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09.04.2024

Mögliche Defizite bei der Versorgung chronisch Erkrankter

     

  • neuer Gesundheitsreport der AOK Rheinland/Hamburg sieht mögliche Defizite bei der Medikamentenversorgung und Behandlung chronisch kranker Personen
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  • Problemlage in den Regionen in NRW und Hamburg teils sehr unterschiedlich
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  • Fachleute erläutern Stärken und Schwächen des Versichertendatensatzes
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Chronisch kranke Patientinnen und Patienten werden im Rheinland und in Hamburg regional teils sehr unterschiedlich versorgt. Das zeigt der neue jährlich erscheinende Gesundheitsreport der AOK Rheinland/Hamburg (siehe Primärquelle). Er beleuchtet in einem Schwerpunkt die Situation von Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, koronarer Herzkrankheit (KHK), Vorhofflimmern, Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) und chronischer Nierenerkrankung. Der Bericht analysiert anhand von Versichertendaten unter anderem, wie die Behandlung und die Gabe von Medikamenten in den Regionen erfolgt.

Demnach erhält zum Beispiel nur etwa die Hälfte aller Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes, bei denen die nicht-medikamentöse Basistherapie ausgeschöpft ist, ausreichend Medikamente. Die Gründe dafür seien nicht eindeutig. Regionale Unterschiede zeigen sich bei der Zahl der stationär behandelten Patientinnen und Patienten mit entgleistem Diabetes, einer lebensgefährlichen schweren Form der Erkrankung, bei der der Blutzuckerspiegel außer Kontrolle gerät. So lag der Anteil der Patientinnen und Patienten, die mit entgleistem Typ-2-Diabetes stationär behandelt wurden, in Duisburg und Krefeld 25 Prozent über dem Durchschnitt des Versorgungsgebiets. Im Kreis Heinsberg hingegen 30 Prozent niedriger. Die Zahlen sind dem Report zufolge risikoadjustiert, das heißt, sie berücksichtigen die Unterschiede in der Versichertenstruktur (Seite 35). Dadurch könnten Hinweise auf Defizite in der Versorgung offengelegt werden. Die Daten stammen maßgeblich aus dem Jahr 2022.

48 Prozent der Versicherten mit schwerer koronarer Herzkrankheit (KHK) waren zu dieser Zeit in fachärztlicher kardiologischer Behandlung. Eigentlich sollen laut den ärztlichen Leitlinien bei solch schweren Verläufen grundsätzlich Kardiologinnen und Kardiologen eingebunden werden – und nicht nur die Hausärztin oder der Hausarzt. 57 Prozent der KHK-Patienten erhielten dem AOK-Report zufolge ausreichend Cholesterinsenker, die Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen verhindern sollen. Bei 7,7 Prozent aller KHK-Patienten kam es innerhalb von sechs Jahren (2016 bis 2022) zu einem Herzinfarkt. Auch hier zeigten sich deutliche regionale Unterschiede: So kam es in Remscheid zu 28 Prozent mehr Infarkten als im Rheinland-Hamburg-Durchschnitt, in Mülheim an der Ruhr und im Kreis Euskirchen zu 17 Prozent weniger.

Bei Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern (VHF) suggeriert der Report Verbesserungsbedarf bei der Versorgung mit Medikamenten zur Vermeidung von Schlaganfällen. Vorhofflimmern erhöht das Risiko für einen Schlaganfall. Zwei Drittel der VHF-Patienten erhielten laut der Auswertung diese Medikamente gemäß aktuellen Leitlinien. Bei 6,8 Prozent aller Betroffenen kam es innerhalb von sechs Jahren zu einem Schlaganfall durch ein Blutgerinnsel. Je nach Region lag die Prävalenz teils deutlich über oder unter dem Versorgungsdurchschnitt.

