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14.05.2019

Antibiotika bei Geburt mit Saugglocke und Zange

Die vorbeugende Gabe von Antibiotika nach Geburten mit Saugglocke oder Zange könnte die Anzahl der Folgeinfektionen reduzieren. Dies geht aus einer britischen Studie hervor, die im Fachjournal ‚The Lancet‘ publiziert wurde (siehe Primärquelle).

In Deutschland wurde 2017 bei jeder 16. Geburt (6,2 Prozent aller Geburten) das Kind mit Hilfe einer Saugglocke oder einer Zange zur Welt gebracht [I]. Diese Instrumente kommen bei dieser sogenannten vaginal-operativen Entbindung zum Einsatz, wenn es zum Ende einer Geburt zu einem Geburtsstillstand kommt – zum Beispiel durch Kraftlosigkeit oder schwache Wehen – oder wenn das Kind gesundheitlich gefährdet ist. Die Maßnahme kann unter anderem das Entleeren der Blase durch einen Katheter und die Erweiterung des Geburtskanals durch einen gezielten Dammschnitt erfordern. Etwa ein Fünftel aller Frauen erkranken nach einer solchen Geburt an einer bakteriellen Infektion.

Die englischen Forscher haben nun in einer randomisierten und kontrollierten Studie untersucht, ob eine intravenös-verabreichte prophylaktische Einzeldosis Antibiotika im Anschluss an eine vaginal-operative Entbindung das Risiko von Folgeinfektionen vermindern kann. In der Kontrollgruppe, die nach der Geburt ein Placebo erhielten, erkrankten 19 Prozent der Frauen an einer Infektion, während in der Gruppe, die Antibiotika erhielt, nur 11 Prozent der Frauen an einer Folgeinfektion erkrankte. Die Autoren berichten ein relatives Risiko für eine Infektion von 0,58. Das bedeutet, dass durch die Antibiotikagabe das Infektionsrisiko um 42 Prozent verringert werden konnte. Im Zuge dieser Prophylaxe reduzierte sich die Gesamtgabe von Antibiotika um 17 Prozent.

In den aktuellen Richtlinien zu vaginal-operativen Entbindungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, sowie in den Leitlinien der WHO, wird von einer prophylaktischen Gabe von Antibiotika explizit abgesehen [II, III]. Die aktuellen Ergebnisse könnten nun zum Anlass genommen werden, die Richtlinien entsprechend anzupassen.

 

Übersicht

  • Prof. Dr. Constantin von Kaisenberg, Bereichsleiter Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Klinik für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
  • Prof. Dr. Matthias Beckmann, Direktor der Frauenklinik, Universitätsklinikum Erlangen
  • Dr. Maria Delius MPH, Leitung Perinatalzentrum Campus Innenstadt, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU München

Statements

Prof. Dr. Constantin von Kaisenberg

Bereichsleiter Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Klinik für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover

„Die angekündigte Veröffentlichung ist methodisch von hoher Qualität und wird hochrangig publiziert. Sie testet eine wichtige klinische Fragestellung.“

„Neu ist die Verabreichung eines prophylaktischen ‚single shot‘ Antibiotikums bei vaginal-operativen Entbindungen. Es ist ungewiss, wie häufig klinisch-relevante schwere mütterliche Infektionen nach vaginal-operativen Entbindungen auftreten, beziehungsweise ob sich die Verabreichung eines Antibiotikums rechtfertigen lässt: Welche Risiken bestehen, wenn es nicht verabreicht wird? Wie viele Patientinnen müssten – umsonst – behandelt werden, um eine schwere Infektion zu vermeiden?“

Auf die Frage, ob die Empfehlungen der WHO und der deutschsprachigen Leitlinie anhand dieser Ergebnisse angepasst werden sollten:
„Die Frage zielt darauf ab, ob eine qualitativ hochwertige Studie ausreicht, um die gängige klinische Praxis / die Leitlinien zu ändern. In der Regel werden mehrere Studien gefordert, die Ergebnisse aufweisen, die den gefundenen Effekt belegen. Dies hängt außerdem davon ab, wie die Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen sind.“

