wozu sie von den AutorInnen auch eingesetzt werden: zum Kartieren von allgemeinen Strukturen, Themen und Akteuren der Social Media-Kommunikation.“

Zur Frage, was man tun kann, um den Einfluss solcher alternativer Medien einzudämmen und ob man überhaupt etwas tun sollte:
„Drei Wege werden typischerweise diskutiert, wenn es darum geht, Falschinformationen, Verschwörungstheorien oder Ähnliches und ihre Anbieter einzudämmen: erstens politische Regulierung, ein Weg, der gerade in Deutschland mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz relativ rigide versucht wird. Zweitens ‚content moderation‘, also das Finden und Herausfiltern von problematischen Inhalten durch die Plattform-Anbieter selbst. Das geschieht entweder durch MitarbeiterInnen der Plattformen, die aber von der Menge der zu bearbeitenden Inhalte schnell überwältigt sind, durch Hinweise aus der Nutzer-Community, was aber zu hitzigen Debatten darüber führen kann, welche Inhalte denn nun wirklich stimmen, oder durch Algorithmen, die aber bislang noch recht grobe Instrumente sind – eher Äxte als Skalpelle. Ein dritter Weg ist eine stärkere Bildung der NutzerInnen und die Entwicklung von Medien-, Plattform- und Algorithmus-Kompetenz auf User-Seite, um problematische Inhalte zu erkennen oder mindestens zu wissen, wo man die Verlässlichkeit von Inhalten prüfen kann.“

Prof. Dr. Markus Lehmkuhl

Professor für Wissenschaftskommunikation in digitalen Medien, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

„Die Kernbotschaft der Studie lese ich so, dass die sogenannten alternativen Medien bei Corona das machen, was sie auch bei anderen Themen machen. Sie vermengen objektive Fakten mit nicht prüfbaren Interpretationen in einer Weise, dass ein bestimmtes Weltbild bestätigt wird. Dieses Ergebnis ist aus meiner Sicht nicht überraschend, sondern sehr plausibel. Hinzuweisen ist aber darauf, dass es in der Studie zwar um Tendenzen der Berichterstattung geht, diese Tendenzen selbst wurden aber nicht ‚gemessen‘. Identifiziert wurden empirisch nur die Themen, aber keine höher auflösenden Variablen wie etwa Frames oder Tendenzen.“

Zur Frage, wie der Einfluss solcher alternativer Medien auf journalistische Massenmedien zu beurteilen ist:
„Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass der Einfluss von alternativen Medien auf den traditionellen Journalismus klein ist. Diese Angebote schaffen eigene Öffentlichkeiten, die sich an den Darstellungen der so genannten Mainstream Medien abarbeiten. Insofern brauchen alternative Medien die traditionellen, umgekehrt gilt das sicher nicht.“

Zur Frage, was man tun kann, um den Einfluss solcher alternativer Medien einzudämmen und ob man überhaupt etwas tun sollte:
„Solange sich diese Medien an Recht und Gesetz halten, sehe ich keinen Grund, sie einzudämmen. Mir scheint eher die Frage relevant, wie man den professionellen Journalismus stärken kann.“

Dr. Jan-Hinrik Schmidt

Senior Researcher für Digitale Interaktive Medien und Politische Kommunikation, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), Hamburg

Zur Einschätzung der Studie:
„Die Studie ist ein interessanter, fundierter und relevanter Beitrag zur (sozial-)wissenschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Debatte rund um die COVID-19-Pandemie. Sie ist methodisch sauber durchgeführt (Hinweis: Mangels tiefergehender Kenntnisse kann ich das Vorgehen beim Topic Modelling sowie der co-occurrence-Analyse allerdings nicht im Detail beurteilen), transparent dokumentiert und offen im Umgang mit den Grenzen der eigenen Befunde. Sie hilft uns dabei, die Bedeutung sowie die kommunikativen Mechanismen von ‚Alternativmedien‘, die sich der digitalen Medien und insbesondere Facebook bedienen, besser zu verstehen. Der Erklärungswert der Studie wird noch steigen, wenn weitere Analysen die hier betriebenen Analysen für weitere Zeiträume, andere Plattformen oder auch andere Länder vergleichend bewerten lassen.“

