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10.03.2020

Wie tödlich wird das Coronavirus? Überarbeitete Version

Aufgrund der aktuellen Lage zu COVID-19 haben wir das Fact Sheet zur Letalität von Grund auf überarbeitet; die ältere Version bleibt weiterhin hier verfügbar.

Auch in Deutschland treten nun erste Todesfälle nach bestätigter COVID-19-Erkrankung auf. Die Bundesbürger müssen sich auf vermehrte Infektionsketten mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 einstellen. Eine zentrale Unsicherheit in der Risikoabschätzung der weiteren Entwicklung bleibt die zu erwartende sogenannte Letalität (Englisch: case fatality ratio, CFR). Damit ist der Anteil der Todesfälle an allen Infizierten gemeint beziehungsweise, wie viele aller bestätigten, mit SARS-CoV-2 infizierten Personen letztlich versterben. Es zirkulieren immer wieder Zahlen, die aber nur mit dem richtigen Kontext zu verstehen sind und sich im Fall von COVID-19 von Land zu Land unterscheiden. Einfache Berechnungen bleiben daher mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. In diesem Fact Sheet erläutern wir die epidemiologischen Grundlagen der „case fatality ratio“ und diskutieren Unsicherheiten, die bei der journalistischen Verwendung der Werte mit kommuniziert werden sollten. Wir diskutieren, wie zu erklären ist, dass sich das Verhältnis der Verstorbenen zu den Infizierten von Population zu Population unterscheidet, obwohl sich das SARS-CoV-2 letztlich überall ähnlich verhält.

Für Chinas Regionen außerhalb des Epizentrums des Ausbruchs in Wuhan wird die CFR derzeit mit 0,7 Prozent beziffert – das bedeutet 7 Verstorbene pro 1.000 Infizierte. Südkorea liegt aktuell bei 0,69 Prozent. Beide Länder sammeln sehr genau Daten über ihre Testungen und können als gute Datengrundlage für solche Berechnungen herangezogen werden. Inwieweit diese Letalität auch für europäische Länder relevant wird, kann derzeit niemand seriös beantworten. Wir wissen noch nicht und werden auch nicht sehr bald wissen, wie viele Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, nicht getestet werden und damit nicht in die Statistik einfließen. Das Fact Sheet zeigt jedoch Anhaltspunkte dazu auf. Wie viele Menschen tatsächlich mit SARS-CoV-2 infiziert waren, können nur Ergebnisse von serologischen Tests eindeutig sagen – beispielsweise Bluttests, die die Immunantwort auf eine überstandene Infektion messen.

Das Fact Sheet können Sie hier als PDF herunterladen.

Zusätzlich stellt das SMC Lab eine Datenvisualisierung zur Verfügung:
Wie sich die SARS-CoV-2-Epidemie in ausgewählten Ländern ausbreitet. Jede Grafik steht für ein Land oder eine Region und zeigt auf einer logarithmischen Skala die kumulierte Zahl der bestätigten Infektionen mit SARS-CoV-2 im Verlauf der Zeit, gemessen in Tagen seit der Aufnahme des ersten Infektionsfalles in dem betreffenden Land in den verwendeten Datensatz. Für Deutschland etwa ist dieser Startpunkt der 27.01.2020, also lange nach dem ersten Auftreten in einzelnen chinesischen Provinzen. In den chinesischen Provinzen starten die Verläufe am 22.01.2020, dem Zeitpunkt, an dem die Datenreihen des Center for Systems Science and Engineering (CSSE) der Johns Hopkins University (JHU) beginnen, die den Grafiken zugrunde liegen.

Übersicht

     

  • Letalität eines Erregers – Case Fatality Ratio
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  • Berechnungen der Letalität von COVID-19 im aktuellen Ausbruch
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  • Unsicherheiten in aktueller COVID-19-Epidemie und mögliche Lösungen
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  • Literaturstellen, die zitiert wurden
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  • Weitere Recherchequellen
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Letalität eines Erregers – Case Fatality Ratio

     

  • Wie tödlich – also wie letal – eine Erkrankung oder ein Erreger ist, wird in der Maßzahl case fatality rate (CFR) angegeben. Epidemiologen bevorzugen case fatality ratio als Begriff, weil die Maßzahl keine echte Rate, sondern ein Verhältnis ist [1].
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  • CFR gibt Antwort auf die Frage: Wie viele der mit einem Erreger infizierten Personen sind gestorben?
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  • Einfachste Berechnungsweise: Anteil der Todesfälle an den infizierten Personen;
    in der Praxis häufig in Prozent ausgedrückt (Ergebnis mit 100 multipliziert) [1].
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  • Weitere Berechnungsweisen versuchen Unsicherheiten, die mit dieser einfachen Rechnung einhergehen zu berücksichtigen (siehe nächster Punkt) [3] [4].
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  • Je höher der Anteil, desto schwerwiegender die Erkrankung
  •  