Auf die Frage, wie die 17 Prozent Reduktion der Gesamtantibiotikagabe bewertet werden könne:
„Es wurden 1719 Frauen in Amoxicillin und Clavulansäure und 1708 Placebo randomisiert. Es blieben 1715 in der Amoxicillin und Clavulansäure Gruppe und 1705 in der Placebo Gruppe übrig. Das ‚primary outcome‘ fehlte bei 195 (6 Prozent) Frauen. Es hatte in der Amoxicillin- und Clavulansäure-Gruppe signifikant weniger Frauen eine bestätigte oder vermutete Infektion (180 [11%] der 1619) verglichen mit den Placebo Patientinnen (306 [19 %] der 1606); die Autoren berichten ein relatives Risiko von 0,58. Der Unterschied der Infektionshäufigkeit hat somit 8 Prozentpunkte betragen. Es trat ein Hautausschlag in der Placebogruppe, sowie eine starke allergische Reaktion in der Interventionsgruppe auf (serious adverse event, SAE). Es traten weitere zwei SAE auf, die nicht auf die verabreichten Medikamente zurückgeführt werden konnten.“

„Für das Jahr 2018 hätten diese Ergebnisse für die Medizinische Hochschule Hannover folgende Ergebnisse bedeutet: 3053 Entbindungen insgesamt, 2139 vaginal entbundene Schwangere (70,1 Prozent), 917 per Sektio entbundene Schwangere (30 Prozent), 171 vaginal operativ entbundene Kinder (7,9 Prozent), alle per Vakuum. Wenn alle 171 Frauen mit Amoxicillin und Clavulansäure behandelt worden wären, hätte sich die Häufigkeit einer mütterlichen Infektion um 8 Prozentpunkte verringert (rund 14 Geburten). Die ‚number neaded to treat‘ wäre somit 12,5 gewesen (13 Frauen müssen Antibiotika erhalten, damit bei einer Patientin eine Infektion verhindert wird, ergo bei 171 behandelten Frauen in der Medizinischen Hochschule Hannover wären von 33 Infektionen 14 verhindert worden; Anm. d. Red.).

„Dies ist kein Effekt, der sich in einer deutschen Uni-Klinik wesentlich bemerkbar gemacht hätte. Es hätten gleichzeitig Risiken einer allergischen Reaktion eingegangen werden müssen.“

Prof. Dr. Matthias Beckmann

Direktor der Frauenklinik, Universitätsklinikum Erlangen

„Es handelt sich um eine methodisch sehr gut durchgeführte Arbeit in einem klinisch relevanten Bereich, zu dem bislang keine ausreichende Evidenz gibt.“

„Der primäre Endpunkt ‚bestätigte mütterliche Infektion oder Verdacht auf mütterliche Infektion‘ und vor allem dessen Definition sind kritisch zu sehen. Als Verdacht auf eine mütterliche Infektion reichte bereits eine Verschreibung von einem Antibiotikum aus. Kritisch dabei ist, dass die Rezeption von Antibiotika individuell variiert und der signifikante Unterschied der Gruppen von der Untergruppe der Antibiotika-Verschreibungen – und nicht der tatsächlichen Infektionen – dominiert wurde.“

Auf die Frage, ob die Empfehlungen der WHO und der deutschsprachigen Leitlinie anhand dieser Ergebnisse angepasst werden sollten:
„Die Studie ist nicht eins zu eins auf deutsche Verhältnisse umzusetzen. Das Kollektiv, das untersucht wurde, hatte folgende Charakteristika:

  • 85 Prozent hatten einen Blasensprung innerhalb von 24 Stunden: In Deutschland würde man aktuell noch bereits ab 12 Stunden (oder früher) ein Antibiotikum verabreichen. Im UK erst ab 24 Stunden.
  • Die Rate an Forceps-Entbindungen lag bei 65 Prozent: Diese ist bekanntermaßen mit einem höheren Risiko mütterlicher Verletzungen assoziiert. In Deutschland wird überwiegend die Saugglockenentbindung durchgeführt. Daher ist der Anteil ausgeprägter Verletzungen in dem untersuchten Kollektiv wahrscheinlich höher als in der deutschen Geburtshilfe.
  • Die Rate an Dammschnitten von 89 Prozent ist sehr hoch und entspricht nicht der Rate in Deutschland.
  • Die Dammverletzung-Rate von 99 Prozent war sehr hoch: Es gibt auch nach vaginal-operativen Entbindungen eine hohe Anzahl von Frauen mit einem intakten Damm. Eine routinemäßige Antibiotika-Gabe wäre da nicht indiziert.“