Zum Stellenwert von Alternativmedien im Allgemeinen:
„Paradoxerweise sind die alternativen Medienangebote, die im Mittelpunkt des Arbeitspapiers stehen, mittlerweile selbst etablierter Bestandteil digitaler Öffentlichkeit. Dort hat der professionell-redaktionell organisierte Journalismus seine unangefochtene Position als ‚Gatekeeper‘, der den Zugang zu Öffentlichkeit über die Auswahl und Prüfung von Informationen reguliert, eingebüßt. Alternativmedien profitieren davon, dass die Hürden deutlich gesunken sind, Informationen aller Art zur Verfügung zu stellen und zu verbreiten. Das allein garantiert ihnen zwar noch keine Reichweite, aber die Mechanismen der (oft algorithmisch) personalisierten Informationsfilterung sorgen dafür, dass ihre Angebote in teils sehr eng umgrenzten Interessensgruppen oder ‚alternativen epistemischen Gemeinschaften‘ – etwa unter Anhängern von Verschwörungstheorien – zirkulieren können. Zudem bieten die digitalen Medien die Möglichkeit, dass sich auch die vergleichsweise kleine Publika über zielgruppenspezifische Werbung monetarisieren lassen und somit eine ökonomische Grundlage für solche Nischenprodukte existiert.“

Zur Bedeutung von Alternativmedien für die Meinungsbildung in der Pandemie:
„Das Working Paper hilft uns, die Bedeutung von Alternativmedien für die Meinungsbildung während und zu der COVID-19-Pandemie zu verstehen. Dazu ist einschränkend vorauszuschicken, dass die Studie nicht Meinungsbildung an sich untersucht hat, denn sie hat keine Einstellungen oder Haltungen der Menschen zu den derzeitigen Entwicklungen oder anstehenden Entscheidungen erfragt. Allerdings nimmt sie eine wesentliche Voraussetzung dafür in den Blick: Die öffentliche Kommunikation von Informationen und Themen zu COVID-19 und den Konsequenzen. Hierzu erlaubt die Studie einige Schlussfolgerungen:“

„1. Die Studie ordnet den Stellenwert alternativer Medien (im Beobachtungszeitraum, auf Facebook) ein – etablierte journalistische Angebote wiesen demnach absolut wie auch im Durchschnitt einzelner Seiten beziehungsweise Beiträge eine höhere Reichweite auf (einzig bei der durchschnittlichen Zahl der Weiterleitungen pro Beitrag lagen alternative Medien gleichauf).“

„2. Der Befund, dass die Alternativmedien (im Beobachtungszeitraum, auf Facebook) nahezu keine ‚fake news‘ – verstanden als ‚totally of partially fabricated news items‘ (S. 16) – zu Corona verbreiteten, mag auf den ersten Blick beruhigen. Doch dies heißt nicht, dass solche bewusst in Umlauf gebrauchte Desinformation nicht an anderen Stellen auf Facebook oder auch in anderen sozialen Medien zirkuliert, wie etwa eine aktuelle Analyse eines Wissenschaftler-Teams aus Oxford [1] oder auch die stetig anwachsenden Sammlungen entsprechender ‚Fact Checks‘ von Redaktionen wie Correctiv oder dem ‚Faktenfinder‘ der Tagesschau zeigen.“

„Und zudem: Auch wenn explizite Desinformation nur einen kleinen Anteil der Berichterstattung bei Alternativmedien einnimmt, kann sie von dort aus in einem ‚secondary distribution system‘ (S. 16) kursieren und weitere Kreise ziehen (diese Beobachtung steht nicht im Fokus der empirischen Analyse, wird aber am Ende angesprochen). Denn wenn zum Beispiel verschwörungstheorie-nahe Influencer auf YouTube oder populistische Politiker*innen entsprechende Meldungen aufgreifen und an ihr eigenes Publikum verbreiten, werden sie dort in der Regel nicht mehr hinterfragt.“

„3. Die Studie verdeutlicht die spezifischen publizistischen Mechanismen der Alternativmedien: Sie betten in ihrer Berichterstattung Aspekte der Pandemie in ‚alternative Erzählungen‘, indem sie Informationen aufgreifen und Akteure zu Wort kommen lassen, die nicht durch den Filter der etablierten Medien gelangen. So können sich die Alternativmedien als kritische Gegenstimme zum vermeintlichen ‚Mainstream‘ inszenieren: ‚These outlets are (...) characterized by commenting and criticizing the orthodox, majority perspective (…). In some ways, alternative news media function much like a photo negative of what and how the large mainstream media reports on: the outlines are the same, but they are mirrored with reversed colors‘ (S. 17).“