  • CFR hilft Epidemiologen in akuten Ausbrüchen bei der Prognose einer Epidemie/ Pandemie: Wie schlimm verläuft die Erkrankung? Auf wie viele Todesfälle müssen sich beispielsweise die Gesundheitssysteme einstellen?
  •  

Generelle Unsicherheiten in der Berechnung der case fatality ratio

     

  • Nachher ist man immer klüger: Während eines laufenden Ausbruchs ist die Berechnung der case fatality ratio (CFR) natürlicherweise mit Unsicherheiten behaftet. Die einfachste Berechnungsweise nimmt die folgenden Unsicherheiten in Kauf und wird daher auch naive case fatality ratio, nCFR genannt [3] [4].
  •  

  • Anzahl tatsächlich Infizierter meist noch unbekannt [2] [6].
    • Zur korrekten Berechnung nach der oben vorgestellten einfachsten Weise müssten alle tatsächlich Infizierten gefunden werden; bleiben viele Fälle unentdeckt, wird die Letalität überschätzt.
    • Warum Infizierte übersehen werden:
    • Krankheit verläuft mild oder gar asymptomatisch – Infizierte gehen nicht zum Arzt/ merken nicht, dass sie infiziert sind.
    • Keine oder zu wenige Tests werden durchgeführt, also Infizierte werden nicht als solche erkannt und gezählt.
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  • Aufspüren aller Todesfälle notwendig
    • Sollten nicht alle Todesfälle aufgrund der Erkrankungen identifiziert oder der Erkrankung zugeordnet werden, würde die Rate unterschätzt [5].
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  • Andauernde Behandlung im Krankenhaus von bestätigten Fällen
    • Werden viele bereits bestätigte Fälle noch behandelt, also ist ihr Ausgang noch nicht klar, ist die Letalität mit weiterer Unsicherheit behaftet: Es bleibt vorerst unklar, wie viele der Behandelten noch sterben werden, häufig wird die Letalität dann unterschätzt [2] [5].
    • Kommen gegen Ende eines Ausbruchs beispielsweise nur noch wenige neue Fälle hinzu, wird die case fatality ratio steigen, da die Anzahl der Toten wächst, die der Infizierten aber kaum noch; dieser Anstieg zeigt jedoch keine sich erhöhende Infektiosität oder Letalität der Erkrankung an [3],
    • kann jedoch in Berechnungsmodelle einbezogen werden, wenn die Zeit bekannt ist zwischen der Krankenhauseinweisung und Erholung beziehungsweise Tod der Patienten [3] [4].
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  • Verschiedene Definitionen von bestätigten Fällen
    • Falldefinitionen ändern sich innerhalb eines Ausbruchs und differieren zwischen verschiedenen Staaten.
    • Es kann sein, dass anderweitig kranke Menschen fälschlicherweise als Patienten der betreffenden Erkrankung gezählt wurden, wenn gleichzeitig noch weitere ähnliche Erkrankungen auftreten.
  •  

Faktoren, die sich auf die Letalität auswirken [5]:

     

  • Zustand des Gesundheitssystems, in dem ein Erreger auftritt
    • umfassende Testmöglichkeiten = gute Abschätzung der Schwere
    • gute Versorgung von Patienten = weniger Tote
    • hohe Kapazität für Patienten = weniger Tote aufgrund anderer Ursachen
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  • Grundimmunisierung in der Bevölkerung; bestehender Schutz des Immunsystems gegen ähnliche Erreger oder wenn viele Menschen die Infektion bereits überstanden haben
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  • sozioökonomische Faktoren, wie Zugang zu medizinischer Versorgung, Alter, Einkommen
    • besonders das Alter wirkt sich in vielen Fällen auf die Schwere einer Erkrankung aus, da ältere Personen häufig Begleiterkrankungen haben [3].
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  • Bei Erregern, wie Viren: Mutationen im Erbgut; können ihn infektiöser, tödlicher oder auch weniger von einem/beidem werden lassen [6].
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Berechnungen der Letalität von COVID-19

     

