Vermeintlich kein Insektenrückgang in den USA
in den USA ist kein Rückgang der Häufigkeit und der Artenvielfalt von Insekten und anderen Gliederfüßern zu beobachten – so die Interpretation der Daten durch die Autoren der aktuellen Studie (nachträglicher Zusatz zur Ursprungsversion; Anm. d. Red.). Die Ergebnisse dieser aktuellen Auswertung langjähriger Messreihen wurden soeben veröffentlicht. Die Studie scheint somit den Resultaten anderer Studien, vor allem aus Europa, fundamental zu widersprechen.
In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die die Entwicklungen der Anzahl, Häufigkeit, Artenvielfalt und Biomasse der Insekten und Gliederfüßer untersucht haben [a][b][c][d]. Vieles deutet auf einen dramatischen Rückgang der Insekten mit möglicherweise großen Konsequenzen für die Ökosysteme und die sogenannte Ökosystemleistungen hin. Vor allem die Beobachtungen der terrestrischen Insekten gaben dabei vielfach Anlass zur Sorge. Über diese wissenschaftliche Arbeiten wurde häufig mit Begriffen wie „Insektensterben“ oder auch „Insekten-Apokalypse“ berichtet. Auch in wissenschaftlichen Fachjournalen finden sich Formulierungen wie „Ökologisches Armageddon“ [e]. Die meisten dieser Studien untersuchten allerdings Habitate in Europa, aus denen nicht auf den Zustand in anderen Regionen der Erde geschlossen werden kann.
Für ihre aktuelle Studie wertete das AutorInnen-Team Daten aus mehr als 5.300 Zeitreihen für Insekten und andere Gliederfüßer aus, die über 4 bis 36 Jahre an verschiedenen Beobachtungsstandorten gesammelt wurden. Sie beobachten bei einigen Arten und Standorten Rückgänge in Vielfalt und Häufigkeit, bei wiederum anderen Zuwächse oder keine Veränderungen. In der Summe, so die Autoren, „sind die Netto-Trends nicht von Null zu unterscheiden“.
Die Studie wurde im Fachjournal „Nature Ecology & Evolution“ veröffentlicht (siehe Primärquelle).
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am sDiv-Synthesezentrum, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
„Die aktuelle Studie ist eine sehr solide Arbeit! Die Autoren haben eine enorme Menge Daten zusammengetragen, um die Entwicklung der Insektenpopulationen in den USA zu testen. Sie verwenden einige der besten Monitoring-Programme der Welt. Für die meisten der von ihnen verwendeten Datensätze wurden jedes Jahr Daten gesammelt, im Gegensatz zu zum Beispiel der Krefelder Studie, bei der an jedem Standort im gesamten Zeitraum nur zwei oder drei Mal – an manchen nur einmal – gemessen wurde.“
Auf die Frage, inwiefern in der neuen Studie aktuelle dynamische Entwicklungen übersehen werden könnten, weil einige der ausgewerteten Messreihen bereits vor zehn oder mehr Jahren endeten:
„Ich finde die älteren Daten nicht problematisch und sehe auch nicht, warum die Trends in den vergangenen zehn Jahren ausgeprägter geworden sein sollten. Der menschliche Druck auf die Landschaft hat seit mindestens 100 Jahren zugenommen.“
Auf die Frage, inwiefern die vorliegende Arbeit in fundamentalem Widerspruch zu anderen Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit steht, deren Kernaussage häufig ein massives Insektensterben beschrieben:
„Ich glaube nicht, dass es eine grundlegende Unstimmigkeit zwischen dieser aktuellen Studie und anderen neueren Arbeiten gibt. Es ist wichtig zu erkennen, dass es in der aktuellen Studie um die Trends einzelner Arten geht und nicht um Gesamtmasse der Insekten und anderer Gliedertiere. Was sich zeigt, ist nicht nur, dass es an verschiedenen Orten sehr unterschiedliche Trends gibt, sondern auch, dass verschiedene Arten sehr unterschiedlichen Entwicklungen unterliegen. Diese sind selbst so unterschiedlich, dass sie sich oft gegenseitig aufheben und dass es somit keinen allgemeinen, richtungsweisenden Trend gibt, wenn man alle Arten und alle Standorte zusammen betrachtet. An einigen Standorten gibt es bei mehr Arten Zuwächse als Rückgänge, an anderen Standorten ist es umgekehrt. Trotzdem kann es noch immer so sein, dass die Gesamtmenge der Insekten abnimmt, obwohl genau gleich viele Arten zunehmen wie abnehmen. Allerdings passiert das nur, wenn die häufigeren Arten stark abnehmen. Die Ermittlung eines allgemeinen Richtungstrends hängt also stark davon ab, welche Daten einbezogen werden.“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„Ich denke, die allgemeine Landschaft in den USA ist der in Europa sehr ähnlich, mit einem ähnlichen Druck auf die Natur. Dennoch glaube ich nicht, dass die Ergebnisse zu den Biodiversitäts-Trends an einem Ort auf andere Regionen übertragen werden können. In Europa sind die Trends auch nicht überall gleich.”
„Für mich besteht die Hauptbotschaft der aktuellen Studie darin, dass sich die Trends in der Insektenhäufigkeit und -vielfalt von Ort zu Ort und von Art zu Art stark unterscheiden. Und das stimmt mit dem überein, was wir in unserer globalen Analyse gefunden haben. Ich denke, diese Studie macht deutlich, dass wir nicht von einem allgemeinen Insektenrückgang sprechen können. Rückgänge sind standortspezifisch und haben daher wahrscheinlich unterschiedliche Ursachen.“
„Es wird keine Patentlösung geben, um den Insekten zu helfen. An jedem Standort müssen wir genau schauen, ob es ein Problem gibt, was die Ursache ist und was wir dagegen tun müssen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir beginnen, den Rückgang der Insekten als das komplexe Problem zu behandeln, das es ist, und uns nicht auf Einzelstudien, Durchschnittswerte und Extrapolationen verlassen. Es sind über eine Million Insektenarten bekannt, und mindestens fünf Millionen Arten sind unbeschrieben. Jede dieser Arten hat ihre eigenen Bedürfnisse und Bedrohungen. Insekten so zu behandeln, als seien sie alle gleich, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich.”
Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
„Diese Meta-Analyse und einige weitere [1][2] verdeutlichen, dass es keinen global einheitlichen Insektenschwund gibt. Diesen globalen Analysen gemeinsam ist, dass es lokal und regional kontrastierende Trends gibt, mit stark abnehmenden, aber auch stark zunehmenden Häufigkeiten und Artenzahlen in den vergangenen Jahrzehnten.“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„Es gibt grundsätzliche Unterschiede in der Landnutzung zwischen Ländern wie den USA und Europa. In den USA wird genau getrennt zwischen großen, alten Naturschutzgebieten und Regionen mit sehr intensiver Landwirtschaft, bei der jeder kleine grüne Rest entfernt wird. Dagegen blieb in Mitteleuropa über die letzten Jahrtausende kein Flecken Land unberührt, und der Naturschutz war schon immer stark mit der Landnutzung verbunden. Traditionelle Nutzflächen wie die Magerrasen gehören zu den artenreichsten Lebensräumen und Ackerwildkräuter zu den gefährdetsten Pflanzenarten.“
„Deshalb könnte einer der Gründe für die gefundenen Unterschiede sein, dass in den USA eine größere Kontinuität der Flächennutzung besteht: Zum einen große und stabile Schutzgebiete, zum anderen artenarme Monokulturen. In Mitteleuropa gibt es starke regionale Kontraste und eine sich relativ kurzfristig ändernde Politik und Realität der Flächennutzung, was manche Unterschiedlichkeit in den Trends erklären mag.“
„Diese Studie gibt keinen Anlass, die Berichte zum starken Insektenrückgang infrage zu stellen – aus vielen Gründen, auf die ich kurz eingehen möchte.“
„Diese großräumigen Meta-Analysen können die Bedeutung und Verlässlichkeit der regionalen Quantifizierungen zu den riesigen Verlusten bei den Insekten und anderen Artengruppen nicht relativieren. Wenn uns an der Vielfalt der Arten und ihren Funktionen gelegen ist, dann besteht hier nach wie vor dringender Handlungsbedarf!“
„Solche systematischen Monitorings berücksichtigen meist nur Lebensräume, die über die Jahre und Jahrzehnte relativ stabil geblieben sind – sonst könnten kaum kontinuierlich Daten über lange Zeiträume gesammelt werden. Dramatische Naturzerstörungen wie das Austrocknen von Bächen oder Teichen, das Umbrechen von Grünland oder das Abholzen von Wäldern sind nicht dabei, auch wenn solche radikalen Lebensraumzerstörungen alltäglich zu beobachten sind und unweigerlich ein dramatisches Artensterben zur Folge haben. Das gilt insbesondere für die fortlaufende Zerstörung tropischer Regenwälder mit ihrem unvorstellbar großen Artenreichtum.“
„Grundsätzlich muss bedacht werden, dass bei Trends in der Biomasse die Massenvermehrungen einzelner Arten das Bild bestimmen und damit verfälschen können. Ähnliches gilt für Trends in den Artenzahlen, bei denen nicht zwischen Allerwelts-Arten und gefährdeten Arten unterschieden wird.“
„Zudem haben solche Meta-Analysen zwar den Charme der großen Datenmengen und der Möglichkeit zur Verallgemeinerung, aber es bleibt fast immer unklar, welche Umweltfaktoren die beobachteten Trends verursachen.“
„Eine rühmliche Ausnahme sind die aktuellen Daten aus den Biodiversitäts-Exploratorien. Seibold et al. [c] konnten für Grünland zeigen, dass in drei deutschen Regionen 67 Prozent der Biomasse und 34 Prozent der Insektenarten in den letzten zehn Jahren verloren gingen, wobei die meisten Verluste in ausgeräumten, durch Ackerflächen dominierten, nicht aber in strukturreichen Landschaften zu verzeichnen waren.“
„Dieses Resultat belegt ein weiteres Mal den großen Einfluss einer vielfältigen Landschaft. Alle Lebensräume – ob Acker oder Naturschutzgebiet – weisen in ausgeräumten Landschaften sehr viel weniger Arten auf als in bunten, vielfältigen Landschaften – ein stabiles Muster, wie viele unserer eigenen Arbeiten hier in der Agrarökologie der Universität Göttingen belegen.“
Professor für Naturschutzbiologie, Fach Biogeographie, Fachbereich Raum- und Umweltwissenschaften, Universität Trier, und Vorsitzender des IUCN SSC Invertebrate Conservation Committee (Komitee zum Schutz wirbelloser Tiere des Weltnaturschutzverbands IUCN)
„Die Autoren haben einige sehr unterschiedliche Datensätze kombiniert, wobei bestimmte Datenreihen den Gesamtdatensatz stark dominieren. Mehr als die Hälfte der Datensätze machen zum Beispiel das Blattlaus-Monitoring im Mittleren Westen, das Moskito-Monitoring in Baltimore im Bundesstaat Maryland und urbane Insekten in Phoenix im Bundesstaat Arizona aus. Auch aus Europa wissen wir, dass die Bestandssituation von Insekten in Städten oft deutlich besser ist als auf dem Land. Die zum Beispiel von Hallmann et al. [b] untersuchten Fluginsekten kommen in der Analyse so gut wie nicht vor. Stattdessen spielen zum Beispiel Bodenfallen eine stärkere Rolle, bei denen auch in Deutschland nicht solch dramatische Trends wie bei den Fluginsekten gefunden wurden. Auch weisen die Autoren darauf hin, dass zum Beispiel einzelne gebietsfremde – also invasive – Insektenarten teilweise die Daten stark dominieren. Generell halte ich es für problematisch, zu unterschiedliche Datensätze zu kombinieren, wie dies hier getan wurde. Wenn Zunahmen invasiver Schädlinge die Rückgänge seltener Nützlinge kompensieren, ist dem Naturschutz wenig geholfen.“