Zu problematischen Aspekten von Alternativmedien in der Pandemie:
„Die publizistische Strategie, sich auf Themen und Ansichten zu konzentrieren, die der etablierte Journalismus nicht behandelt, ist nicht per se problematisch, trägt sie doch – grundsätzlich gesprochen – dazu bei, die Vielfalt verfügbarer Informationen, Stimmen und Deutungsangebote zu erhöhen. Doch zwei Entwicklungen sind gerade im Kontext der COVID-19-Pandemie bedenklich: Erstens lässt sich beobachten, dass alternative Medienangebote auch solche Informationen verbreiten, die nicht durch wissenschaftliche Forschung gestützt sind. Dies kann Zweifel und Verwirrung unter den Menschen fördern, im schlimmsten Fall sogar zu gesundheitlichen Schäden führen – etwa, wenn ohne medizinische Evidenz gemutmaßt wird, ein Malaria-Medikament könne die Viruserkrankung lindern.“

„Und zweitens, so auch eine der wesentlichen Schlussfolgerungen des Working Paper, sind die einzelnen Meldungen der Alternativmedien meist im Kontext übergeordneter populistischer Deutungsrahmen (‚Frames‘) und Weltbilder zu sehen. Die Pandemie wird etwa ‚durch die Brille‘ der Flüchtlingsdebatte gedeutet, als weiterer Beleg für ein vermeintliches Versagen der politischen Eliten herangezogen, oder dazu benutzt, um die eingeübte Abwertung des Aktivismus gegen den Klimawandel fortzusetzen. In Summe bestärken die Alternativmedien damit politische und gesellschaftliche Strömungen, die eine ‚Vielfalt von Sichtweisen‘ und ‚Alternativen‘ letztlich nur als rhetorische Strategie verwenden, tatsächlich aber liberale, offene Gesellschaften und einen faktenbasierten Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit bekämpfen wollen.“

Dr. Philipp Müller

Akademischer Rat, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Mannheim

Zur Frage, wie die Studie methodisch zu beurteilen ist und ob die Befunde überraschend sind:
„Ich kann vor dem Autor*innenteam nur den Hut ziehen. Hier wurde innerhalb kürzester Zeit ein aufwendiges und methodisch einwandfreies Forschungsdesign umgesetzt, das sehr gut dazu geeignet ist, den Diskurs zum Themenkomplex Coronavirus in deutschen Alternativmedien zu erhellen. Da insgesamt bisher noch relativ wenige systematische Untersuchungen zu den Inhalten populismusaffiner Alternativmedien in Deutschland vorliegen, leistet die Studie durchaus einen wichtigen Beitrag zu diesem Forschungsfeld, der über die aktuelle Relevanz des Anlasses ‚Coronavirus‘ hinausgeht.“

„Eine der wesentlichen Erkenntnisse ist, dass sich Alternativmedien in ihrer Berichterstattung an der Themensetzung traditioneller Nachrichtenmedien anlehnen und die Themen vor allem anders aufbereiten und deuten, mit einem stärkeren Fokus auf populistischer Elitenkritik, die einen Drall in Richtung Verschwörungstheorien aufweist. Hingegen finden die Autor*innen kaum Belege für die Verbreitung sogenannte ‚Fake News‘, also vollständig erfundener Falschmeldungen.“

„Hier argumentieren sie jedoch aus meiner Sicht gegen eine Strohmann-Figur. Der bisherige Forschungsstand zur Verbreitung von ‚Fake News‘ in Deutschland und auch ein explorativer Blick auf deutsche Alternativmedien im Internet geben es aus meiner Sicht nicht her, auf diesen Seiten die Verbreitung von ‚Fake News‘ im großen Stil zu erwarten. Bisherige Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass das Phänomen ‚Fake News‘ in Deutschland insgesamt nicht besonders stark ausgeprägt ist. Und wenn sich einzelne Beispiele für ‚Fake News‘ finden, dann kommen diese nicht von den hier untersuchten, inhaltlich zwar oft verzerrenden, aber letztlich doch kontinuierlich redaktionell arbeitenden Alternativmedien, sondern von Quellen, die die Existenz eines dauerhaften journalistischen Angebots nur simulieren. Daher erscheint es mir wenig überraschend, dass sich auf den untersuchten Seiten kaum ‚Fake News‘ im eigentlichen Sinne finden.“