  • Wie oben erwähnt ist die Berechnung der Letalität immer mit erheblichen Unsicherheiten behaftet; während einer akuten Epidemie aber noch besonders.
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  • Es ist zu beachten, mit welchem Hintergrund die Daten in verschiedenen Ländern erhoben werden – Testen von Verdachtsfällen im Krankenhaus, von Ansteckungsgefährdeten bei Ärzten oder der Normalbevölkerung bei Screenings.
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  • Zum Vergleich verschiedener Maßzahlen, zum Beispiel zwischen den Ländern, muss Kontext beachtet werden, beispielsweise ähnliche Konstitution des Gesundheitssystem oder die Altersverteilung der Bevölkerung.
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  • Länder mit einer umfassenden Datengrundlage sind beispielsweise China und Südkorea.
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  • Die nachfolgenden Berechnungen sind aufgrund der Unsicherheiten mit Vorsicht zu genießen;
    sie beruhen, wenn nicht anders angegeben, auf den Rohdaten des Dashboards der Johns Hopkins Universität, Stand 10.03.2020, 08:40 [7].
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  • Das SMC hat zusätzlich die kumulierte Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle für ausgewählte Länder in einer Grafik visualisiert; sie wird ab jetzt täglich aktualisiert.
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Weltweite Infektionszahlen

     

  • 114.452 bestätigte Fälle
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  • 4.026 Todesfälle
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  • Letalität (case fatality ratio, CFR) nach einfacher Berechnung: 3,52 Prozent
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  • 64.172 Patienten haben sich erholt
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  • das bedeutet, bei 46.254 Patienten ist weiterhin nicht klar, welchen Ausgang die Erkrankung nehmen wird; die Letalität ist also mit Unsicherheiten behaftet
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China

     

  • Die erste große epidemiologische Forschungspublikation der chinesischen CDC (CCDC) vom 17. Februar 2020 gibt eine Letalität in China von 2,3 Prozent auf der Basis von Daten von 44.672 bestätigten Fällen an. Betrachtet man allein die Fälle aus der Provinz Hubei ergibt sich der CCDC zufolge eine Letalität von 2,9 Prozent, für Fälle außerhalb Hubeis in China von 0,4 Prozent. Die Letalität steigt mit dem Alter an, in der Altersgruppe über 80 Jahre sterben knapp 15 Prozent der Infizierten [8].
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  • Der Bericht der WHO-Expertengruppe (joint mission) gibt am 28. Februar 2020 für Gesamt-China eine CFR von 3,8 Prozent an, für Wuhan 5,8 Prozent an und für alle anderen Regionen in China von 0,7 Prozent [9]
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  • Die aktuellen Zahlen, Stand 10.03.2020, 9 Uhr nach Johns Hopkins Universität:
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  • Gesamtes Festland
    • 80.756 bestätigte Fälle
    • 3.136 Todesfälle
    • CFR: 3,88 Prozent
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  • Region Hubei
    • 67.760 bestätigte Fälle
    • 3.024 Todesfälle
    • CFR: 4,46 Prozent
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  • alle anderen chinesischen Regionen
    • 12.996 bestätigte Fälle
    • 112 Todesfälle
    • CFR: 0,86 Prozent
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  • In China sinkt die Zahl der Neuinfektionen derzeit stark, am 9. März 2020 meldeten die chinesischen Behörden nur noch 19 Neuinfektionen bei 17 SARS-CoV-2 infizierten Verstorbenen. In der Region Hubei steigt die CFR derzeit, weil schwer erkrankte COVID-19-Patienten versterben, aber derzeit kaum noch Neuinfektionen zu beobachten sind.
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Südkorea [10]

     

  • 7.382 bestätigte Fälle
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  • 51 Todesfälle
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  • CFR: 0,69 Prozent
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  • Südkorea ist ein Sonderfall, der für Deutschland hochrelevant ist, denn das Land ist ökonomisch und medizinisch vergleichbar gut aufgestellt. Südkorea hat von Beginn der Epidemie an sehr genau getrackt, wie viele Personen insgesamt pro Tag getestet werden, wie viele davon positiv wie negativ getestet werden [10]. Dort wird zudem ein umfassendes contact tracing betrieben, was eine große Datenbasis schafft.
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  • Schaut man sich die Entwicklung in Südkorea genauer an, erkennt man, dass dort die Anzahl der Neuinfektionen deutlich zurückgeht. Die CFR könnte daher in den nächsten Tagen steigen, wenn die Zahl der Neuinfektionen niedrig bleibt und Menschen sterben, die mit COVID-19-Infektionen im Krankenhaus behandelt werden.
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Italien

     

