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08.05.2020

Umfrage und Expertenstatements: Wie arbeiten die Gesundheitsämter, um SARS-CoV-2 zu kontrollieren?

Die Länder haben Anfang Mai zum Teil weitreichende Lockerungen der Kontaktbeschränkungen beschlossen. Die meisten sollen schrittweise bis Ende Mai in Kraft treten. In vielen Ländern sollen wieder mehr Kinder zu Schule gehen, weitere Geschäfte und Restaurants, Musikschulen, Bibliotheken, Freibäder und Zoos öffnen, kleinere Veranstaltungen und Konzerte unter freiem Himmel erlaubt werden. Wo und wann welche Lockerungen in Kraft treten werden, liegt in der Verantwortung der Bundesländer. Eine Regel soll aber für alle gelten: Regionen, die mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Kalendertagen verzeichnen, sollen die strengeren Kontaktbeschränkungen wieder einführen.

Diese Strategie erfordert eine strikte lokale Kontrolle des Ausbruchsgeschehens. In den kommenden Wochen wird es wichtiger als zuvor sein, Infizierte rasch zu erkennen und ihre Kontaktpersonen aufzuspüren und zu isolieren, um eine überregionale Verbreitung zu verhindern.

Einen Großteil der Verantwortung dafür tragen die 375 deutschen Gesundheitsämter. In Zusammenarbeit mit der Badischen Zeitung, der Nürnberger Zeitung, der Rhein-Zeitung und der Stuttgarter Zeitung haben wir daher eine Stichprobe von 109 Gesundheitsämtern aus allen Bundesländern angeschrieben und gefragt: Welche Kontaktpersonen werden ermittelt? Wer wird getestet? Welche Personen werden isoliert, wie setzen die Ämter die sogenannte „gesundheitliche Überwachung“ um, und: Ist all das mit den vorhandenen Ressourcen überhaupt umsetzbar?

49 Gesundheitsämter haben unsere Fragen beantwortet. Die meisten anderen sagten aus Gründen der Überlastung ab. Die Auswertung der Antworten zeigt, dass die Gesundheitsämter die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts meistenteils umsetzen und in einigen Fällen sogar übererfüllen.

Experten zufolge könnten SARS-CoV-2-Infizierte dennoch unerkannt durch einige Löcher im Netz der Infektionskontrolle hindurchschlüpfen. Insgesamt entstehe der Eindruck, so Prof. Dr. Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, „dass die Gesundheitsämter sehr unterschiedlich gut aufgestellt sind, neu auftretende Infektionshäufungen rasch wieder einzudämmen. “ Vor allem die gesundheitliche Überwachung müsse verbessert werden.

Dieses „Investigative“ gibt Ihnen einen Überblick darüber, wie die Gesundheitsämter Kontaktpersonen-Ermittlung und gesundheitliche Überwachung umsetzen und wie sie ihre Ressourcen für diese Aufgaben einschätzen. Am Schluss dokumentieren wir, wie von uns befragte Experten die Ergebnisse einschätzen.

Dieses „SMC investigative“ finden Sie hier auch als pdf zum Herunterladen. 


Übersicht

     

  • Aufbau und Ablauf der Befragung
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  • Ergebnisse der Befragung
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  • Einschätzung der Ergebnisse von Experten
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  • Literaturstellen, die zitiert wurden
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Aufbau und Ablauf der Befragung

     