Zur Frage, wie der Einfluss solcher alternativer Medien auf die öffentliche Meinung zu beurteilen ist:
„Nach allem, was wir bisher wissen, sind populismusaffine Alternativmedien im Internet ein wichtiger Baustein beim Erfolg des politischen (Rechts-)Populismus in den vergangenen Jahren. Sie verbreiten das populistische Narrativ von der Auflehnung des Volkes gegen eine korrupte Elite, das auch rechtspopulistische Parteien wie die AfD oft bemühen. Da es sich um journalistische Angebote und nicht um offizielle Parteiorgane handelt, verleihen sie dem rechtspopulistischen Narrativ zusätzliche Legitimation. Denn sie treten ganz im Sinne des journalistischen Rollenselbstverständnisses als unabhängige Akteure auf. Dafür ist es natürlich wichtig, dass sie ihre journalistische Vertrauenswürdigkeit, die sie zumindest für das entsprechende Publikum besitzen, nicht untergraben. Die Verbreitung allzu plumper Falschmeldungen könnte für diese wichtige Rolle bei der Verbreitung populistischer Ideen also sehr schädlich sein.“

„Die Corona-Pandemie ist jedoch, zumindest in Deutschland, nicht die Stunde des Rechtspopulismus. Dies sehen wir sehr deutlich an den abnehmenden Umfragewerten der AfD. In einer weltweiten gesundheitlichen Bedrohungslage suchen die Menschen (zunächst) Halt und Orientierung in etablierten gesellschaftlichen Institutionen. Wie derzeit die Beliebtheit der Regierungsparteien steigt, so steigt in noch erheblicherem Maße auch die Nutzung traditioneller Nachrichtenquellen etablierter Anbieter. Daher dürfte die Nachfrage nach Alternativmedien, die populistische Verschwörungstheorien zur Pandemie verbreiten, eher gering sein und sich auf einen harten Kern rechtspopulistischer motivierter und überzeugt verschwörungstheoretischer Bürger*innen beschränken.“

„Anders als die Autor*innen der Studie würde ich daher das Wirkpotenzial populismusaffiner Alternativmedien in Zeiten der Corona-Pandemia als niedrig einschätzen und nicht von der Gefahr einer ‚pandemischen‘ Verbreitung verschwörungstheoretischer Deutungen der Pandemie sprechen wollen. Allerdings kann sich dies natürlich ändern, falls sich, aus welchen Gründen auch immer, ein Stimmungsumschwung in der Bewertung staatlichen Handelns durch die Bevölkerung ergeben sollte. Wir wissen aus empirischen Untersuchungen, dass Politik- und Medienvertrauen eng miteinander verknüpft sind. Wenn also das Vertrauen in das Regierungshandeln wieder stärker erodieren sollte, dürfte sich dies auch in der Informationsnutzung bemerkbar machen. Eine stärkere Zuwendung zu rechtspopulistischen Deutungsangeboten der Corona-Pandemie könnte die Folge sein. Derzeit sehe ich dies jedoch noch nicht.“

Dr. Joachim Allgaier

Senior Researcher, Lehrstuhl für Technik und Gesellschaft, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH)

Zur Frage, wie die Studie methodisch zu beurteilen ist und ob die Befunde überraschend sind:
„Ich begrüße die Studie sehr, wir brauchen die Erkenntnisse dringend, um die Informationslandschaft zum Thema Coronavirus/COVID-19 besser kartieren und verstehen zu können. Die AutorInnen haben im Manuskript selbst schon darauf hingewiesen, dass die Studie bislang lediglich einen Teilaspekt der aktuellen Informationslandschaft beleuchtet, nämlich die Social Media Plattform Facebook, innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums. Diese Erkenntnisse müssen nun zu weiteren Forschungsergebnissen in Beziehung gesetzt werden, die zum Beispiel weitere Social Media Plattformen, journalistische Kommunikation, fiktionale Formate, interpersonale Kommunikation und idealerweise auch Rezeption und Änderung von Verhaltensweisen betreffen. Ähnlich wie bei der Coronakrise selbst, stehen wir auch bei der Erforschung dieses Themas noch ziemlich am Anfang und benötigen noch einiges an Forschungsarbeit zum Thema, um zu einem umfassenden Bild zu gelangen.“