  • 9.172 bestätige Infektionen
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  • 463 Todesfälle
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  • CFR: 5,05 Prozent
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  • Über 75 Prozent der Fälle in Italien stammen derzeit aus der Altersgruppe über 51 Jahre; 39,2 Prozent aller Fälle sind über 70 Jahre [11]. Ältere Menschen mit Begleiterkrankungen haben ein höheres Sterberisiko, was sich auch schon in China gezeigt hat [8]. Es ist daher wahrscheinlich, dass die milden Fälle in jüngeren Altersklassen noch unterrepräsentiert sind und die CFR daher überschätzt wird.
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  • Die Situation in Italien scheint derzeit Vergleich mit dem frühen Ausbruchsgeschehen in Hubei, China [11]. Es ist unklar, wie viele Tests dort durchgeführt werden. Die Regierung greift aktuell zu drastischen social distancing Maßnahmen und forderte die gesamte Bevölkerung auf, die Häuser nicht zu verlassen [12].
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Iran

     

  • 7.161 bestätigte Infektionen
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  • 237 Todesfälle
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  • CFR: 3,31 Prozent
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  • Es ist unklar, wie viele Tests durchgeführt werden; wie viele milde Fälle übersehen werden.
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  • Vorläufige wissenschaftliche Untersuchungen und Modellierungen schätzen das noch viele Fälle in Iran übersehen werden, auch wenn die Publikation selbst mit großen Unsicherheiten behaftet ist [13].
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Deutschland [14]

     

  • 1.139 bestätigte Infektionen
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  • 2 Todesfälle
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  • CFR: 0,18 Prozent
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  • Die Daten für Deutschland stammen aus dem Situationsreport des Robert Koch-Institutes [14]. Wer aktuell verschiedene Datenquellen, wie situation reports der WHO, das Dashboard der Johns Hopkins Universität, RKI-Zahlen und Zahlen der einzelnen Landesämter vergleicht, wird Abweichungen feststellen, die vorrangig in den Meldewegen begründet liegen.
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  • Nun gibt es auch erste Todesfälle in Deutschland.
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  • COVID-19-Patienten sterben meist an Lungenentzündungen, Atemnot oder Sepsis; je besser das Gesundheitssystem mit spezieller Ausstattung, wie Beatmungsmaschinen auf Intensivstationen, ausgestattet ist, desto mehr Todesfälle können vor allem bei älteren Patienten mit Vorerkrankungen verhindert werden.
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  • Deshalb ist die Altersstruktur eines Landes wichtig, um Schwere der Epidemie abschätzen zu können. Deutschland hat beispielsweise mehr ältere (über 65 Jahre) Einwohner (17,9 Prozent [22]) als China (11,2 Prozent [23]).
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  • Nach aktuellen Zahlen des Robert Koch-Institutes scheint die Altersverteilung in Deutschland von bekannten Verläufen abzuweichen; ein Großteil der 514 bisher detailliert übermittelten Fälle entfallen auf die Altersgruppen 15 bis 59 Jahre; 21 infizierte Kinder (bis 14 Jahre) wurden berichtet [14].
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  • 7 der 346 deutschen Patienten, zu denen klinischen Daten vorliegen, hatten eine Lungenentzündung (2 Prozent); 44 Prozent der Patienten zeigten Fieber als frühes Symptom. Chinesische Daten berichten Fieber als Symptom in 88 Prozent der Fälle [9].
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  • Außerdem scheint auch der Anstieg der Fallzahlen in Deutschland von bisher bekannten Mustern abzuweichen. Die Daten der letzten Tage lassen einen nahezu linearen Anstieg der Fälle erahnen, was im Gegensatz zu bisher bekannten Daten steht. Mögliche Hypothesen zur Interpretation könnten sein, dass zu wenige Tests durchgeführt werden, wir hierzulande also an einer Kapazitätsgrenze immer gleich viele Fälle testen oder, dass das Meldesystem an eine Kapazitätsgrenze stößt, oder dass schon public health Maßnahmen greifen und eine stärkere Ausbreitung verhindert wird. Das ist allerdings reine Spekulation; hier herrscht derzeit noch sehr viel Unsicherheit.
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  • Diese ersten vorläufigen Daten aus Deutschland zeigen, dass sowohl die klinischen Daten, die Altersverteilung der Fälle als auch die Dynamik der Fallzahlen noch stark von den umfangreichen Daten aus China [8] [9] und anderen Ländern für diese Phase abweichen, was für eine sehr vorläufige Beurteilung der Schwere und viel Unsicherheit spricht.
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Unsicherheiten in aktueller COVID-19-Epidemie und mögliche Lösungen

     

Wie viele Infizierte werden übersehen?