Auf die Frage, ob die scheinbare Botschaft der Studie sich von der anderer Studien unterscheidet, weil im Gliederfüßer-Monitoring auch Tiere wie Krabben berücksichtigt wurden:
„Ich glaube nicht, dass die Berücksichtigung von Krebstieren einen starken Einfluss auf die Aussage im Allgemeinen hat. Der Rückgang von Insekten ist ja durch zahlreiche Studien gut belegt und auch die Roten Listen bestätigen seit Jahrzehnten diesen Trend.“
„Der in der Vergangenheit genutzte Begriff ‚Insekten-Apokalypse‘ ist sicher überdramatisiert – stammt aber auch eher aus den Medien als aus der Wissenschaft. Tatsächlich ist es aber schwierig, einen globalen Überblick zum Insektenschwund zu zeichnen, da es in den meisten Regionen der Erde keine Daten hierzu gibt. Alle bekannten Studien stammen aus Nordwest-Europa oder Nordamerika und selbst diese beruhten nicht auf einem standardisierten Monitoring, sondern auf zahlreichen – oft sehr unterschiedlichen – Einzelstudien. So lagen zum Beispiel die Untersuchungsgebiete der Studie von Hallmann et al. [b] überwiegend im dicht besiedelten und hoch industrialisierten Nordrhein-Westfalen.“
„Die Autoren der aktuellen Studie weisen – wie viele andere Wissenschaftler auch – auf die Notwendigkeit eines standardisierten Monitorings hin und auch auf die Schwachstellen ihrer eigenen Studie. Dies zeigt, dass man bei Aussagen zum Insektensterben stark differenzieren muss. Auch in den Daten der nun vorliegenden Arbeit kam es zu Rückgängen von Insekten – wie zum Beispiel im Sevilleta-Schutzgebiet in New Mexico –, die aber durch Zunahmen in anderen Orten ausgeglichen wurden. Daher ist es umso wichtiger, genauer zu schauen, welche Arten wo zurückgehen und welche zunehmen.“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„Die USA haben bei der Intensität der Landwirtschaft und Urbanisierung viele Parallelen zu Europa, sind jedoch auch in großen Regionen weniger stark besiedelt. Auf den ersten Blick sind die Unterschiede in den Ergebnissen daher überraschend. Schaut man die Daten aber im Detail an, so sieht man, dass hier ganz unterschiedliche Artengruppen berücksichtigt wurden als in den bisherigen Studien und auch andere Zeiträume und Lebensräume – zum Beispiel urbane Räume. Es ist gut zu wissen, dass zum Beispiel die Häufigkeit von Insekten in Fließgewässern von 1984 bis 1998 gestiegen ist und die von Borkenkäfern von 1975 bis 2012 fiel. Es ist jedoch wenig hilfreich, beide Datensätze zu kombinieren und zu dem Schluss zu kommen, dass es insgesamt keinen Trend gibt.“
„Dass zahlreiche Insektenarten weltweit gefährdet sind, ist, wie auch der Rückgang von früher häufigen Arten, unbestritten. Auch die Autoren der aktuellen Studie bestätigen dies und weisen darauf hin, dass es zu starken Veränderungen der Artengemeinschaften und Ökosystem-Funktionen kommen kann. Generell gibt es auch bei uns in Deutschland Verlierer und Gewinner des globalen Wandels. Einige Arten, die früher auf den Roten Listen standen, zeigen plötzlich zunehmende Tendenzen, während andere zurückgehen. Dies lässt sich schön an Tagfaltern zeigen: So nimmt in Europa der Bestand des früher gefährdete Großen Fuchs (Nymphalis polychloros) seit einigen Jahren zu, während der des früher sehr häufige Kleinen Fuchs (Aglais urticae) nun abnimmt. Nur wenn wir die Hintergründe dieser Trends verstehen, können wir auch Maßnahmen ergreifen, um Arten zu schützen. Tatsächlich gibt es also auch immer wieder positive Nachrichten – teils auch als Folge von Naturschutzmaßnahmen. Diese Form der Differenzierung wird in der öffentlichen Debatte leider häufig ausgeklammert, da die Sachverhalte nun mal komplexer sind als die einfache Message der ‚Insekten-Apokalypse‘.“
Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
„Ich finde die Kernaussage ‚Kein Rückgang von Insekten in den USA‘ beunruhigend und auch, dass die Autoren schreiben, es sei beruhigend, dass die ‚amerikanischen Gliederfüßer offensichtlich robust sind‘. Anhand der Daten und Ergebnisse lassen sich solche starken Aussagen nicht treffen.“
„Im Gegensatz zur Krefeldstudie [b], die mit einer einheitlichen Methodik Daten erhoben hat, bringen die Autoren Daten von unterschiedlichen Gliederfüßern und unterschiedlichen Fangmethoden zusammen. Darunter Datensätze, die nur Mücken oder nur Zecken oder Blattläuse erfasst haben – also Gruppen, die kaum oder gar nicht gefährdet sind oder von menschlichen Einflüssen profitieren. Datensätze von Fluginsekten, die in den deutschen Studien untersucht wurden und starke Rückgängen aufwiesen, werden in der aktuellen Studie nicht betrachtet. Aussagen über den Zustand von Bienen, Nachtfaltern oder Schmetterlingen in den USA können durch diese Studie nicht gegeben werden.“
„Zeitreihen aus verschiedenen Datensätzen sind generell schwer zu analysieren und dementsprechend sehr schwer zu interpretieren. In dieser Studie wurde nicht unterschieden, ob die ersten Datenpunkte 1980 oder 2020 erhoben wurden.“