„Die Befunde wirken plausibel und insgesamt nicht sehr überraschend. Dass die sogenannten systemkritischen alternativen Medien die Coronakrise nutzen, um vor allem die Regierungsarbeit anzugreifen und Verwirrung zu stiften, war vergleichsweise absehbar. Dass von anderen Staaten als Propagandakanäle missbrauchte alternative Medien Verschwörungsmythen und Desinformation über andere Regierungen und Nationen verbreiten, wurde zudem auch gerade in einer britischen Studie dargelegt [2]. Auf den ersten Blick ist der Anteil an extrem verzerrten und falschen Informationen auf Facebook vergleichsweise gering. Das hat aber vor allem mit der Zusammensetzung der Stichprobe zu tun. Wie im Manuskript dargelegt, werden die extrem verzerrten und komplett erfundenen Informationen eher über anonymisierte oder auch ‚Fake‘ Profile oder Bots verbreitet, als über die offiziellen Profile.“

Zur Frage, wie der Einfluss solcher alternativer Medien auf die öffentliche Meinung zu beurteilen ist:
„Die direkte Reichweite ist vermutlich einigermaßen überschaubar, aber sobald man sich die vernetzten Versionen ansieht, entsteht ein anderes Bild. Bereits in der Studie wurde deutlich, dass einzelne Beiträge aus diesem Segment bereits sehr große Reichweite erzeugen können. Die Alternativmedien sind zudem untereinander sehr gut vernetzt, das heißt sie zitieren und bestärken sich gegenseitig und schaffen es so zum Teil, ein geschlossenes Weltbild innerhalb der eigenen Leserschaften zu erzeugen. Durch sehr professionelle und engagierte Arbeit in sozialen Medien werden zum Teil aber auch weitere Zielgruppen erreicht. Eine aktuelle Studie zur Verbreitung von Fehlinformation zu COVID-19 aus England hat zudem auf den zum Teil sehr großen Einfluss von einzelnen gut vernetzten Personen mit vielen Anhängern in den sozialen Medien, wie etwa Celebrities oder Politiker, hingewiesen [1]. Auch hier gibt es in Deutschland bereits einige Verbindungen zu den in der Studie genannten Alternativmedien. Zudem wissen wir praktisch gar nichts darüber, wie die Kommunikation und Vernetzung in geschlossenen Gruppenbeispielsweise auf Facebook oder in Messengerdiensten wie WhatsApp oder Telegram abläuft und welche Rolle die Alternativmedien hier spielen.“

Zur Frage, was man tun kann, um den Einfluss solcher alternativer Medien einzudämmen und ob man überhaupt etwas tun sollte:
„Grundgedanke einer Demokratie ist, dass darin Meinungsvielfalt herrscht, das ist eine ihrer großen Stärken. Dies sollte auch systemkritische Alternativmedien betreffen. Im Alltag wäre es jedoch sehr hilfreich, wenn die Bürgerschaft über die Ausrichtung der betreffenden Medien besser informiert wäre und diese in ihren Aussagen so besser einordnen könnte. Wenn zum Beispiel Beiträge aus den sogenannten Alternativmedien in WhatsApp oder anderen Gruppen für Eltern gepostet werden, um dort darauf hinzuweisen, dass man an sich gar nicht an die Verordnungen zum Infektionsschutz halten müsse und man die Kinder deshalb auf den Spielplatz gehen lassen könne, da es die betreffende Pandemie entweder gar nicht gäbe oder diese eben vollkommen ungefährlich sei, dann hilft es sehr zu wissen, dass es hier nicht um gesundheitliche Einordnungen geht, sondern vorrangig um Kritik am Vorgehen der Regierung. Ich denke hier steht tatsächlich auch die Zivilgesellschaft in der Pflicht sich verantwortungsvoller im Umgang mit Informationen zu verhalten. Denn eine aktuelle Studie aus England [3] verdeutlicht bereits, dass der Glaube an Verschwörungsmythen zu COVID-19 auch dazu führt, dass gesundheitliche Präventionsmaßnahmen weniger umgesetzt werden, die jedoch alle Bürgerinnen und Bürger betreffen.“