     

  • Es ist wichtig zu wissen, ob sich SARS-CoV-2 unerkannt in einer Gesellschaft verbreitet – community transmission genannt –, um die Schwere und das Ausmaß der Epidemie abschätzen zu können. Das hängt wiederum davon ab, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden und ob Menschen ihr Verhalten angesichts der drohenden Risiken verändern. Sollte in mehreren Ländern ausgedehnte Infektionsketten dokumentiert werden, dann wird die WHO SARS-CoV-2 zu einer Pandemie erklären.
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  • Die WHO bestätigt bisher für kein Land eine andauernde community transmission – Definition: Hohe Zahl an Fällen können keiner bekannten Infektionskette mehr zugeordnet werden oder reguläre Monitoringtests in der Bevölkerung fördern unerkannte Fälle zu Tage [15].
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  • Die Daten aus dem joint mission report aus China lassen den Schluss zu, dass es dort kaum unentdeckte Übertragungen gibt [9]. Experten zufolge müssten sich in regulären Monitoring-Proben – auch Surveillance oder Sentinel – viele unerkannte Infektionen finden, was offenbar nicht der Fall war:
    • In Wuhan wurden Proben aus regulären Monitorings von Influenza-ähnlichen Symptomen nachträglich auf Corona getestet; in insgesamt 200 Proben von Anfang November bis Mitte Januar fanden sich 4 SARS-CoV-2 positive Proben in den ersten beiden Januarwochen 2020 (2 Prozent).
    • In Guangdong wurde vom 1. bis 15 Januar 2020 nur eine SARS-CoV-2 positive in 15.000 analysierten Proben gefunden (0,0067 Prozent).
    • Unter 1.910 Proben aus einem Krankenhaus in Peking fand sich vom 28. Januar bis 13. Februar 2020 keine einzige positive Probe.
    • Selbst in Fieberkliniken in Guangdong fanden sich zur Hochzeit des Ausbruchs unter 320.000 Proben 448 SARS-CoV-2 positive (0,14 Prozent)
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  • Auch in Südkorea werden viele Tests durchgeführt und die Ergebnisse in täglichen Berichten detailliert offengelegt [10]
    • Insgesamt liegen dort Stand 09.03.2020, 13 Uhr für 179.160 Tests Ergebnisse vor
    • 7.382 sind positiv (4,1 Prozent)
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  • Auch aus Deutschland liegen erste Abschätzungen zur Verbreitung von COVID-19 vor. Der Präsident des Robert Koch-Institutes Lothar H. Wieler sagte auf einer Pressekonferenz mit Jens Spahn am 09.03.2020, dass freiwillige Tests von deutschen Surveillance-Laboren 25 positive unter 1.000 Proben ergeben haben, das wären 2,5 Prozent [24].
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  • Aber unklar ist:
    • Wer genau in China in Fieberkliniken getestet wurde, also welche Fälle erscheinen in Fieberkliniken? Nur solche mit Fieber? (88 Prozent der Patienten berichten in China Fieber als Symptom [9]). Es soll in 363 Städten 1.512 „designated hospitals“ für COVID-19 und 11.594 Fieberkliniken geben [16]; allein Guangzhou sollen seit dem 30.01.2020 5.000 bis 10.000 Proben pro Tag untersucht worden sein [17].
    • Wer wird in Südkorea getestet?
    • Wie viele Patienten mit milden Symptomen gehen gar nicht erst zu Ärzten oder Kliniken? Denn:
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  • Es gibt viele milde Krankheitsverläufe.
    • COVID-19 verläuft laut aktuellen Daten aus China bei 80 von 100 bestätigten Infizierten mild bis moderat [9], wobei unter diese Definition allerdings auch Lungenentzündungen fallen.
    • Es könnte also nach wie vor sein, dass milde Fälle unentdeckt blieben; vor allem in Ländern, in denen das Gesundheitssystem nicht agil agiert, wenige Tests gemacht werden oder die Viruserkrankung nicht ernst genommen wird. Das war offenbar zu Beginn in den USA der Fall, wo zunächst über Wochen keine brauchbaren diagnostischen Tests verfügbar waren und die Fallzahlen nun seit Beginn der Tests rasch ansteigen.
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  • Hinweise auf unentdeckte Übertragungen
    • Mittlerweile gibt es auch erste Hinweise aus China für eine community transmission
    • In einer kleineren Studie aus Shenzhen konnten über einen Zeitraum von 1,5 Wochen 10 Prozent der COVID-19-Patienten keiner Infektionskette zugeordnet werden. Außerdem sollen nur 13 bis 15 Prozent der Patienten in erster Instanz eine für COVID-19-vorgesehene Klinik aufgesucht haben. In beiden Ergebnissen sehen die Autoren ein erhöhtes Risiko für community trasmissions [18].
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  • Ein Lösungsansatz, um herauszufinden, wie viele Infizierte es tatsächlich gibt – serologische Tests [19]
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  • Serologische Analysen von Blutproben sind extrem wichtig, um den Verlauf der Epidemie im Nachhinein zu verstehen und um zu einer präzisen Einschätzung zu kommen, wie viele COVID-19-Fälle es tatsächlich gegeben hat – also wie hoch die Prävalenz in der Bevölkerung zum Zeitpunkt der Testung ist. Diese serologischen Daten aber bereits im Verlauf der aktuellen Epidemie zu erheben, ist extrem aufwendig.
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  • Es gibt mehrere Arten serologischer Diagnostik, die helfen können, die Anzahl der Infizierten präziser abzuschätzen. Zum einen soll es bald erste Antikörper-basierte Schnell-Tests geben, die das Oberflächenprotein des SARS-CoV-2 (Spike-Protein) anstelle des Erbguts des Erregers erkennen können. Nach einem Abstrich im Rachenraum könnten diese Diagnostika bereits nach wenigen Minuten ermitteln, ob bei einem Ansteckungsverdächtigen eine aktive Infektion vorliegt oder nicht [20].
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  • Zugleich werden derzeit erste serologische Test verfügbar, die selbst bei überstandenen Infektionen den Nachweis erbringen können, ob eine Person mit SARS-CoV-2 infiziert war, die zuvor keine oder nur milde Symptome gezeigt hat. Bei diesem indirekten Nachweis werden Antikörper im Blut von Patienten nachgewiesen, die die Immunabwehr zum Schutz vor dem Erreger während der Infektion gebildet hat.
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  • Serologische Tests müssen vor ihrem Einsatz auf ihre Sensitivität und Spezifität überprüft werden, die wiederum von der Inzidenz und Prävalenz des SARS-CoV-2 in der Bevölkerung abhängen. Werden die Tests nicht validiert, weiß man nicht, wie viele falsch-positive und falsch-negative Ergebnissen es gibt – zum Beispiel wenn kreuzreaktive Antikörper verwendet werden, die auch andere endemische Coronaviren oder weitere Erreger erkennen.
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  • Aus China werden zeitnah Studien benötigt, die vor allem in Wuhan Blutseren von möglichst vielen Menschen untersuchen und nach Antikörpern gegen das SARS-CoV-2 fahnden. Zugleich müssten sie klinische Daten dieser Personen liefern, zum Beispiel auch, wer ein bestätigter Fall war. So könnten sich Forscher weltweit ein erstes Bild davon verschaffen, wie viele Fälle es in der Region in der ausgewählten Gruppe gegeben hat, wie viele davon wirklich symptomatisch und wie viele davon bestätigte Fälle waren. Bisher wurden dazu noch keine Daten veröffentlicht.
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  • Bei Verfügbarkeit eines entsprechenden Tests könnte in Deutschland zunächst eine Sero-Diagnostik bei Blutspendern Auskunft darüber geben, wie viele dieser Personen sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben. Allerdings wäre dieses Ergebnis auch nicht repräsentativ, aufgrund der Verzerrung hinzu gesunden eher jüngeren Blutspendern im Vergleich zur Normalbevölkerung.
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  • Bereits vor dem Ende der epidemischen COVID-19-Welle könnte eine differenzierte serologische Untersuchung in der Bevölkerung abschätzen helfen, ob es Anzeichen für vorbestehende Kreuz- oder Teilimmunität in Teilen der Bevölkerung gibt – etwa bei Kindern.
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  • Für Reihenuntersuchungen benötigte man vor allem „Serolomic Panels“, die mit sehr geringer Serummenge auskommen und differenziertere Ergebnisse zu liefern versprechen als die handelsüblichen ELISA-Diagnostika.
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Wie wird die case fatality ratio berechnet?