„Populationsentwicklungen von Insekten und Gliederfüßer sind extrem variabel. Die deutsche Krefeldstudie und auch die deutsche Studie aus den DFG-Biodiversitäts-Exploratorien [c] haben Fluginsekten betrachtet. Van Klink und Autoren [d] haben verschiedene Datensätze und Insekten angeschaut und keine Rückgänge im Gewässer gefunden. Wir wissen, dass es in Zeitreihen Ab- und Zunahmen gibt. Die prozentualen Entwicklungen, also wie viel zum Beispiel die Biomasse abgenommen oder zugenommen hat, werden in die gesellschaftlichen Diskussionen oder den politischen Raum geworfen, ohne dass diese reflektiert werden. Ich finde die Analysen von Zeitreihen – ohne zu schauen welche Arten betroffen sind und ohne die Ursachen eingrenzen zu können – ermüdend. Sie bringen die Debatte nicht weiter.“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„In diese Studie sind Standorte eingeflossen, die für ökologische Studien eingerichtet wurden. Ein Teil davon liegt in für Europa riesigen Gebieten, die nicht direkt genutzt werden. Dies kann mit unseren kleinen Schutzgebieten nicht verglichen werden. Andere Flächen liegen aber auch in urbanen Räumen. Die Landnutzung in den USA war schon lange vor der Einrichtung der Studienstandorte intensiv. In urbanen Räumen wird heute teilweise sehr viel für die Umwelt und Biodiversität in den USA getan. Es ist kein Wunder, dass manche Datenreihen in dieser Studie Zunahmen finden. Es gibt aber auch in dieser Studie Datenreihen mit Abnahmen und viele, die keinen Trend zeigen. Es kommt nicht so sehr darauf an, auf welchem Kontinent geschaut wird, sondern welche Standorte und Organismen/Arten untersucht werden.“
„Die aktuelle Studie aus den USA zeigt Rückgänge, Zunahmen und keine Veränderungen in Populationen verschiedener Organismen. Wenn dies alles zusammengefasst wird, ergibt das mathematisch ‚Kein Netto-Rückgang bei Insekten in den USA‘. Ganz einfach gesprochen: Ich finde es persönlich schlimm, wenn wir immer mehr Mücken, Zecken und Blattläuse bekommen, aber meine liebsten Bienen- und Schmetterlingsarten kaum noch zu finden sind.“
Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie und multitrophische Interaktionen, Institut für Landschaftsökologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
„Die Studie ist meiner Ansicht nach kein gutes Beispiel wissenschaftlicher Praxis. Die LTER-Flächen (Long Term Ecological Research Sites) gibt es schon sehr lange und sie sind ursprünglich nicht dafür angelegt worden, um dort Insekten zu fangen – vielmehr dienten sie überaus unterschiedlichen Zielen. Die Studie wirkt so, als hätte man ‚alles zusammengekratzt‘, was irgendwie nach Insekt klingt. Herausgekommen ist ein buntes Potpourri aus Mückenlarven, Krabbengängen, Heuschrecken in Keschern, Zecken auf dem Arm, Flusskrebsen, Stadtmoskitos und Insekten unter Steinen in Fließgewässern. Hierbei wird – das geben die AutorInnen sogar selbst zu – die reine Abundanz (Häufigkeit, Anzahl der Individuen einer Art; Anm. d. Red.) von Gliederfüßern und Insekten mit deren Aktivität vermischt. All diese Daten verschiedenster Quellen wurden über einen Kamm geschoren – wohlgemerkt: An jedem Standort wurde etwas völlig anderes gemessen!“
„Nun mag man anmerken, dass dies auch in anderen Fächern bei großen Meta-Analysen so passiert. Selbst wenn man also akzeptiert, dass so eine bunte Datenmischung Sinn macht, so gibt es noch ein weiteres Problem: Aus einer Vielzahl anderer Studien ist bekannt, dass durch globalen Wandel und Verlust an Pflanzenarten ganz allgemein die ‚Allerweltsarten‘ und Schädlinge zunehmen – mehr Blattläuse, mehr Schadinsekten in der Landwirtschaft –, während seltenere Arten von naturschutzfachlicher Relevanz massiv abnehmen. Dies zeigt sich zum Beispiel in intensiv landwirtschaftlich genutzten Gegenden Deutschlands, wo außer Kohlweißling und Zitronenfalter bald keine anderen Schmetterlingsarten mehr fliegen. Fügt man die Zunahme der ‚Allerweltsarten‘ und die Abnahme seltenerer Arten in Form einer Trendanalyse zusammen, ergibt sich Null. Insgesamt gesehen bestätigt sich das englische Sprichwort: ‚rubbish in - rubbish out‘ – eine feinsinnige Analyse vergleichbarer Gruppen von Insekten über größere Zeiträume und geographische Gradienten hinweg jedenfalls hätte anders ausgesehen.“
„Ein Hauptproblem bei allen Insekten-Monitoring-Studien der vergangenen Zeit ist, dass es ganz einfach an Daten fehlt, die lang genug und mit konsistenter Methodik an genügend verschiedenen Orten aufgenommen wurden. Das ist auch das Ergebnis einer Politik, in der ‚Schmetterlingszählen‘ als wertlose Aktivität betrachtet wurde. Heute tun wir uns deshalb schwer, vergleichbare Aussagen zu treffen, weil die meisten Staaten nicht in umfangreiche Monitoring-Programme investiert haben. Die aktuelle Studie erlaubt keine ‚globalen‘ Schlussfolgerungen, da sie nur in ausgewählten Gegenden Nordamerikas durchgeführt wurde. So fehlen beispielsweise Alaska und fast der gesamte Nordwesten der Vereinigten Staaten. Qualitativ hochwertigere Studien wie von Seibold [c] und van Klink [d] zeigen sehr wohl deutliche Trends und erlauben kausale Schlussfolgerungen. Die Daten der verschiedenen Studien müssen dringend in eine globale Datenbank zusammengeführt werden, um daraus kontinuierlich Bestandstrends ableiten zu können.“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„Ein wesentlicher Unterschied hier in Europa ist der Wegfall der Flächenstilllegungs-Prämien im Jahr 2008. Seitdem erleben wir überall in Europa dramatische Rückgänge bei Insekten und Vögeln – sogar Jäger sind inzwischen schon alarmiert, weil es immer weniger Niederwild gibt. Dass es in Europa fast kein Brachland mehr gibt, war eines der größten Versäumnisse der EU-Agrarpolitik.“
