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20.12.2018

Meeresschutzgebiete oft intensiver befischt als ungeschützte Regionen

In den meisten europäischen Meeresschutzgebieten wird intensiver gefischt als in den marinen Regionendude, die keinen besonderen Status genießen.

Mithilfe von Satellitendaten haben die Autoren der Studie um Manuel Dureuil die Schleppnetzfischerei in 727 Meeresschutzgebieten in Europa untersucht. Dem stellen sie gegenüber, wie viele Haien und Rochen als so genannte Indikator-Spezies in diesen Gebieten vorkommen. Sie beobachteten einen bis zu 69-prozentigen Rückgang dieser Arten in den besonders stark befischten Regionen. In nur 295 der betrachteten Schutzgebiete war keine kommerzielle Schleppnetz-Fischerei zu verzeichnen. Die Autoren schließen aus ihrer Arbeit, dass die Einrichtung von Meeresschutzgebieten in Europa nicht die gewünschten positiven Effekte für den Erhalt der Artenvielfalt haben. Die Studie ist am 20.12.2018 im Fachjournal Science erschienen (siehe Primärquelle).

 

Übersicht

  • Dr. Sebastian Ferse, Meeresbiologe und Gastwissenschaftler an der Uni Bremen, Abteilung Marine Ökologie, Fachbereich Biologie/Chemie, ab Januar 2019 Leiter des Programmbüro Future Earth Coasts,  Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie GmbH (ZMT), Bremen
  • Dr. Vanessa Stelzenmüller, Leiterin der Forschungseinheit Meeresraumnutzung, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Braunschweig
    UND
    Dr. Nikolaus Probst
    Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungseinheit Meeresraumnutzung, Thünen-Institut für Seefischerei, Bremerhaven
  • Prof. Dr. Thomas Brey, Leiter der Sektion Funktionelle Ökologie, Fachbereich Biowissenschaften, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven

Statements

Dr. Sebastian Ferse

Meeresbiologe und Gastwissenschaftler an der Uni Bremen, Abteilung Marine Ökologie, Fachbereich Biologie/Chemie, ab Januar 2019 Leiter des Programmbüro Future Earth Coasts, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie GmbH (ZMT), Bremen

„Der Titel der Studie erscheint mir zu pauschal und wird meines Erachtens den interessanten Details der Studie nicht gerecht – es zeigt sich, dass es zwischen den einzelnen Typen von Schutzgebieten starke Unterschiede im Grad der Befischung sowie im Vorkommen von Knorpelfischen gibt. Eine Kernaussage der Studie ist somit für mich, dass sich Schutzgebiete stark in ihrer Schutzwirkung unterscheiden. Diese Unterschiede können die Grundlage für eine Verbesserung des Meeresmanagements liefern."

„Die für die Studie genutzten Methoden scheinen mir durchaus solide zu sein. Wirklich überraschend sind die Ergebnisse insofern nicht, da viele der Meeresschutzgebiete kommerzielle Fischerei erlauben, es insofern also nicht einmal um illegale Fischerei geht. Dass sich die Fischereiaktivitäten dann auf Schutzgebiete konzentrieren, ist insofern nicht erstaunlich, da dort meist zum einen besondere Habitat-Charakteristika vorkommen, die die Gebiete ja überhaupt erst schützenswert machen, und zum anderen durch die Schutzfunktion entweder tatsächlich oder zumindest in der öffentlichen Erwartung höhere Fischbestände anzutreffen sind, die dann wiederum Fischer anziehen.“

„Interessant finde ich die Nuancen in der Studie. So unterscheiden sich die verschiedenen Schutzgebiete ja durchaus in ihrer Befischung und dem Knorpelfischbestand. Das wiederum kann für Schutzanstrengungen aufschlussreich sein, indem gezeigt wird, welche Art von Schutzgebieten wirkungsvoll für Fische sind und welche nicht.“

„Die Daten zur räumlichen Verteilung und Intensität der Schleppnetzfischerei stammen von 2017, insofern lassen sich keine Aussagen über Veränderungen in der Intensität der Befischung treffen. Solche Veränderungen in Bezug auf die Etablierung von Schutzgebieten zu untersuchen, wäre ein wichtiger weiterer Schritt. Die Kernaussage der Studie ist davon aber unberührt.“