     

  • Datengrundlage ist wichtig.
    • Es kursieren verschiedene Quellen von Fallzahlen zu COVID-19, die unterschiedlich schnell neue Fälle berichten und sich selbst auf verschiedene Quellen berufen.
    • Zu kleine Fallzahlen sind ein Problem: Berechnet man beispielsweise die CFR für ein Land mit wenig Fällen, ist die Datenmenge für eine robuste Abschätzung zu klein [3].
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  • Art der Berechnung
    • Wie oben erwähnt, gibt es mehrere Wege, die Letalität zu berechnen.
    • Häufig wird sie nur nach der einfachen Berechnungsart der case fatality ratio angegeben.
    • Manche Berechnungen beziehen aber auch weitere Faktoren ein, wie etwa die Übertragungsrate oder die Zeit der Krankenhauseinlieferung bis Ende der Erkrankung wird einbezogen.
    • Manchmal werden auch Zahlen für einzelne Risikogruppen, wie die ältere Bevölkerung, angegeben.
    • Angaben mit unterschiedlichen Berechnungsweisen sind untereinander nicht vergleichbar.
    • Das bloße Vergleichen der naiven CFR zwischen Ländern führt also ohne fachliche Expertise in die Irre. Ohne Angaben zum Kontext der Daten sollten sie nicht veröffentlicht werden oder zumindest erklärt werden, wo Unterschiede herkommen und Unsicherheiten liegen.
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Wann ist ein COVID-19-Patient infektiös, wie viele weitere steckt er/sie an?