  • Die Befragung fand zwischen dem 17. April und dem 3. Mai statt und damit in jener Phase der starken Kontaktbeschränkungen, in der die Zahl der täglichen Neuinfektionen bereits zurück ging. Am 17. April hatte das Robert-Koch-Institut nur noch für rund 30 Kreise mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen ausgewiesen. 
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  • Es wurden 109 Ämter aus allen Bundesländern angefragt. Das Sample spiegelt einen Mix aus Städten und ländlichen Gebieten sowie aus stark von SARS-CoV-2 betroffenen und weniger stark betroffenen Gebieten wider. Wir erhielten 49 Antworten.
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  • Das Antwortverhalten war sehr unterschiedlich in den Bundesländern. Extrem mühsam war die Recherche in Bayern und Baden-Württemberg. Die Zusammenarbeit mit Regionaljournalisten hat vor allem in Baden-Württemberg geholfen. Die bayerischen Gesundheitsämter lehnen zurzeit fast grundsätzlich jede Anfrage ab und verweisen häufig auf das Gesundheitsministerium des Landes.
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  • Aus den einzelnen Bundesländern sind bis zum 03.05.2020 folgende Zahlen von Antwortbögen eingegangen:
    • Brandenburg: 1
    • Berlin: 1
    • Baden-Württemberg: 11
    • Bayern: 4
    • Hessen: 4
    • Mecklenburg-Vorpommern: 1
    • Niedersachsen: 5
    • Nordrhein-Westfalen: 13
    • Rheinland-Pfalz: 4
    • Saarland: 1
    • Sachsen: 2
    • Sachsen-Anhalt: 1
    • Thüringen: 1
    • Aus Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein gab es keine Rückmeldungen.
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  • Die Ämter erhielten jeweils neun Fragen. Die meisten beziehen sich auf die Handhabung der Kontaktpersonen-Ermittlung, Testung und Überwachung der Personen in Quarantäne. Es konnten vorgegebene Antworten markiert und individuell ergänzt werden. In acht Fällen haben Mitarbeiter der Gesundheitsämter oder Pressesprecher der Kreise die Fragen am Telefon beantwortet.
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Ergebnisse der Befragung

     

  • Die Gesundheitsämter sind den Kommunen unterstellt, die ein großes Maß an Entscheidungsfreiheit besitzen. Das zeigt auch die Auswertung der 49 Antwortbögen von Gesundheitsämtern aus ganz Deutschland: Jedes Gesundheitsamt handelt anders, es gibt kein einheitliches Vorgehen. Die Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes werden trotzdem meist umgesetzt oder sogar übererfüllt.
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  • Im Folgenden die Ergebnisse im Detail, geordnet nach den Fragen, die wir gestellt haben. Neben den Antworten geben wir auch Zusatzinformationen wieder, die einige Kreise von sich aus hinzugefügt hatten.
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1. Betreiben Sie aktuell eine systematische Kontaktpersonen-Ermittlung?

     

  • Alle Ämter (100 Prozent), die uns geantwortet haben, führen zurzeit systematisch und ständig eine Kontaktpersonen-Ermittlung durch.
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  • Viele Ämter fügten Informationen hinzu, aus denen hervorgeht, dass die Kontaktermittler sechs oder sieben Tage in der Woche, manchmal sogar im Schichtbetrieb, die Kontaktpersonen anrufen, informieren und ggf. eine häusliche Quarantäne anordnen.
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  • Die Zahl der Kontaktpersonen pro bestätigtem Fall ist aufgrund der Kontaktbeschränkungen stark gesunken. Einige Kreise nennen Zahlen: Sie ermitteln pro Fall zurzeit maximal fünf Kontaktpersonen. 
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„test“

2. Fühlen Sie sich personell gut ausgestattet?

     