„Ein kausaler Vergleich der Einflussfaktoren in den USA und in Europa ist schwer zu führen – hierzu sind flächendeckende Stichprobenprogramme nötig. Doch selbst ein ‚perfektes‘ Monitoring – wie zum Beispiel in Österreich oder in der Schweiz – reicht nicht aus, um dem Rückgang der Biodiversität Einhalt zu gebieten: So ist in der Schweiz im laufenden Jahr 2020 das Rebhuhn endgültig ausgestorben, trotz groß angelegtem Biodiversitäts-Monitoring. Wir brauchen also eine Kombination aus schlagkräftigem und stichhaltigem Monitoring und aktivem Gegensteuern gegen den Biodiversitätsverlust. Wir können es uns nicht leisten, noch weitere Jahre zu überlegen, ob alles wirklich so schlimm ist oder nicht. Lieber einmal zu viel Biodiversität gerettet, als morgen den letzten Schmetterling begraben.“
„Es wäre eine Katastrophe, wenn man nun die Hände in den Schoß legen würde. Wir leben in komplexen interagierenden Systemen, die durch Klimawandel und Landnutzungswandel massiv verändert werden. Es wäre Augenwischerei, von ein paar Moskitos und Krabbengängen darauf zu schließen, dass die globale Biodiversität nicht gefährdet wäre.“
Stellvertretender Departmentleiter Biozönosenforschung, Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Halle, und Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)
„Die aktuelle Studie zeigt zuallererst – wie viele andere Studien auch – wie wichtig eine differenzierte Analyse von Insektentrends ist. Eine summarische Betrachtung der Biomasse wie bei Hallmann et al. [b] kann daher auch nur ein erster Schritt sein, der uns mit dem Phänomen des Insektenrückgangs und seinen vielen Facetten konfrontiert. Die Trends werden auch bei den Detaildaten von Hallmann ein differenzierteres Bild liefern, doch sind diese noch in Bearbeitung – und man kann eine solche Studie ja nicht dafür kritisieren, dass sie einen ersten Schritt darstellte. Kritik gebührt viel eher der bis vor kurzem sehr ausgeprägten Ignoranz bezüglich wichtigen Anliegen, wie zum Beispiel dem systematischen Monitoring von Insekten – ein Sachverhalt, der auch von den Autoren der aktuellen Studie angemahnt wird, vor allem für Regionen außerhalb Europas, was es hier bei uns aber nicht weniger wichtig macht.“
„Idealerweise hat man lange zurückreichende Datensätze, aber in der Wirklichkeit gibt es vor allem aus neuerer Zeit – also den letzten Jahrzehnten – mehr Informationen. Sind dann noch ältere Datensätze vorhanden, sind diese wertvoll, selbst dann, wenn sie vor einiger Zeit schon endeten. Da die Veränderungen in der Insektenwelt oft in ganz verschiedenen Perioden stattfanden – nämlich vor allem dann, wenn entsprechende menschliche Eingriffe auf großer Fläche stattfanden –, wäre es gut, parallel zu beziehungsweise in Folge dieser Veränderungen Daten zu haben.“
„Sind die Daten zudem sehr detailliert – also beispielsweise auf Artniveau –, kann man viel aussagekräftiger vorgehen. Betrachten wir zum Beispiel die Biomasse von Nachtfaltern in Regionen Deutschlands, in denen Schwammspinner, Prozessionsspinner oder Buchsbaumzünsler massiv auftreten, dann wird klar, dass eine Zunahme eben dieser Biomasse nicht unbedingt ein positives Zeichen ist.“
„Wie so oft muss man auch hier genauer hinsehen. Nehmen wir beispielsweise von IPBES (dem Weltbiodiversitätsrat, ähnlich dem Weltklimarat IPPC; Anm. d. Red.) den Bericht zur Bestäubung [a] und das globale Assessment [3]: Bezüglich Bestäubung sowie weiterer Ökosystemleistungen schreiben die Autoren der aktuellen Studie, dass nach wie vor Grund zur Sorge besteht, zumal Insektenarten die für die Bereitstellung der Schlüsselleistungen wie Bestäubung, biologische Schädlingskontrolle und Zersetzung unbestreitbar auch in Nord-Amerika zurückgehen – und diese Gruppen sind auch in ihrem Datensatz wenig repräsentiert.“
„Denken wir nur an die natürlichen Gegenspieler der Blattläuse – also zum Beispiel Schlupf- und Erzwespen – und die wichtigste Bestäubergruppe, die Wildbienen, so kommen diese in den Analysen praktisch nicht vor. Schmetterlinge, die auch als Bestäuber wichtig sind – vor allem die Nachtfalter –, zeigen auch in der vorliegenden Arbeit einen negativen Trend.“
„Im Rahmen des globalen Assessments [3], wird sehr zurückhaltend angenommen, dass zehn Prozent der Insektenarten in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht sind. Das ist eine Aussage, die vor allem für Arten, die in ihrer Verbreitung stark zurückgehen – deren Zahl immer mehr zunimmt – und oft auch spezialisierte Arten zutreffend sein dürfte.“