„Die in der Studie gezeigte Fischerei scheint zumindest überwiegend legal stattzufinden. Die Autoren schreiben ja auch, dass nicht jedes Meeresschutzgebiet auch Richtlinien für die Fischerei beinhaltet. Um illegale Fischerei aufzuzeigen, könnte zum Beispiel anhand der Satellitendaten untersucht werden, inwiefern Fischereimethoden – die jeweils charakteristische Bewegungsmuster der Schiffe verursachen – in Gebieten zum Einsatz kommen, in denen sie nicht erlaubt sind. Schiffsbesatzungen können Meeresschutzgebiete in der Regel anhand des Abgleichs ihrer GPS-Position mit Karten erkennen, auf denen die Schutzgebiete eingezeichnet sind.“

„Je nach Fischart und Population sowie Grad der Überfischung kann es mehrere Jahrzehnte dauern, bis sich Bestände nach Einschränkung oder Verbot der Fischerei wieder erholt haben. Einzelne Arten mit schnellen Wachstums- und Reproduktionsraten können bereits innerhalb weniger Jahre auf Schutzanstrengungen reagieren. Faktoren, die durch räumliches (Fischerei-)Management wie Schutzgebiete in der Regel unzureichend reduziert werden, sind vor allem äußere Einflüsse, insbesondere von Land – zum Beispiel Nährstoffeintrag durch die Landwirtschaft, Sedimentation, Einleitung von Abwässern und Schadstoffen. Um diese Faktoren effektiv anzugehen,­ bedarf es integrativer Ansätze, die auch Einflüsse von Land beinhalten, wie zum Beispiel abgestimmte Maßnahmen in der Landwirtschaft oder integriertes Küstenzonenmanagement.“

Frau Dr. Vanessa Stelzenmüller

Leiterin der Forschungseinheit Meeresraumnutzung, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Braunschweig

UND
Dr. Nikolaus Probst


Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungseinheit Meeresraumnutzung, Thünen-Institut für Seefischerei, Bremerhaven

„Eine der Hauptaussagen der Studie ist die Tatsache, dass Schutzgebiete implementiert werden, jedoch nur als sogenannte ‚paper parks‘ (Umweltschutzzonen, die nur auf dem Paper existieren; Anm. d. Red.) und keinerlei Regulierung des Fischereiaufwandes stattfindet. Das ist global gesehen ein bekanntes Problem."

„Die Studie beschreibt eine Alarmsituation in einem der am stärksten befischten Meeresgebiete, welche in der Realität politisch bereits erkannt ist. So sind zum Beispiel in der Nordsee die internationalen Abstimmungsprozesse zu Fischereimanagementplänen für N2000-Gebiete seit Jahren im Gange.“

„N2000-Gebiete sind Schutzgebiete, die europaweit unter der EU Habitat- und Vogelrichtlinie ausgewiesen wurden. Nach der Implementierung der Gebiete sollte eigentlich nach sechs Jahren der entsprechende Managementplan stehen – im Fall von Deutschland ist das selbst nach zehn Jahren noch nicht der Fall. Das heißt, die Studie sollte den EU-weit schwerfälligen Prozess kritisieren, aber es ist schlicht weg nicht richtig, dass man sich in Sicherheit wiegt oder das Problem fehlender Management-Pläne politisch nicht erkannt ist.“

„Sicherlich kann man den verzögerten Prozess an sich kritisieren, aber man kann nicht von einer Entkopplung von Meeresnaturschutz und zum Beispiel der europäischen Gemeinsamen Fischereipolitik sprechen. Daher trägt die Studie zumindest für die Nordseeregion nicht den aktuellen Prozessen Rechnung.“

„Die oben herausgegriffene Aussage beschreibt die Tatsache, dass die meisten Schutzgebiete besondere Habitate repräsentieren – mit einem höheren Maß an Produktion oder Biodiversität – welche traditionell wichtige fischereiliche Fanggebiete darstellen. Richtiger wäre eben, zu ermahnen, dass es höchste Zeit ist, endlich die Managementpläne für die Meeresschutzgebiete (i.e. N2000) umzusetzen. In viel genutzten Meeresgebieten wie der Nordsee sind länderübergreifende Abstimmungsprozesse oft langwierig und erschweren eine praktische Umsetzung eines ganzheitlichen und ökosystembasierten räumlichen Managementansatzes, welcher versucht, Schutzziele und nachhaltige Nutzung in Einklang zu bringen.“