  • Dass rund 60 Prozent der Ämter die Fragen nicht beantworteten, die meisten ausdrücklich wegen Überlastung, ist schon für sich genommen ein Teilergebnis unserer Umfrage.
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  • Das Personal in den Gesundheitsämtern wurde in den vergangenen Wochen massiv aufgestockt. Ein Viertel der Ämter hat uns geschrieben, wer sie derzeit unterstützt: Teams des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und der Bundeswehr, Studenten, Hygiene-Scouts vom Robert-Koch-Institut und vor allem zahlreiche Mitarbeiter aus anderen Ämtern. In drei Kreisen aus Baden-Württemberg, die uns geantwortet haben, helfen die Ortspolizeibehörden den Gesundheitsämtern: In einem Kreis ordnen sie die Quarantäne an, in einem anderen ermitteln sie Kontaktpersonen, in einem weiteren sind sie sogar für die Kontaktpersonen-Ermittlung und die gesundheitliche Überwachung der in Quarantäne befindlichen Personen zuständig.
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  • Vor dem Hintergrund dieser personellen Entlastung, die zum Umfragezeitpunkt mit einer vergleichsweise geringen Zahl an zu ermittelnden Kontaktpersonen einherging, ist folgendes Ergebnis der Umfrage zu interpretieren: Rund die Hälfte der Gesundheitsämter, die uns geantwortet haben (51 Prozent), gibt an, für die jetzige Situation personell gut ausgestattet zu sein.
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  • 13 Ämter (37 Prozent) geben an, nicht gut ausgestattet zu sein. In Zusatzinformationen berichten einige Ämter von vielen „freiwilligen Überstunden“ und von Personal, das an der „Belastungsgrenze“ arbeite.
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  • Vier Ämter (11 Prozent) trafen keine konkrete Aussage.
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„test“

3. Welche Kontaktpersonen erfassen Sie aktuell?

     

  • Das Robert-Koch-Institut empfiehlt die Ermittlung und namentliche Registrierung von engen Kontaktpersonen („Katogorie I“). Diese Empfehlungen setzen 29 Ämter (59 Prozent) um.
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  • Zwanzig Ämter (41 Prozent) ermitteln sogar mehr Kontaktpersonen als empfohlen. 18 von ihnen erfassen sämtliche Kontaktpersonen. Ein Amt erfasst enge Kontaktpersonen und weniger enge Kontaktpersonen (Kategorie I und II), ein weiteres Amt erfasst enge Kontaktpersonen und zusätzlich auch medizinisches Personal, das nur einem geringen Infektionsrisiko ausgesetzt war (Kategorie I und III).
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„test“

4. Wie viel Prozent der Kontaktpersonen erreichen Sie?

     

  • Die meisten Gesundheitsämter haben in Prozent angegeben, wie viele der ermittelten Kontaktpersonen sie erreichen. Einige Gesundheitsämter haben angegeben, dass sie „fast 100 Prozent“, „nahezu alle“ oder „alle bis auf Einzelfälle“ erreichen. Diesen Gesundheitsämtern haben wir nach Rücksprache mit Wissenschaftlern einen Wert von 98 Prozent zugewiesen. Vage Aussagen wie „die große Mehrheit“ haben wir als „keine Angabe“ gewertet.
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  • 80 Prozent der Gesundheitsämter erreichen zurzeit nach ihrer Aussage mindestens 90 Prozent der ermittelten Kontaktpersonen. Ein Amt hat angegeben, dass es rund 80 Prozent erreicht, zwei Ämter nehmen 75 Prozent an. Sechs Ämter machten keine konkreten Angaben.
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  • Das arithmetische Mittel liegt bei 96,8 Prozent. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Epidemie in Deutschland zum Zeitpunkt der Umfrage deutlich abflachte und es aufgrund der Kontaktbeschränkungen nur wenige Kontaktpersonen pro Fall gab.
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„test“

5. Welche Kontaktpersonen werden getestet?

     

  • Das Robert-Koch-Institut empfiehlt eine Testung von Kontaktpersonen erst, sobald sie COVID-19-Symptome entwickeln.
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  • 35 Gesundheitsämter (71 Prozent) setzen die Empfehlung dementsprechend um. 14 testen darüber hinaus weitere Personengruppen wie die Haushaltskontakte der Kontaktpersonen und Risikopatienten.
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„test“

6. Für welche Kontaktpersonen ordnen Sie Quarantäne an?

     

  • 36 der Gesundheitsämter (74 Prozent) ordnen Quarantäne für enge Kontaktpersonen der Kategorie I an und handeln demnach entsprechend den Empfehlungen des RKI.
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  • Zehn Ämter (20 Prozent) ordnen auch für die Haushaltskontakte der Kategorie-I-Kontaktpersonen Quarantäne an, zwei Ämter sogar für alle Kontaktpersonen. Ein Amt stellt nur Personen unter Quarantäne, die COVID-19-Symptome zeigen.
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„test“