Auch bei anderen chronischen Erkrankungen ergeben sich dem Report zufolge mögliche Defizite in der Versorgung. So heißt es, dass zuletzt nur jede fünfte Person mit Asthma bronchiale in ein strukturiertes Behandlungsprogramm (DMP) eingeschrieben gewesen sei. Solche „Disease-Management-Programmes“ basieren auf vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen Richtlinien zur Behandlung chronisch-kranker Patientinnen und Patienten. Im Fall der Lungenkrankheit COPD war jede dritte betroffene Person in ein DMP eingeschrieben. Bei der chronischen Nierenerkrankung bemängelt der Report, dass nur 50 Prozent der Versicherten mit fortgeschrittenem Verlauf von Spezialisten behandelt wurden. Zudem hätten nur 42 Prozent der Versicherten mit Nierenversagen und Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck beziehungsweise Typ-2-Diabetes im Jahr 2022 ausreichend Medikamente gemäß den Leitlinien-Empfehlungen erhalten.

Das SMC hat Fachleute darum gebeten, die im AOK-Report genannten möglichen Versorgungsdefizite bei chronischen Leiden einzuschätzen – insbesondere für die Kolleginnen und Kollegen in NRW und Hamburg. 

Übersicht

  • Prof. Dr. Tobias Meyer, Chefarzt der Klinik für Nephrologie und Hypertensiologie, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg
  • PD Dr. Nadine Scholten, Mitglied im Direktorium des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft sowie Leiterin der Arbeitsgruppe „Leistungserbringung in der Versorgung“, Universität zu Köln
  • Dr. Young Hee Lee-Barkey, Kommissarische Leiterin des Diabeteszentrums, Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen
  • Dr. Monica Negrean, Chefärztin der Abteilung Diabetologie und Endokrinologie, Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, Cellitinnen-Krankenhaus St. Vinzenz, Köln

Statements

Prof. Dr. Tobias Meyer

Chefarzt der Klinik für Nephrologie und Hypertensiologie, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg

Fachärztliche Behandlung von Nierenkrankheiten

„Die Versorgung von Patienten mit chronischer schwerer Nierenkrankheit sollte bestmöglich durch Nephrologen erfolgen. Ziel ist die Prävention einer weiteren Verschlechterung der Nierenfunktion und damit der Dialyse. In der Ärzteschaft ist diese Dringlichkeit nicht überall bekannt. In der Versorgungsrealität gibt es zudem große Lücken in der fachärztlich-nephrologischen Betreuung. Es gibt einfach nicht genug Nephrologen, um die große Zahl der Patienten mit chronischer Nierenkrankheit zu versorgen. Nach neuesten Berechnungen ist die chronische Nierenkrankheit bei etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland vorhanden. Hauptursache ist Bluthochdruck und Diabetes mellitus. Diesen etwa acht Millionen Patienten stehen aber nur wenige Nephrologen gegenüber. Die demografische Entwicklung sieht demnächst die geburtenstarken Nachkriegs-Jahrgänge in Rente gehen, und dann wird es noch wesentlich mehr chronisch nierenkranke Patienten geben als jetzt. Mit der Pandemie hat das nichts zu tun.“

Versorgung mit Medikamenten

„Die neuen hoch protektiven Medikamente gegen eine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion bei Patienten mit Bluthochdruck und Diabetes mellitus sind erst seit Kurzem zugelassen und auf dem Markt. Nach den Leitlinien der nephrologischen, kardiologischen und diabetologischen Gesellschaften sollten sie bei fast allen Patienten zum Einsatz kommen. Wie mit allen Medikamentengruppen braucht das jedoch etwas Zeit. Außerdem ist präventive Medizin auch auf Patientenseite oft unerwünscht. Somit wird es nie eine vollständige Medikamentenversorgung der Risikogruppen geben. Die weite Verbreitung von präventiven Medikamenten sollte außerdem durch Hausärzte und Allgemeinmediziner erfolgen.“

Dialyse

„Die regionale Dialyse-Versorgung ist je nach Region unterschiedlich. In großen Städten besteht oft eine ausreichende Versorgung, in der Breite des Landes eher eine Unterversorgung. Erneut gilt das oben Gesagte: Es gibt viel zu wenig fachärztliche Nephrologen und in den nächsten zehn Jahren einen massiven Anstieg der zu versorgenden Patienten. Dies führt zwangsläufig in eine Mangelversorgung in vielen Regionen.“

PD Dr. Nadine Scholten

Mitglied im Direktorium des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft sowie Leiterin der Arbeitsgruppe „Leistungserbringung in der Versorgung“, Universität zu Köln