Prof. Dr. Thomas Brey

Leiter der Sektion Funktionelle Ökologie, Fachbereich Biowissenschaften, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven

„Die Ergebnisse der Studie kann man nicht unbegrenzt auf Meeresschutzgebiete generell verallgemeinern, denn zum einen betrachtet sie eine geographisch begrenzte Region und zum anderen schaut sie sich nur die Effekte auf eine eng begrenzte Gruppe von Organismen – Haie und Rochen an.“

„Über die Schutzziele der einzelnen europäischen Meeresschutzgebiete wird nichts gesagt. Dies ist aber wichtig, denn die Schutzziele bestimmen die Maßnahmen, die getroffen werden. Wenn Haie und Rochen kein Schutzziel sind, werden auch keine Maßnahmen speziell zu ihrem Schutz getroffen; sie sind dann allenfalls nebenbei Nutznießer von Schutzmaßnahmen.“

„Die untersuchten Meeresschutzgebiete beruhen auf 25 verschiedenen Grundlagen. Die Autoren schreiben auch, dass in 295 der 727 untersuchten Meeresschutzgebiete keine kommerzielle Fischerei stattfindet. Daraus lässt sich schon mal schließen, dass Meeresschutzgebiete unterschiedliche Schutzziele haben und dass der Schutz von Haien und Rochen vermutlich nicht in allen Meeresschutzgebiete explizit zu den Schutzzielen gehört.“

„Leider erfahren wir nicht, ob die kommerzielle Fischerei in den Meeresschutzgebieten auch immer erlaubt ist. Sollte das so sein, dann legt die Logik nahe, dass in diesen Meeresschutzgebieten Haien und Rochen nicht zu den Schutzzielen gehören. Sollte das nicht so sein, würde das etwas über die Durchsetzung der Schutzmaßnahmen aussagen.“

„Es ist also ein bisschen unfair, die Wirksamkeit aller 727 Meeresschutzgebiete mit Blick auf den Schutz von Haien und Rochen zu beurteilen, denn dafür sind sie vermutlich nicht alle –möglicherweise sogar die wenigsten – konzipiert. Andererseits sind Haie und Rochen aufgrund ihrer Seltenheit und besonderer Stellung im Nahrungsnetz prinzipiell schützenswert, wenngleich Meeresschutzgebiete alleine keine ausreichende Schutzmaßnahme sind [1].“

„Methodisch ist das ein sehr cooler Ansatz, absolut state-of-the-art in der marinen Ökologie. Solche Untersuchungen konnten wir als Wissenschaftler vor zehn, fünfzehn Jahren noch nicht machen, weil wir die Datenbasis – räumlich und zeitlich hochauflösende Datensätze verschiedenster Parameter – noch nicht hatten. Das ist – gerade was biologische Daten angeht – ein Verdienst von Initiativen wie FISHBASE [2]. Natürlich haben solche Datensätze im Detail Schwächen und Ungenauigkeiten, aber ‚die Macht der großen Zahlen‘ schafft eine solide empirische Basis für fundierte Aussagen – auch und gerade, wenn die einzelnen Arten selten vorkommen.“

„Wir wissen wenig über illegale Fischerei in Meeresschutzgebieten. Denn, wer illegal unterwegs ist, hat auch sein VMS-System nicht angeschaltet (Vessel Monitoring System, satellitengestütztes Überwachungssystem für Fischereischiffe; Anm. d. Red.). Wir wissen aber, wie Menschen – und damit auch Fischer – sich verhalten: Sie wollen natürlich dort fischen, wo sie sich den höchsten Ertrag versprechen. Die Erfahrung mit großen marinen Meeresschutzgebieten zeigt, dass die Fischerei sehr gerne direkt an die Grenzen der Meeresschutzgebiete geht – es gibt schöne VMS-Bilder unter anderem von Galapagos, die zeigen, wie sich die Schiffe an den Grenzen der Meeresschutzgebiete drängeln. Und nun kann man sich natürlich denken, was passiert, wenn die Überwachung lasch oder nicht existent ist...“