     

  • Am 9. März 2020 erschien als PrePrint-Publikation auf MedRxiv noch ohne Begutachtung eine sehr wichtige Studie über frisch Infizierte, die virologische Ergebnisse aus dem ersten bayerischen Cluster von Patienten beschreibt [21]. Bei diesen zehn Kontaktpersonen von Infizierten in Quarantäne konnte quasi live verfolgt werden, wie sich die Krankheit entwickelte bei milden COVID-19-Verläufen.
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  • Die Pilotstudie erlaubt erste Einsichten darüber, wann Infizierte für andere ansteckend werden. Die Forschenden führten nicht nur PCR-Tests durch, sondern versuchten zudem aus Rachenabstrichen und weiteren Proben Viren zu isolieren. So konnten sie erstmals bewerten, ab welchen Mengen SARS-CoV-2 pro Milliliter sich in der Zellkultur im Labor eine Vermehrung des Erregers nachweisen lassen.
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  • Diese Daten sind entscheiden für die Beurteilung, in welchem Stadium Infizierte erhebliche Mengen an SARS-CoV-2 ausscheiden und damit andere anstecken können
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  • Hohe Virusmengen zu Beginn: Die Forscher stellten sehr hohe Virusmengen fest, die bereits vom frühesten Zeitpunkt der Erkrankung im Rachen der Patienten nachweisbar waren – wenn Menschen im Allgemeinen noch ihren täglichen Routinearbeiten nachgehen.
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  • Erst nach dem fünften Tag ging die Virusausscheidung bei milden Fällen zurück. Zwei schwerere Fälle, die frühe Anzeichen einer Lungenentzündung entwickelten, schütteten bis etwa zum 10. oder 11. Tag weiterhin hohe Virusmengen aus dem Rachen aus.
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  • Das frühe Ausscheiden von infektiösen Erregern aus dem Rachenraum unterscheidet das aktuelle SARS-CoV-2 von seinen Vorläufern, dem SARS-CoV-1 von 2002 /2003 sowie dem MERS-Erreger.
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  • In Rachenabstrichen und im Sputum konnten die Forschenden das SARS-CoV-2 nach acht Tagen nicht mehr nachweisen, wenn Patienten milde Symptome von COVID-19 zeigten. Nicht untersucht wurde in dieser Studie die ebenso wichtige Frage, wie lange schwer erkrankte Patienten infektiös bleiben
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  • Die Autoren schrieben selbst: „Basierend auf den vorliegenden Erkenntnissen könnte eine frühzeitige Entlassung mit anschließender häuslicher Quarantäne für Patienten gewählt werden, bei denen sich über den Tag 10 der Symptome hinaus weniger als 100.000 virale Erbgut-Kopien pro Milliliter Sputum nachweisen lassen“. Nach diesem Zeitpunkt bestehe bei milden Infektionen „ein geringes Restrisiko für eine Infektiosität“ – jedenfalls basierend auf den in der Zellkultur erhobenen Ergebnissen an wenigen Patienten.
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  • Alle Patienten entwickelten zwischen dem sechsten und zwölften Tag der Infektion Antikörper gegen das SARS-CoV-2. Das könnte erklären, warum circa 80 Prozent der bestätigten Infektionen bei Patienten mild bis moderat verlaufen.
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  • Nach bisherigen Analysen steckte ein Index-Patient in China zu Beginn der Epidemie zwischen zwei und drei Personen an (Maßzahl der Basisreproduktionsrate – R0), wenn er mit diesen im engen Austausch steht. Die Daten legen nahe, dass zwischen 5 und 10 Prozent der primären SARS-CoV-2-Fälle andere infizierten und lokale Infektionsketten befeuerten [9]. Public Health Interventionen wirken sich allerdings auf dieses Verhältnis aus, wenn beispielsweise social distancing Maßnahmen ergriffen werden, sollte sie zurückgehen.
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Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Centers for Diseasae Control and Prevention (CDC): Principles of Epidemiology in Public Health Practice, Third Edition. An Introduction to Applied Epidemiology and Biostatistics. Section 3: Mortality Frequency Measures.