Zur Frage, was aktuelle Beispiele für Desinformation im Zuge der COVID-19 Pandemie sind, insbesondere auf YouTube:
„YouTube ist ein besonders populärer Kanal für Desinformation und insbesondere Verschwörungsmythen zu COVID-19. In einer aktuellen Studie des Reuters Institute [1] zu Fehlinformationen und Verschwörungsmythen um COVID-19 fanden sich am meisten unwidersprochene Fehlinformationen jedoch auf Twitter, gefolgt von YouTube und Facebook. In Deutschland hat es zum Beispiel große Aufmerksamkeit für die verzerrte Darstellung und Verharmlosung der Coronakrise von Wolfgang Wodarg geben, die sich insbesondere in den Abrufzahlen auf YouTube spiegelt. Den Auftakt dafür hat allerdings ein Beitrag in der ZDF Sendung Frontal21 gegeben [siehe etwa 4]. Die Reichweiten von Verschwörungsmythen auf YouTube sind hierbei zum Teil enorm. Ein deutsches Rechercheteam [5] hat beispielsweise gerade aufgezeigt, dass 19 besonders fragwürdige YouTube-Videos zu COVID-19 in den letzten sechs Wochen rund zwölf Millionen Mal angesehen wurden. In Großbritannien haben Verschwörungsmythen über einen angeblichen Zusammenhang von 5G und Corona-Pandemie dazu geführt, dass 5G Sendestationen in Brand gesetzt wurden [6] und YouTube möchte nun auch offiziell und aktiv die Verbreitung dieses Verschwörungsmythos eindämmen [6]. In den USA gibt es derzeit eine Verschwörungsbewegung, die unter dem Kürzel ‚Film your Hospital‘ zusammenkommt. Hier werden Videos von leeren Krankenhausfluren oder Parkplätzen ins Netz gestellt, die beweisen sollen, dass es in Wirklichkeit gar keine COVID-19 Pandemie und keine Toten gibt [7]. Dabei hätte YouTube meines Erachtens nach ein besonders großes Potenzial für die öffentliche Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation [8], das bislang jedoch noch nicht umfänglich genutzt wird. Eine erste Studie [9] zum Thema COVID-19 auf YouTube hat beispielsweise ergeben, dass von den hundert meistgesehenen Videos in der Studie weniger als ein Drittel empfohlene Präventionsmaßnahmen auch nur erwähnen. Nichtsdestotrotz ist YouTube insbesondere während der Coronakrise eine besonders wichtige Plattform. Im Zuge von Schulschließungen, Homeoffice und der Kontaktvermeidung spielt sie nicht nur bei jungen Menschen eine zentrale Rolle in der Informationssuche, Bildung und Unterhaltung. Dass es hier tatsächlich sehr hilfreich Angebote gibt, demonstrieren etwa das jüngste Video zur Coronakrise des YouTube-Kanals maiLab [10] oder der ausführliche Livestream zur Coronakrise des YouTube-Kanals Breaking Lab [11].“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Jan-Hinrik Schmidt: „Es bestehen keine Interessenkonflikte.“

Dr. Philipp Müller: „Es bestehen keinerlei Interessenkonflikte mit Blick auf die zu beurteilende Studie.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Boberg S et al. (2020): Pandemic Populism: Facebook Pages of Alternative News Media and the Corona Crisis – A Computational Content Analysis. ArXiv.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Brennen JS et al. (2020): Types, sources, and claims of COVID-19 misinformation. Reuters Institute for the Study of Journalism.

[2] Bright J et al. (2020): Coronavirus Coverage by State-Backed English-Language News Sources: Understanding Chinese, Iranian, Russian and Turkish Government Media. University of Oxford, Project on Computational Propaganda.

[3] Allington D et al. (2020): The relationship between conspiracy beliefs and compliance with public health guidance with regard to COVID-19. Centre for Countering Digital Hate.

[4] Tin Fischer auf Twitter.

[5] Basl C et al. (2020): Die gefährliche Macht der Corona-Mythen. Tagesschau.

[6] The Guardian (2020): YouTube moves to limit spread of false coronavirus 5G theory.

[7] Goforth C (2020): Conspiracy theorists are now filming hospitals to ‘prove’ coronavirus is a hoax. Daily Dot.

[8] Allgaier J (2018): Science and Medicine on YouTube. In: Hunsinger J et al.: Second International Handbook of Internet Research. DOI: 10.1007/978-94-024-1202-4_1-1.

[9] Basch CH et al. (2020): Preventive Behaviors Conveyed on YouTube to Mitigate Transmission of COVID-19: Cross-Sectional Study. JMIR Public Health Surveill 2020;6(2):e18807. DOI: 10.2196/18807.

[10] maiLab (2020): Corona geht gerade erst los. YouTube Video.

[11] Breaking Lab (2020): Wir gegen Corona - Deine Fragen an Jens Spahn & Co! LIVE! YouTube Video.