„Zu beiden erwähnten Berichten stehen die Aussagen von der Autoren der aktuellen Studie in keinem Widerspruch beziehungsweise werden von den Autoren sogar bestätigt – wie für die Bestäuber. Auch hier geht es darum, genau hinzusehen, welche Aussagen tatsächlich gemacht werden.“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„Die Vergleichbarkeit der Situationen in USA und Europa ist nur bedingt gegeben. Beide Regionen haben eine doch deutlich verschiedene Landnutzungsgeschichte. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Prärien urbar gemacht und es erfolgte auch ein dramatischer Wechsel der Insektenbestände – wie auch von den Autoren der aktuellen Studie erwähnt wird. Der Wandel in den USA war also drastisch – also riesige Flächen betreffend – und vollzog sich in kurzer Zeit, während die europäische Kulturlandschaft durch den Menschen sehr allmählich geschaffen wurde. Der Wandel vollzog sich langsam und war in kurzen Zeitintervallen nie so großflächig wie in den USA. Das bedeutet auch, dass sich die Veränderungen langsam vollzogen und bis in das frühe 19. Jahrhundert sogar erst einen großen Teil der Insektenvielfalt in Europa ermöglichten und später durch Intensivierung und Nutzungsaufgabe die Bestände zurückgingen. Als Resultat würde ich erwarten, dass die massiven Rückgänge in den USA wesentlich früher lagen – weshalb auch Datensätze aus früheren Zeiten wichtig sind, selbst wenn sie nur über kürzere Zeiträume erhoben wurden.“
„Eine Bewertung der Lage bedarf immer einer differenzierten Betrachtung. Wenn die Zunahme von Insekten bedeutet, dass wir zum Beispiel viel mehr land- oder forstwirtschaftliche Schädlinge haben, dann dürfte das von einer Mehrheit als schlimm empfunden werden – und wenn parallel dazu zum Beispiel Bestäuber oder natürliche Feinde abnehmen ebenso.“
Leiter der Arbeitsgruppe Ökotoxikologie und Umwelt, Institut für Umweltwissenschaften, Universität Koblenz-Landau
„Die aktuelle Studie aus dem Landwirtschaftsministerium der USA analysiert Zeitreihen von Insekten-Erfassungen, die zum einen aus ungestörten Gebieten wie Taiga, Prärien oder Wüsten stammen, die aber auch urbane und landwirtschaftliche Gebiete mit einschließen. Es ist beruhigend zu erfahren, dass bei zum Beispiel Grashüpfern und Rindenkäfern in entlegenen Gebieten der USA über Jahrzehnte kein Rückgang verzeichnet wurde.“
„Mit 60 Prozent besteht der größte Anteil der Zeitreihen allerdings nicht aus Daten, die in den ökologischen Langzeitforschungsstationen der USA gewonnen wurden, sondern aus Aufnahmen von Blattlaus-Populationen, die als Schädlinge in der Getreideregion der USA erfasst werden. Beachtlich dabei ist, dass trotz massivem Pestizid-Aufwand im Mittleren Westen die Anzahl an Blattläusen in den vergangenen 20 Jahren nicht zurück gegangen ist – wohl begründet durch die Zunahme einzelner, invasiver Blattlausarten. In die Studie gehen also hauptsächlich die Erfassungen von Schadinsekten wie Blattläusen oder Schmetterlingslarven ein, aber auch Zecken, Stechmücken, Ameisen und Krabben werden analysiert.“
„Nach Auswertung dieser ausgewählten Zeitreihen kommt das Autorenteam zum Schluss, dass in den USA kein Rückgang der Gliederfüßer festzustellen ist. Ob damit das Insektensterben zu einem ausschließlich europäischen Thema gemacht werden soll, bleibt offen. Dass dies in keinem Fall so ist, zeigen belastbare Daten aus dem einzigen kontinuierlichen Monitoring für Schmetterlinge in den USA, das einen klaren Rückgang dieser Bestäuber-Insekten um über 30 Prozent in 21 Jahren verzeichnet [4].“
„Die Ergebnisse der aktuellen Studie mit der Betrachtung vor allem von Blattläusen sollten eher Anlass zum Überdenken des Insektizid-Einsatzes im Getreideanbau der USA geben und eine Umstellung der Landwirtschaft anregen. Ein Rückschluss auf die angebliche Stabilität der Insektenpopulationen in den USA lässt sich hieraus nicht ableiten.“
Direktor des Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut, Müncheberg
„Die aktuelle Studie im Fachjournal ‚Nature Ecology and Evolution‘ ist ein lesenswerter Artikel. Sie fußt auf einer großen Datenbasis, die auch statistisch sauber aufbereitet ist, soweit ich dies beim Lesen nachvollziehen kann, ohne mich intensiver ins Methodische vertieft zu haben. Jedoch hat dieser Artikel mehrere Schwachstellen, die aber auch ehrlicherweise von den Autoren in der Diskussion zumindest angeschnitten werden.“
„Somit widerlegen die Autoren die Hauptaussage in ihrer für meinen Geschmack etwas zu reißerischen Einleitung, nämlich dass der drastische Insektenrückgang in Europa nicht auf Nordamerika zutreffen würde und Europa hiermit eher die Ausnahme darstellen würde und nicht die Regel. Eine Schwachstelle der Datengrundlage ist meiner Meinung nach, dass es sich bei den Datenreihen aus den USA entweder um Erhebungen in intensiv bewirtschafteten Gebieten handelt oder um (teilweise sehr) große naturnahe oder natürliche Bereiche.“
„In der Intensivlandwirtschaft wurden die natürlichen Populationen von Insekten schon vor längerer Zeit so stark dezimiert, dass es hier kaum zu aktuellen starken Einbrüchen kommen kann. Die großen naturnahen Flächen hingegen sind oftmals so ausgedehnt, dass sie nur wenig, wenn überhaupt, von Veränderungen betroffen sind. Ähnliche Verhältnisse gibt es auch in Europa. Besonders gravierend sind die Einbrüche in den europäischen Studien nämlich dann, wenn kleine naturnahe Bereiche in eine intensiv genutzte Matrix eingebettet sind. Solche Flächen scheinen jedoch in der US-Studie weitgehend zu fehlen.“