Dokumentierte vs. tatsächliche Prävalenz

„Der AOK-Report gibt auf Basis von Abrechnungsdaten relevante Einblicke in die regionale Versorgungsituationen der AOK-Versicherten. Diese ermöglichen es, im zeitlichen und regionalen Vergleich in Anspruch genommene und dokumentierte Leistungen wie auch kodierte Diagnosen abzubilden. Der Ursprung und der primäre Zweck der ausgewerteten Daten ist bei der Interpretation aller Ergebnisse zu berücksichtigen, da auf Basis von GKV-Daten nicht von tatsächlicher Prävalenz oder Inzidenz gesprochen werden kann, sondern nur von einer ,dokumentierten‘ beziehungsweise ,administrativen‘ Prävalenz (siehe Glossar). Wenn somit angeführt wird, dass 8,6 Prozent der AOK-Versicherten ab 50 Jahren an Vorhofflimmern (VHF) leiden, so kann auf Basis von GKV-Routinedaten nur aufgezeigt werden, bei wie viel Prozent der Versicherten ein Vorhofflimmern diagnostiziert und kodiert worden ist. Dies ist besonders beim Vorhofflimmern eine wichtige Unterscheidung, da auch im Bericht erwähnt wird, dass Studien zeigen, dass VHF nur bei zwei Drittel der Betroffenen entdeckt wird. Somit dürfte der tatsächliche Anteil an Versicherten, die unter VHF leiden, anhand von GKV-Routinedaten deutlich unterschätzt werden.“

Sonderfall Diabetes Typ 2

„Im Report wird ferner ausgeführt, dass ein Großteil der Versicherten mit Diabetes Typ 2 nicht mit einer Medikation in ausreichender Menge versorgt ist. Hierbei muss berücksichtigt werden, wie eine ausreichende Medikation definiert ist. Die Diagnose ,Diabetes‘ erfolgt aufgrund erhöhter Blutzuckerwerte oder eines erhöhten HbA1c (Blutzuckerlangzeitwert), wobei laut Leitlinie grundsätzlich die nicht-medikamentöse Basistherapie (Gewichtsreduktion, Ernährung, Sport) eine wirkungsvolle Therapieoption und Grundlage jeder Behandlung ist. An welchem Punkt die nicht-medikamentöse Basistherapie nicht ausreichend ist beziehungsweise, ob eine medikamentöse Therapie vonseiten der Patient*innen gewünscht ist, kann auf Basis von Abrechnungsdaten allein nicht beantwortet werden.“

Sonderfall koronare Herzerkrankungen

„Hinsichtlich der Therapie mit Statinen bei Patient*innen mit koronaren Herzerkrankungen wird der Anteil an KHK Patienten*innen aufgezeigt, die keine leitliniengerechte Therapie erhalten. Hier wird ein Schwellenwert von 80 Prozent der Jahresmedikamente angesetzt. Berechnet wird diese Jahresdosis meist anhand der DDD (daily defined dosis), was der indikationsspezifischen Standarddosis entspricht. So liegt diese zum Beispiel bei Simvastatin bei 30 Milligramm pro Tag, wobei aktuell die FDA neue Grenzwerte (20 Milligramm pro Tag) für die Simvastatindosis für Patient*innen angesetzt hat, die Amiodaron, Verapamil oder Diltiazem einnehmen. Somit kann ein Abweichen durchaus begründet sein. Andere mögliche Gründe für das Unterschreiten des angesetzten Schwellenwertes können darüber hinaus sowohl aufseiten der Patient*innen als auch aufseiten der Versorger*innen ausgemacht werden, so zum Beispiel, wenn diese nicht regelmäßig eingenommen werden und daher der Abstand zwischen den Rezepten größer wird. Um den Einfluss des Versorgers auszumachen und tatsächliche Versorgungsdefizite zu identifizieren, wäre es interessanter, zu schauen, wo grundsätzlich/mehrheitlich keine leitliniengerechte Therapie initiiert wird.“