7. Für welche Kontaktpersonen führen Sie eine gesundheitliche Überwachung durch?

     

  • Das Robert-Koch-Institut empfiehlt, die Kontaktpersonen der Kategorie I – die sich fast immer in häuslicher Quarantäne befinden - engmaschig gesundheitlich zu überwachen: Diese Personen sollen zwei Mal am Tag ihre Körpertemperatur messen. Einmal täglich soll es Kontakt zum Gesundheitsamt geben. Ziel ist es, das Auftreten von Symptomen so schnell wie möglich zu registrieren. Einige Ämter haben uns im Telefongespräch auch von der psychologischen Komponente der gesundheitlichen Überwachung berichtet: Die Quarantäne verunsichere viele Menschen, viele Fragen träten auf; die Motivation, die Quarantäne streng einzuhalten, sinke im Laufe der Tage. Viele Personen brauchten daher Zuspruch und die Bestätigung, dass die Quarantäne sinnvoll sei und dem Wohl aller diene.
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  • 29 der Ämter (59 Prozent) überwachen, wie empfohlen, die Kontaktpersonen der Kategorie I. Ein Amt überwacht alle Kontaktpersonen, sechs Ämter (12 Prozent) überwachen die Kontaktpersonen der Kategorie I und ihre Haushaltskontakte.
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  • Zwei Ämter (4 Prozent) geben an, dass sie gar keine Kontaktpersonen überwachen.
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  • Elf Ämter (22 Prozent) geben an, dass sie nur Personen überwachen, die COVID-19-Symptome zeigen.
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  • Insgesamt erfüllen also 26 Prozent der Ämter aus unserer Umfrage die Empfehlungen des RKI nicht.
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„test“

8. Wie führen Sie die gesundheitliche Überwachung durch?

     

  • Wir haben die Ämter gefragt, wie sie gesundheitliche Überwachung durchführen. Die Antworten waren so vielfältig, dass wir sie schließlich nach Kategorien unterteilt haben: Die „aktive Überwachung“ fasst alle Maßnahmen zusammen, mit denen das Amt auf die Kontaktpersonen zugeht: tägliche oder regelmäßige Anrufe, tägliche oder regelmäßige Mails oder ein Mix aus beidem. Die „passive Überwachung“ umfasst Maßnahmen, die von den Kontaktpersonen ergriffen werden: Sie sollen sich melden, sobald Symptome oder Fieber auftreten, in seltenen Fällen sollen sie täglich eine Mail an das Gesundheitsamt schicken.
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  • 21 Ämter (45 Prozent) geben an, dass sie eine „aktive Überwachung“ durchführen, die immer wieder als extrem personalintensiv beschrieben wird. Neun Ämter (19 Prozent) rufen täglich an. Ein Amt stattet gelegentlich auch Besuche ab. Ein anderes Amt (im Kreis Rhein-Neckar) hat eigens ein Web-Tool geschrieben, das die gesundheitliche Überwachung unterstützt: Die in Quarantäne befindlichen Personen werden gebeten, zwei Mal täglich ihren Gesundheitszustand und die gemessene Körpertemperatur dort einzutragen. Veränderungen – aber auch fehlende Werte – zeigt das System dem Ermittlerteam an, woraufhin das Gesundheitsamt tätig wird.
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  • 24 Ämter (51 Prozent) führen eine „passive Überwachung“ durch. Ein genauerer Blick in die Daten zeigt, dass 21 dieser 24 Ämter die Kontaktperson bitten, Symptomtagebücher zu führen und sich zu melden, sobald Symptome auftreten. Drei Ämter (4 Prozent) erwarten tägliche Mails von den Kontaktpersonen.
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  • Zwei Ämter (4 Prozent) kombinieren aktive und passive Überwachung: Sie telefonieren täglich mit Kontaktpersonen, sobald diese Symptome melden. Kontaktpersonen ohne Symptome sollen nur ein Symptomtagebuch führen und sich an das Amt wenden, wenn sich an ihrem Gesundheitszustand etwas ändert.
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„test“

9. Wie beurteilen Sie Contact-Tracing-Apps, bei denen Menschen selber herausfinden, ob sie in der Nähe eines positiv getesteten Menschen waren?