„Auch muss konstatiert werden, dass die längste Datenreihe bis ins Jahr 1975 zurückreicht, und diese ist aus Alaska, also einem kaum durch intensive Landwirtschaft veränderten Raum. Alle andere Zeitreihen beginnen frühestens in den 1980er Jahren, meist sogar noch später und sind oft auch recht kurz. Somit erlauben sie keinen echten Rückblick, der den Industrialisierungsprozess in der Landwirtschaft wirklich abbildet und somit ein konsistentes Bild abgeben könnte. Auch müssen Studien wie die vorgelegte durch die Meta-Ebene, auf der sie erfolgen, etliche Aspekte ausblenden. So können die Verluste von Arten, die auf den Landnutzungswandel sensibel reagieren, durch die Aggregierung nicht wirklich dargestellt werden. Eine wirkliche ökologische Interpretation des Zustandes der Insektenbestände in den USA ist somit durch die vorgelegte Arbeit nur eingeschränkt möglich.“
„Insgesamt begrüße ich die vorgelegte Studie, sehe aber ihre Interpretation teilweise als kritisch an. Insbesondere sehe ich die Gefahr, dass die Ergebnisse durch die Art und Weise, wie sie eingeleitet werden, von den Leugnern der Biodiversitäts-Krise, in der wir uns definitiv befinden, missbraucht werden könnte. Das wollen die Autoren der Studie sicherlich nicht.“
Leiter des Fachgebiets Chemische Ökologie, Instituts für Biologie, Fakultät für Naturwissenschaften, Universität Hohenheim
„Die aktuelle Studie ist aus meiner Sicht mit den Arbeiten von Hallmann [b] und Seibold [c] zu den Abnahmen der Bestände von Insekten beziehungsweise Gliederfüßern (Arthropoden) in Deutschland nicht vergleichbar. Beide Arbeiten untersuchten über längere Zeiträume mit hochgradig standardisierten Methoden jeweils ganze Lebensgemeinschaften und kamen zu gut begründeten Ergebnissen.“
„Die Methodik der aktuellen Metastudie von ist dagegen hochproblematisch. Die Studien, die in ihre statistische Analyse einfließen, sind eine geradezu vogelwilde Mischung aus nicht miteinander vergleichbaren Erhebungen, in denen völlig unterschiedliche Taxa über völlig unterschiedliche Zeiträume mit völlig unterschiedlichen Methoden untersucht wurden.“
„Viele der Studien sind aufgrund der gewählten Methoden, Standorte, Zeiträume und Arten ungeeignet, die Hypothese eines möglichen Insektenrückganges zu untersuchen: Aus einer Untersuchung der Moskitoeier in 800-Milliliter-Getränkebechern in einer urbanen Umwelt (Baltimore) über den Zeitraum von vier Jahren hinweg würde ich keine Erkenntnisse zum weltweiten Insektensterben erwarten. Das gilt auch für die Untersuchung einer einzigen Spornzikade (planthopper) an Schlickgras in Salzwiesen über fünf Jahre oder für Untersuchungen zu Schadinsekten wie der Zitterpappelminiermotte (Aspen miner moth), Borkenkäfern (bark beetles) und Blattläusen (aphids), obwohl diese Arten sogar eine Abnahme zeigen. Geradezu absurd wird die Sache, wenn Studien zu Zecken (ticks), Winkerkrabben (fiddler crab) und Flußkrebsen (crayfish) in die Metaanalyse mit einbezogen werden. Selbst Laien wissen inzwischen, dass Zecken und Krebse keine Insekten sind.“
„Wichtige Artengruppen wie Wildbienen, Schmetterlinge, Laufkäfer, Libellen und andere, bei denen in Europa aufgrund von zahlreichen Arbeiten – zum Beispiel auch den Roten Listen – bekannt ist, dass sie abnehmen, sind in der aktuellen Studie dagegen kaum berücksichtigt. Wenn ich die Hypothese untersuchen würde, ob es in den USA ein vergleichbares Insektensterben gibt wie in Europa, würde ich mich sicher zunächst auf die Gruppen konzentrieren, bei denen ein Rückgang in Europa gezeigt wurde. Das haben die Autoren leider nicht getan.“
„Aus meiner Sicht lässt sich basierend auf den verwendeten Studien keine Aussage zu der Frage machen, ob Insekten in den USA zurückgehen oder nicht. Mir ist rätselhaft, wie eine Arbeit mit solch offensichtlichen Schwächen den Review-Prozess in einer sehr renommierten Zeitschrift überstehen konnte.“
„Die aktuelle Studie ist aus meiner Sicht nicht geeignet, mögliche Aussagen zu Bestandsänderungen bei Insekten insgesamt in den USA zu machen. Sie trägt daher auch nicht zur Klärung der Frage bei, ob das Insektensterben ein globales Phänomen ist. Tatsächlich bin ich aber auch der Meinung, dass die Fokussierung auf einen globalen Insektenschwund, im Englischen oft umschrieben mit den Begriffen ‚Insect armageddon‘ oder ‚Insect apocalypse‘, am Problem vorbeigeht.“
„Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die einen drastischen Rückgang an Insekten recht gut belegen, nicht nur für Europa, sondern auch für andere Gegenden der Erde. Die Metastudie von van Klink et al. [d] und auch die viel gescholtene Studie von Sánches-Bayo et al. [5] beinhalten viele dieser Arbeiten. Dass es davon abgesehen Gegenden auf der Erde gibt, in denen Insekten nicht zurückgehen, oder dass es auch in Europa bestimmte Insektengruppen gibt, die weniger stark von dem Rückgang betroffen sind, ist erfreulich. Es löst aber nicht das Problem, dass wir in anderen Gegenden der Erde und auch in Europa bei vielen wichtigen Insektengruppen massive Rückgänge haben. Die müssen wir stoppen und zwar so schnell wie möglich!“
Auf die Frage, inwiefern die Situation in den USA mit der in Europa vergleichbar ist:
„Das kann ich schwer beurteilen, da ich die Lage in den USA kaum kenne. Allerdings vermute ich, dass der Wandel zu einer intensiven Landwirtschaft zusammen mit dem Verlust der Strukturvielfalt in den USA schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts passiert ist, während dies in Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Damit zusammenhängend hat eventuell auch die große Abnahme der Insekten in den USA schon viel früher stattgefunden, also weit vor dem Erhebungszeitraum der in der aktuellen Studie verwendeten Daten. Auch die Autoren der vorliegenden Arbeit erwähnen, dass natürliche Prärie-Standorte bereits in den vergangenen 150 Jahren um über 90 Prozent zurückgegangen sind. Dann ist es auch nicht überraschend, wenn nur geringe Abnahmen gefunden wurden. Wo nichts ist, kann auch nichts mehr zurückgehen.“