Risikoadjustierung

„Alle regionalen Analysen, die risikoadjustiert die erwartete Rate an Ereignissen der tatsächlichen Rate gegenüberstellt (zum Beispiel Vorhofflimmern zu Schlaganfall oder Typ-2-Diabetes zu Krankenhausaufenthalt mit entgleistem Diabetes), haben das Ziel, regionale Versorgungsunterschiede darzustellen. Sollen regionale Versorgungunterschiede aufgedeckt werden, muss das Outcome um patientenseitige Einflussfaktoren korrigiert werden. Dies erfolgt über eine Risikoadjustierung. Wie gut diese am Ende tatsächlich funktioniert, liegt an der Aufklärungskraft der hierfür hinzugezogenen Variablen. Aufgrund der Datenbasis können für die Risikoadjustierung nur Faktoren einbezogen werden, die in den GKV-Daten abgebildet sind. In den GKV-Daten zu finden sind Angaben zum höchsten Bildungsabschluss (als Meldung durch den Arbeitgeber) und das monatliche Erwerbseinkommen (bis zur Bemessungsgrenze des Beitragssatzes). Besonders bei Familienversicherten (Ehepartner*in) und auch bei Rentner*innen kann es schwieriger werden, die soziale Lage, die einen Einfluss auf das gesundheitsbezogene Verhalten hat, genauer zu bestimmen. Somit kann es Hinweise geben, dass die Versorgung in den Regionen schlechter ist, die eine höhere tatsächliche als erwartete Rate an Ereignissen haben, jedoch kann diese Tatsache unter Umständen auch zum Teil durch regionale, nicht risikoadjustierte Unterschiede in der Versichertenstruktur erklärt werden.“

Sonderfall COPD

„Unterschiede zeigen sich hinsichtlich des Anteils grippeschutzgeimpfter Patient*innen mit COPD. Neben der unterschiedlichen Inanspruchnahme der Impfung bleibt zu bedenken, dass Impfungen, die durch den Arbeitgeber (Betriebsarzt) durchgeführt werden, nicht immer über die GKV abgerechnet werden und somit auch nicht in den GKV-Daten auftauchen. Dies könnte zu einer Unterschätzung der Rate an geimpften Versicherten mit COPD führen.“

Dr. Young Hee Lee-Barkey

Kommissarische Leiterin des Diabeteszentrums, Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen

Medikamentenversorgung bei Diabetes

„Mit Blick auf Diabetes-Patienten, die wir im klinischen Alltag behandeln, würde ich eher von Fehlversorgung sprechen wollen. Ohne das in konkrete Zahlen fassen zu können: Wir sehen Patienten mit Therapie entsprechend aktuellen Leitlinien, aber auch solche, deren Therapie längst nicht mehr ,state oft the art‘ ist. Da gibt es noch immer Verordnungen mit oralen Antidiabetika, die nicht mehr ,first line‘ eingesetzt werden sollten, weil sie Unterzuckerungen provozieren. Leitlinien sind Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie. Hat ein Patient mehrere Erkrankungen gleichzeitig, zum Beispiel Diabetes, koronare Herzerkrankung, Bluthochdruck und COPD, gibt es auch mehr als eine Leitlinie (mit Risiko für eine lange Liste von Medikamenten). Hier liegt es am Arzt, die Gesundheitsprobleme vor dem Hintergrund der bestmöglichen Prognose für Patienten entsprechend zu gewichten.“

„Ein Grund für die Zurückhaltung in der ambulanten Verordnung neuer Substanzen wie SGLT2-Inhibitoren oder GLP-1-Rezeptoragonisten werden die Kosten sein. Diese Medikamente sind teuer und belasten das Budget (drohender Regress). Das ist aber auch bei anderen Indikationen, beispielsweise bei Blutdruck- oder Lipidtherapie so, wenn neue Medikamente auf den Markt kommen. Der Arzt muss den Nutzen für den Patienten ausreichend begründen. Auch bei uns in der Klinik schütten wir neue Substanzen nicht mit der Gießkanne aus. Es bleibt immer eine Einzelfallentscheidung auf der Grundlage von Evidenz, Nutzen-Risiko-Abwägung und Prognose. Wir sind Internisten und müssen den Menschen als Ganzes sehen. Es reicht also nicht, nur den Blutzucker zu senken, wenn zusätzliche Erkrankungen vorliegen und Gefäße oder Organe schon geschädigt sind. Steht eine Therapieänderung bei Patienten an, die bei uns stationär behandelt werden, suchen wir den Dialog mit einweisenden und weiterbehandelnden Kollegen.“