     

  • Die Frage, ob eine Contact-Tracing-App hilfreich sein könnte, beantworten die Ämter sehr unterschiedlich. Viele erklären uns, dass sie noch nicht sicher einschätzen könnten, wie die geplante App technisch im Einzelnen aussehen und wie verlässlich sie funktionieren werde. Viele ergänzen, dass die App in keinem Fall ein Ersatz für eine gründliche Kontaktpersonen-Ermittlung sein könne.
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  • Zwanzig Ämter (40 Prozent) beurteilen die App trotz vieler Unklarheiten als nützlich für ihre Arbeit.
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  • 7 Ämter (14 Prozent) halten die App für weniger nützlich.
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  • Insgesamt 12 Ämter (24 Prozent) halten die App für nicht nützlich oder sogar für problematisch.
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  • Zehn Ämter (20 Prozent) wollen oder können keine Aussage dazu treffen.
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„test“
 

Einschätzung der Ergebnisse

Prof. Dr. Gérard Krause
Leiter der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig

„Mich hat positiv überrascht, dass es offenbar den Gesundheitsämtern sehr gut gelingt, Kontaktpersonen zu erreichen. In manchen Bereichen geht ein erheblicher Teil der Gesundheitsämter sogar über die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts hinaus. So zum Beispiel dann, wenn zusätzlich zu der Kontaktperson selbst auch deren Haushaltsmitglieder – also Kontaktpersonen der zweiten Generation – ebenfalls in Quarantäne gebracht werden.“

„Das Vorgehen der Gesundheitsämter ist nicht sehr einheitlich, obwohl diesbezüglich die Anforderungen eigentlich dieselben sind. Wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Gesundheitsämter die Anfragen nicht beantwortet haben, muss man davon ausgehen, dass die bestehenden Unterschiede noch größer sind, als hier erkennbar.“   

Auf die Frage, wie gut die Gesundheitsämter für steigende Infektionszahlen gerüstet sind:
„Das gibt die Umfrage wohl nicht her. Aber immerhin können wir nun davon ausgehen, dass bei den Prozessen inzwischen eine gewisse Übung vorliegt und eine eventuelle akute Mobilisierung schneller erfolgen kann. Die Befragung untermauert meinen Eindruck, dass die Gesundheitsämter sehr unterschiedlich gut aufgestellt sind, neu auftretende Infektionshäufungen rasch wieder einzudämmen. “

Auf die Frage nach einer Einschätzung dazu, dass viele Gesundheitsämter die Kontaktpersonen nur passiv überwachen, also darauf warten, dass sich die Kontaktpersonen bei auftretenden Symptomen melden:
„In der frühen Phase, in der alle Menschen sehr alarmiert und besorgt waren und die Ressourcen nicht entsprechend angepasst waren, mag der Ansatz nachvollziehbar gewesen sein. Für die bevorstehenden Phasen halte ich diese passive Überwachung nicht mehr für ausreichend. Es sollte schon eine Form der aktiven Nachfrage und Dokumentation geben, die es dem Gesundheitsamt erlaubt, zu jedem Zeitpunkt den Status der Kontaktpersonen zu kennen, die aktuell in Quarantäne sind.“ 
 

Prof. Dr. med. Ralf Reintjes
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Fakultät Life Sciences, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

„Angesichts der Entscheidung der Bundes- und Landesregierungen, eine Obergrenze von 50 Neuinfizierten pro 100.000 innerhalb von sieben Tagen als Grenzwert zu nutzen, stellt sich aus meiner Sicht die Frage, ob eine effektive Eindämmung der Epidemie für die Gesundheitsämter leistbar ist und sein wird.“