Auf die Frage, wie die 17 Prozent Reduktion der Gesamtantibiotikagabe bewertet werden könne:
„Die Daten können nicht negiert werden. Eine routinemäßige Antibiotika-Gabe bei allen vaginal-operativen Entbindungen sehen wir jedoch nicht als gerechtfertigt an. Eine großzügigere Antibiotika-Prophylaxe in bestimmten Situationen (zum Beispiel ausgeprägte ‚nicht-höhergradige‘ Dammverletzungen) wäre eine mögliche Konsequenz auf diese neuen Daten.“

Dr. Maria Delius MPH

Leitung Perinatalzentrum Campus Innenstadt, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU München

„Es handelt sich um eine gute epidemiologische Studie, deren Aussagen allerdings nicht verallgemeinert werden können.“

„Die Aussagen sind für das untersuchte Kollektiv sinnvoll.“

„Für Deutschland kann das Ergebnis nicht übernommen werden, da sich die geburtshilfliche Praxis von der beschriebenen unterscheidet.“

„Im Studienkollektiv waren über 60 Prozent der Entbindungen Zangen-Geburten, unter 40 Prozent Saugglocken-Geburten. Dies entspricht nicht der Situation in Deutschland, wo in den meisten Krankenhäusern vorwiegend die Saugglocke eingesetzt wird.“

„Entbindungen per Zange führen häufiger zu größeren mütterlichen Geburtsverletzungen.“

„Die sehr hohe Dammschnittrate im Studienkollektiv mit fast 90 Prozent entspricht auch bei vaginal-operativen Geburten nicht der Situation in Deutschland, eine Saugglocke kann sehr häufig ohne Dammschnitt durchgeführt werden.“

„Für Deutschland wären die Daten vor allem bei Saugglocken und auch ohne Dammschnitt von Bedeutung, diese können aus der Studie nicht erhoben werden.“

„Das primäre outcome der Studie ist mit der Gabe von Antibiotika in den ersten sechs Wochen nach der Geburt pragmatisch gewählt, unterliegt allerdings in den meisten Fällen einer subjektiven Einschätzung der behandelnden Ärzte. Diese Einschätzung, ob ein Antibiotikum notwendig ist, ist abhängig von der üblichen Praxis, daher ist es schwierig, die Daten zu verallgemeinern. Ein Großteil der Damminfektionen kann eventuell auch konservativ behandelt werden, wenn rechtzeitig erkannt. Die postpartale Betreuung der Mutter nach der Geburt (zum Beispiel Hebammennachsorge) hat einen großen Einfluss auf ein solches Ergebnis.“

„Die WHO Richtlinien sollten nach dieser Studie nicht verändert werden, da die geburtshilfliche Praxis gerade in den beschriebenen Variablen international variiert. Weitere Studien in anderen Kontexten wären nötig.“

„Die Reduktion der Antibiotikagaben kann nicht unabhängig von der lokalen Praxis betrachtet werden. Eine kontinuierliche postpartale Nachsorge und konservative Maßnahmen bei beginnender Entzündung könnten eventuell ebenso zu einer Reduktion des Antibiotikaeinsatzes führen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Constantin von Kaisenberg: „Ich erkläre, dass für die Beantwortung der Leitfragen kein Interessenskonflikt besteht.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Knight M et al. (2019): Prophylactic antibiotics in the prevention of infection after operative vaginal delivery (ANODE): a multicentre randomised controlled trial. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(19)30773-1. 

Weitere Recherchequellen

[I] Statistisches Bundestamt (2018): 30,5 % der Krankenhausentbindungen per Kaiserschnitt im Jahr 2017. Pressemitteilung Nr. 349.

[II] Hopp et al. (2012): Vaginal-operative Entbindungen. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.; 015/023 S1.

[III] WHO recommendation against routine antibiotic prophylaxis for women undergoing operative vaginal birth (September 2015). The WHO Reproductive Health Library; Geneva: World Health Organization.