Behandlung von entgleistem Diabetes

„Ein Grund für regionale Unterschiede in der Prävalenz ist, dass Diabetes keine meldepflichtige Erkrankung ist, die in einem zentralen Register für Deutschland dokumentiert wird. Das kann zumindest teilweise auch eine Erklärung für die Unterschiede im Anteil stationär behandelter Patienten sein. Bei Krankenkassen sind die Angaben auch von der versicherten Klientel (Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status) abhängig. In neuen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt ist beispielsweise der Anteil von Patienten mit Typ-2-Diabetes besonders hoch.“

„Qualitätsdaten des Bundesverbandes Klinischer Diabetes-Einrichtungen (BVKD) für ganz Deutschland zeigen, dass bei 85 Prozent der Patienten, die wegen der Hauptdiagnose Diabetes im Krankenhaus sind, die Behandlung in nicht diabetologisch spezialisierten Kliniken stattfindet. Es könnte also sein, dass ein entgleister Typ-2-Diabetes in einem Krankenhaus ohne nachgewiesene fachliche Expertise überhaupt nicht auffällt. Zudem fehlt es noch immer an Sensibilität, mancherorts auch an Ausbildung und Erfahrung, die Erkrankung rechtzeitig zu diagnostizieren (selbst bei positiver Familienanamnese) und Patienten adäquat zu behandeln. Der Typ-2-Diabetes macht sich auch symptomatisch spät bemerkbar. Deshalb kommt es oft vor, dass Diabetes erst festgestellt wird, wenn schon Folgeprobleme vorhanden sind. In der Klinik erleben wir oft, dass Patienten aufgrund einer kardialen Erkrankung stationär im Herz- und Diabeteszentrum NRW aufgenommen werden und dabei dann zusätzlich Diabetes festgestellt wird. Der formal als entgleist kodierte Diabetes wird bundesweit auch sehr uneinheitlich kodiert. Dies könnte ebenfalls begründen, warum sich die Anzahl stationär behandelter Patienten regional deutlich unterscheidet.“

Inanspruchnahme der strukturierten Behandlungsprogramme (DMP)

„In der Klinik gibt es keine Instrumente zur Erfassung der Inanspruchnahme bei den DMP. Wir wissen aus DMP-Daten des Zi (Zentralinstitut kassenärztliche Versorgung Nordrhein; DMP-Qualitätsbericht), dass die Teilnahme am DMP hoch ist, das deckt sich mit den Angaben im vorliegenden Bericht. Laut Zi ist die Einschreibquote in den Hausarztpraxen beim DMP Diabetes mellitus Typ 2 sogar am höchsten. Hier sind mehr Patienten eingeschrieben als in anderen DMP (zum Beispiel bei KHK, COPD, Herzinsuffizienz), fast 70 Prozent der Patienten erhalten eine antidiabetische Therapie.“

„Bei allen Vorteilen, die mit der DMP-Teilnahme verbunden sind, muss erwähnt werden: Liegt mehr als einer Erkrankung vor – was häufig der Fall ist –, wird der hausärztliche Kollege den Patienten kaum in mehrere DMP einschreiben. Das ist utopisch. Alles muss ja auch dokumentiert werden. Mir persönlich ist kein Patient mit Typ-2-Diabetes, KHK und COPD bekannt, der in allen drei DMP eingeschrieben ist.“

„Aus der klinischen Praxis können wir sagen, dass am DMP Typ-2-Diabetes teilnehmende Patienten bei Nichterreichen ihrer Therapieziele (zum Beispiel HbA1c über 8,5 Prozent), bei instabiler Stoffwechsellage und auftretenden Komplikationen (unter anderem häufige Unterzuckerungen, Probleme an Herz, Nieren, Augen, Füßen) vom Hausarzt an uns als Fachklinik überwiesen werden. Die Mehrzahl der Patienten mit Typ-2-Diabetes wird über den Hausarzt geschickt, bei Typ-1-Diabetes kommen Patienten eher vom Diabetologen mit Schwerpunktpraxis zu uns. Strukturierte Behandlungsprogramme fördern, dass Patienten mit den genannten Problemen systematisch erkannt und rechtzeitig diabetologisch, auch stationär in Kliniken mit fachlicher Expertise behandelt werden.“