„Aus politischen Gründen ist die Studie hochproblematisch. Sie behauptet schon im Titel, dass es keinen Insektenrückgang gibt. Das wurde aus meiner Sicht aber mit ungeeigneten Methoden untersucht. Dazu kommt, dass man an mehreren Stellen im Manuskript den Eindruck gewinnt, die Autoren wollen genau die Grundaussage ‚Es ist doch nicht so schlimm‘ stützen. So zeigen sie Daten von vier Studien zu Populations-Entwicklungen bei insektenfressenden Vögeln in den USA. Drei dieser Studien zeigen Populations-Abnahmen, was sich übrigens mit den Ergebnissen von einer ganzen Reihe von Studien aus Europa deckt. In ihrer Diskussion stellen sie überraschenderweise aber nur die eine Studie heraus, in der eine Populationszunahme gefunden wurde.“
„Wir sehen ja, dass selbst in der Corona-Krise, in der jeder die Folgen von falschen Entscheidungen direkt nachvollziehen kann, manche Leute die Realität nicht wahrhaben wollen. Umso schwieriger ist das beim Insektensterben, bei dem es oft um Daten geht, die nur Experten beurteilen können. Es wird sicher Interessenvertreter geben, die aus dieser Studie ableiten wollen, dass es kein Insektensterben gibt. Denen kann ich nur entgegnen: Vergessen Sie diese Studie. Erstens, weil sie so schlecht gemacht ist, dass man nicht wissen kann, ob ihre Ergebnisse stimmen. Und zweitens, weil ihre Ergebnisse – selbst wenn sie stimmen sollten – für uns keine Relevanz haben. Hier in Deutschland haben wir ein massives Insektensterben und müssen so schnell wie möglich etwas dagegen tun!“
„Keine.“
„Keine.“
„Interessenkonflikte sehe ich keine.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Crossley MS et al. (2020): No net insect abundance and diversity declines across US Long Term Ecological Research sites. Nature Ecology & Evolution. DOI: 10.1038/s41559-020-1269-4.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Blowes SA et al. (2019): The geography of biodiversity change in marine and terrestrial assemblages. Science; 336 (6463): 339-345. DOI: 10.1126/science.aaw1620.
[2] Macgregor CJ et al. (2019): Moth biomass increases and decreases over 50 years in Britain. Nature Ecology & Evolution; 3: 1645-1649. DOI: 10.1038/s41559-019-1028-6
[3] Dias S et al. (2019): Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services. IPBES Global Assessment Report.
dazu auch SMC (2019): Globales Assessment des Weltbiodiversitätsrates. Research in Context.
[4] Wepprich T et al. (2019): Butterfly abundance declines over 20 years of systematic monitoring in Ohio, USA. Plos ONE; 14 (7): e0216270. DOI: 10.1371/journal.pone.0216270.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[a] IPBES (2016): Assessment Report on Pollinators, Pollination and Food Production. DOI: 10.5281/zenodo.3402856.
[b] Hallmann CA et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE; 12 (10). DOI: 10.1371/journal.pone.0185809.
dazu auch SMC (2017): Rückgang der Insektenbiomasse um über 75 Prozent. Research in Context.
[c] Seibold S et al. (2019): Arthropod decline in grasslands and forests is associated with landscape-level drivers. Nature; 574: 671–674. DOI: 10.1038/s41586-019-1684-3.
[d] van Klink R et al. (2020): Meta-analysis reveals declines in terrestrial but increases in freshwater insect abundances. Science; 368: 417-420. DOI: 10.1126/science.aax9931.
dazu auch SMC (2020): Metastudie zum globalen Insektenrückgang. Research in Context.
[e] Leather SR (2017): Ecological armageddon – more evidence for the drastic decline in insect numbers. Ann. Appl. Biol.; 172: 1–3.
Dr. Roel van Klink
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am sDiv-Synthesezentrum, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Prof. Dr. Teja Tscharntke
Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
apl. Prof. Dr. Axel Hochkirch
Professor für Naturschutzbiologie, Fach Biogeographie, Fachbereich Raum- und Umweltwissenschaften, Universität Trier, und Vorsitzender des IUCN SSC Invertebrate Conservation Committee (Komitee zum Schutz wirbelloser Tiere des Weltnaturschutzverbands IUCN)
Prof. Dr. Alexandra-Maria Klein
Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Prof. Dr. Christoph Scherber
Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie und multitrophische Interaktionen, Institut für Landschaftsökologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Josef Settele
Stellvertretender Departmentleiter Biozönosenforschung, Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Halle, und Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)
Dr. Carsten Brühl
Leiter der Arbeitsgruppe Ökotoxikologie und Umwelt, Institut für Umweltwissenschaften, Universität Koblenz-Landau
Prof. Dr. Thomas Schmitt
Direktor des Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut, Müncheberg
Prof. Dr. Johannes Steidle
Leiter des Fachgebiets Chemische Ökologie, Instituts für Biologie, Fakultät für Naturwissenschaften, Universität Hohenheim