„Es ist insgesamt eine traurige Angelegenheit, was uns die Studie über die europäischen Meeresschutzgebiete sagt. Man bedenke: Wir haben 727 Meeresschutzgebiete mit insgesamt 435.000 km2 Fläche. Das heißt, das mittlere Meeresschutzgebiet ist gerade mal 600 km2 groß. Das ist sehr klein im Vergleich zu den großen marinen Meeresschutzgebieten wie Galapagos mit 133.000 km2 oder dem Great Barrier Reef mit 344.000 km2. Die Wirksamkeit eines Meeresschutzgebietes als ‚Refugium‘ hängt aber von seiner Größe in Relation zum Verbreitungsgebiet und zum Aktionsradius der zu schützenden Art ab. Das heißt, dass diese kleinen europäischen Meeresschutzgebiete wirksam sein mögen, wenn es um die Biodiversität bestimmter bodenlebender Gemeinschaften geht. Sie nutzen weniger, wenn es um große, mobile Arten wie etwa Fische geht.“

„Die Daten erzählen auch etwas über Stakeholder-Interessen. Von 727 Meeresschutzgebieten werden nur 295 nicht befischt. Das ist eigentlich ein Witz, wenn man bedenkt, dass kommerzielle Fischerei seit gut 100 Jahren der dominante und prägende Einfluss des Menschen auf die europäischen Meere ist. Knallhart gesagt: Die Nordsee ist keine Naturlandschaft, sondern eine Kulturlandschaft. Es ist offensichtlich gerade in Europa extrem schwer, die Fischerei aus Meeresschutzgebieten herauszuhalten. Das liegt meines Erachtens zum einen daran, dass ‚unser‘ Meer ziemlich klein ist, und zum anderen daran, dass der fischereiliche Aufwand ja nicht weniger wird, nur weil wir ein Meeresschutzgebiet einrichten. Die Fischer, ihre Boote und ihr Anspruch auf ein Auskommen verschwinden ja nicht einfach. Dazu kommt, dass die Fischereitechnik auch ständig besser wird. Die europäische Politik ist sehr gut darin, Fischer durch Subventionen im Geschäft zu halten, auch wenn sie zum Schutz der Meere gerade das Gegenteil tun müsste – nämlich den heutigen Fischern und ihren Nachkommen langfristig tragfähige Alternativen zu eröffnen. Und so kommt es halt zu der in der Studie gezeigten Situation: Den Haien und Rochen, die unbestritten zu den schutzwürdigen Gruppen gehören, nützen die europäischen Anstrengungen im Bereich MPAs gar nichts – im Gegenteil.“

„Es gibt eine Menge Studien, die zeigen, dass Meeresschutzgebiete sehr wohl positive Effekte zeigen. Zwei Faktoren müssen stimmen: Das Meeresschutzgebiet-Design – also etwa geografische Lage, Zeithorizont – und die Schutzmaßnahmen müssen zu den Schutzzielen passen. Außerdem müssen die Schutzmaßnahmen konsequent durchgesetzt werden. Letzteres ist machbar, wenn das Meeresschutzgebiet in nationalen Hoheitsgewässern liegt, weiter draußen auf den Meeren wird es schwieriger.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Sebastian Ferse: „Ich kenne mehrere der Autoren zumindest preipher; Kristina Boerder sogar persönlich. Sie hat die der Studie zugrunde liegende Methode der Satellitenerfassung von räumlichen Fischeridaten vor einiger Zeit bei uns am Insitut mal vorgestellt."

Prof. Dr. Thomas Brey: „Voranstellen möchte ich die Anmerkung, dass diese Studie sozusagen aus meinem Umfeld kommt. Den Senior-Autor Rainer Fröse kenne ich seit 30 Jahren, und meine Institute AWI und HIFMB sind Mitglieder im FISHBASE-Konsortium."

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Dureuil et al. (2018): Elevated trawling inside protected ares undermines conversation outcomes in a global fishing hot spot. Science; DOI: 10.1126/science.aau0561.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] MacKeracher T et al. (2018): Sharks, Rays and marine protected areas: A critical evaluation of current perspectives. Fish and Fisheries, 00,1-13. DOI: 10.1111/faf.12337.

[2] Datenbank FISHBASE