Dr. Monica Negrean

Chefärztin der Abteilung Diabetologie und Endokrinologie, Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, Cellitinnen-Krankenhaus St. Vinzenz, Köln

Medikamentenversorgung bei Diabetes

„Nur etwa die Hälfte der Betroffenen hat im Jahr 2022 Medikamente gegen Typ-2-Diabetes in ausreichender Menge erhalten. Inwiefern diese niedrigen Raten in einer mangelnden Therapietreue der Patientinnen und Patienten, dem Verordnungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte oder strukturellen Problemen im Gesundheitswesen begründet sind, ist anhand der Routinedaten nicht zu klären. Die therapeutische ,Trägheit‘ ist ein bekanntes Phänomen, sowohl auf der Seite der Behandler als auch auf der Seite der Patienten. Sie führt dazu, dass notwendige Therapieschritte nicht rechtzeitig eingeleitet werden. Darüber hinaus spielt sicherlich auch die mangelnde Compliance der Patienten bei der Medikamenteneinnahme eine wichtige Rolle. Außerdem gibt es leider immer noch die Meinung, dass ,das bisschen Zucker‘ nicht schadet. Ob Lieferengpässe bei GLP-1-Analoga eine Rolle spielen, kann nur spekuliert werden.“

Behandlung von entgleistem Diabetes

„In Duisburg und Krefeld lag dem Report zufolge der Anteil der Versicherten, die mit entgleistem Typ-2-Diabetes stationär behandelt wurden, 25 Prozent über dem Durchschnitt des Versorgungsgebiets. Im Kreis Heinsberg hingegen 30 Prozent niedriger. Diese Zahlen sind risikoadjustiert, das heißt sie berücksichtigen die Unterschiede in der Versichertenstruktur. Diese Kennzahlen können Hinweise auf Defizite in der Versorgung geben. Hier wäre es interessant zu erfahren, wie viele diabetologische Schwerpunktpraxen es in den jeweiligen Regionen gibt beziehungsweise wie viele Patienten in das DMP-Programm eingeschlossen wurden. Eine weitere Frage ist, ob die Patienten mit oder wegen des entgleisten Diabetes stationär behandelt wurden.“

Inanspruchnahme der strukturierten Behandlungsprogramme (DMP)

„Drei Viertel aller Patienten nehmen am strukturierten Behandlungsprogramm (DMP) teil. Ziel wären 100 Prozent. Die Frage ist, ob sie nicht angeboten oder nicht genutzt werden. Im Vergleich zu anderen DMPs ist die Inanspruchnahme jedoch als sehr gut zu bewerten.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

PD Dr. Nadine Scholten: „Erhalt von Fördermitteln zur Durchführung wissenschaftlicher Projekte durch das BMBF, den Innovationsfonds des G-BA und das ZI, ebenso durch die BARMER. Kooperationsprojekte unter Beteiligung der AOK Rheinland/Hamburg (CoRe-Net, MAM-Care, Neo-CamCare und NeoMILK).“

Dr. Young Hee Lee-Barkey: „Ich habe Vortrags- und Beratungshonorare, Aufwandsentschädigungen und klinische Forschungsunterstützung von folgenden Unternehmen und Organisationen erhalten: Astra Zeneca, Amgen, Allergan, Ärztekammer Westfalen-Lippe, Boehringer Ingelheim, Bristol Myers Squibb, Bund Deutscher Internisten, Chiesi GmbH, Deutsche Diabetes Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, Hausärzteverband Westfalen-Lippe, Lilly, Medical Training Osnabrück, MSD, Novartis, Novo Nordisk, Pfizer, Sanofi, Santis, Servier.“ 

Dr. Monica Negrean: „Es bestehen keine Interessenkonflikte meinerseits.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Dortmann O et al. (2024): Gesundheitsreport 2024 – Fakten zur regionalen Gesundheits- und Versorgungssituation der Bürgerinnen und Bürger im Rheinland und in Hamburg. AOK Rheinland/Hamburg.