„Auf den ersten Blick erscheinen die Angaben der Gesundheitsämter wie erwartet. Auch unter den zurzeit relativ guten Bedingungen werden durch die Gesundheitsämter nicht alle Kontaktpersonen erreicht. Nur dreiviertel aller Gesundheitsämter erreichen 95 Prozent oder mehr Kontaktpersonen von nachgewiesenen und gemeldeten Fällen. Großteils findet nur eine passive Überwachung statt. Getestet werden jedoch nur symptomatische Kontakte. Angesichts der großen Anzahl asymptomatischer Fälle, die selbst andere Personen infizieren können, hat unser Netz hier sehr große Löcher.“

„Nur 18 der befragten Gesundheitsämter gaben an, dass sie personell gut ausgestattet seien. Zusätzlich lässt die vieldiskutierte, neu zu entwickelnde und in dieser Form noch nie erfolgreich getestete Contact-Tracing App seit einiger Zeit auf sich warten. Diese wird von den befragten Gesundheitsämtern auch nur in 40 Prozent als hilfreich eingeschätzt.“

„All das wirft erhebliche Zweifel auf, ob bei den zu erwartenden steigenden Fällen eine massive Zunahme und somit eine zweite Epidemiewelle verhindert werden kann, vor allem wenn wir erst bei relativ großen Häufungen (50 Fälle/100.000 Einwohner) intervenieren.“

„Vieles zur Verbreitung des COVID-19 Erregers ist uns bisher unbekannt. Welche Maßnahmen sehr effektiv sind und welche weniger, sollte zweifelsfrei untersucht werden und dann für Entscheidungsprozesse genutzt werden. Jetzt wäre der Zeitpunkt, dieses zu tun. Wir sollten die Zeit nicht verspielen.“
 

Prof. Dr. Oliver Razum
Professor und Leiter der AG3 für Epidemiologie & International Public Health, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld

„Die Intensität der COVID-19-Übertragung und damit einhergehend die aktuellen Fallzahlen sind innerhalb Deutschlands lokal sehr unterschiedlich (aktuelle Daten auf Kreisebene finden sich übersichtlich aufbereitet zum Beispiel unter https://covidmonitor.de). Das bedeutet, dass die Gesundheitsämter unterschiedlich stark ausgelastet sind. Auch deshalb schätzen die befragten Gesundheitsämter ihre personelle Ausstattung so unterschiedlich ein.“

„Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) in Deutschland personell und materiell nicht ausreichend ausgestattet ist. Auch müsste die wichtige Rolle des ÖGD für die Gesundheit bereits im Medizinstudium stärker berücksichtigt werden. Mangelnde Aufmerksamkeit für den ÖGD ist ein bereits länger bestehendes Problem, das durch das Pandemiegeschehen deutlicher sichtbar wird.“

„Der ÖGD muss personell und materiell so ausgestattet sein, dass er in Ausbruchssituationen nicht nur die – zumindest regional oder zeitweilig – stark steigenden Routineaufgaben des Infektionsschutzes wahrnehmen kann. Darüber hinaus muss er gezielt das gesundheitliche Management von Gemeinschaftseinrichtungen wie Senioren- und Pflegeheimen sowie beispielsweise von Sammelunterkünften für Geflüchtete unterstützen können. Das betrifft Fragen wie die Umsetzung von Schutzmaßnahmen oder die Quarantäne von Einrichtungen. Wünschenswert wären zudem länderübergreifende Strukturen, um Best-Practice-Beispiele zur Kontrolle von COVID-19 zügig austauschen zu können [2].“

Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Robert Koch-Institut (RKI): COVID-19 Verdacht: Testkriterien und Maßnahmen. Orientierungshilfe für Ärztinnen und Ärzte.

[2] Razum O et al. (2020): Covid-19 in Flüchtlingsunterkünften: ÖGD jetzt weiter stärken. Gesundheitswesen.