[2] Lipsitch M et al. (2009): Managing and Reducing Uncertainty in an Emerging Influenza Pandemic NEJM case fatality rate Influenza. N Engl J Med; 361: 112-115. DOI: 10.1056/NEJMp0904380.

[3] Ghani AC et al. (2005): Methods for Estimating the Case Fatality Ratio for a Novel, Emerging Infectious Disease. American Journal of Epidemiology; 162 (5). DOI: 10.1093/aje/kwi230.

[4] Russel TR et al. (2020): Estimating the infection and case fatality ratio for COVID-19 using age-adjusted data from the outbreak on the Diamond Princess cruise ship. CMMID Reposirotry.
Achtung: Dies ist eine PrePrint-Publikation – sie durchlief somit noch kein peer review Verfahren und ist daher mit Vorsicht zu verwenden.

[5] Battegay M et al. (2020): 2019-Novel Coronavirus (2019-nCoV): estimating the case fatality rate – a word of caution. Swiss Med Wkly; 150: w20203. DOI: 10.4414/smw.2020.20203.

[6] Wang C et al. (2020): A novel coronavirus outbreak of global health concern. The Lancet; 395 (10223), 470-473. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30185-9.

[7] COVID-19 Dashboard des The Center for Systems Science and Engineering (CSSE) der Johns Hopkins University, Baltimore.
Die Entwickler stellen auch Zeitreihen zur Verfügung, in denen Anstiege der Fallzahlen auch pro Land nachvollzogen werden können, bspw. hier:https://bit.ly/2VY0GdM

[8] Feng Z & The Novel Coronavirus Pneumonia Emergency Response Epidemiology Team (2020): The Epidemiological Characteristics of an Outbreak of 2019 Novel Coronavirus Diseases (COVID-19) – China 2020. CCDC Weekly; Vol. 2.

[9] World Health Organization: Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19).

[10] Korea Centers for Disease Control and Prevention – Press Release (09.03.2020): 248 additional cases have been confirmed. The Updates of COVID-19 in Republic of Korea.

[11] Istituto Superiore di Sanità – Comunicato Stampa N° 19/2020 - Un paziente su cinque positivo al coronavirus ha tra 19 e 50 anni. Pressemitteilung auf Italienisch.
Und ein passender Tweet dazu auf Englisch: https://bit.ly/3cNxGeY

[12] Artikel auf Spiegel Online (09.03.2020): Italien weitet "rote Zone" auf das ganze Land aus.

[13] Tuite AR et al. (2020): Estimation of COVID-2019 burden and potential for international dissemination of infection from Iran. DOI: 10.1101/2020.02.24.20027375. MedRxiv.
Achtung: Dies ist eine PrePrint-Publikation – sie durchlief somit noch kein peer review Verfahren und ist daher mit Vorsicht zu verwenden.

[14] Robert Koch-Institut (09.03.2020): Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19).

[15] World Health Organization (09.03.2020): Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report – 49.

[16] Chinesische Internetplattform berichtet: https://m.sohu.com/a/369358510_270757.

[17] Chinesische Internetplattform berichtet: https://www.sohu.com/a/371665939_161795.

[18] Liu J et al. (20202): Community Transmission of Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2, Shenzhen, China, 2020. Emerging Infectious Diseases; 26 (6). DOI: 10.3201/eid2606.200239.

[19] Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health (21.02.2020): Serology testing for COVID-19.

[20] Friebe R (08.03.2020): Forscher entwickeln Coronavirus-Schnelltest. Tagesspiegel.

[21] Wölfel R et al. (2020): Clinical presentation and virological assessment of hospitalized cases of coronavirus disease 2019 in a travel-associated transmission cluster. MedRxiv. DOI: 10.1101/2020.03.05.20030502.
Achtung: Dies ist eine PrePrint-Publikation – sie durchlief somit noch kein peer review Verfahren und ist daher mit Vorsicht zu verwenden.

[22] Statistisches Bundesamt (14.10.2019): Bevölkerung Deutschlands nach Altersgruppen 2018.

[23] Statistisches Bundesamt (10.09.2019): Altersstruktur in China bis 2018.

[24] Phoenix (09.03.2020): Pressekonferenz des Bundesgesundheitsministeriums zur Ausbreitung des Coronavirus. YouTube.

Weitere Recherchequellen

Das gesammelte SMC-Material zum Coronavirus SARS-CoV-2 und der Erkrankung COVID-19 finden Sie unter: https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/coronavirus/