Soll Alzheimer-Medikament trotz widersprüchlicher Daten zugelassen werden?
Sollte das Alzheimer-Medikament Aducanumab der Pharmafirma Biogen trotz extrem widersprüchlicher Ergebnisse aus klinischen Studien in den USA zugelassen werden? Über diese und weitere Fragen diskutierte ein externes Beratergremium der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA in einem sechsstündigen Meeting. Im Vorfeld des von Alzheimerforschern, Patienten und Analysten mit Spannung erwarteten Termins hatte die amerikanische Behörde ein Briefingdokument von FDA-Mitarbeitern veröffentlicht. Auf einen Schlag erhöhte sich der Aktienkurs der Firma Biogen um 45 Prozent [I]. Das Dokument wurde inzwischen offline gestellt, die Behörde stellt dennoch umfangreiches Material zur Vorbereitung auf das öffentliche Meeting zur Verfügung (siehe Primärquelle). In diesen Dokumenten ist allerdings die positive Bewertung des ursprünglichen Briefingsdokuments durch die FDA nicht mehr enthalten.
Sprecher des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), München und Leiter der Abteilung Stoffwechselbiochemie am Biomedizinisches Centrum (BMC), Ludwig-Maximilians Universität München
„Es gibt einen enormen Bedarf nach einer Behandlung der Alzheimer-Krankheit und anderer Formen der Demenz. Die von der Firma Biogen entwickelte Antikörpertherapie (Aducanumab) wird derzeit von der FDA zur Zulassung geprüft. Die Ergebnisse klinischer Studien waren bisher widersprüchlich.“
„Die Zulassung durch die FDA und im Anschluss durch die europäische EMA könnte den Weg für die Behandlung von Patienten mit Alzheimer bereiten und dazu beitragen, umfassendere Informationen über die Wirksamkeit dieses Medikaments zu sammeln. Man erwartet, dass Aducanumab die kognitive Leistung und ähnliche Fähigkeiten bei Alzheimer-Patienten im Frühstadium verbessern und den Verlauf der Krankheit verlangsamen wird.“
„Dieser Antikörper richtet sich gegen spezielle Eiweiß-Ablagerungen im Gehirn, die als ‚Amyloid‘ bezeichnet werden. Die Anhäufung von Amyloid ist ein Schlüsselmechanismus bei der Entstehung von Schädigungen des Gehirns, die mit der Alzheimer-Krankheit in Zusammenhang stehen. Die Ergebnisse aktueller Studien zeigen, dass das Medikament die Menge des Amyloids im Gehirn verringert und dass bei einigen Patienten im frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit hohe Dosen den kognitiven Verfall verzögern können.“
„Aducanumab wird durch Infusion verabreicht und wirkt wie jede Art von passiver Impfung. Das bedeutet, dass kein dauerhafter Schutz aufgebaut wird – dieser besteht nur so lange, wie der Antikörper in der Blutbahn und im Gehirn vorhanden ist.“
„Wenn die Zulassungsbehörden Aducanumab als Therapie für Alzheimer genehmigen, wären weitere Studien erforderlich, um Patienten zu stratifizieren und diejenigen auszuwählen, die am meisten von dieser Therapie profitieren würden. Darüber hinaus wäre eine frühe Diagnose unerlässlich, um festzustellen, ob präventive Studien bei Personen mit hohem Risiko durchgeführt werden können. Auch in diesem Fall wäre eine eingehende Risikoabschätzung für mögliche Nebenwirkungen erforderlich.”
„Obwohl das Medikament noch keine Heilung bietet, könnte es ein wichtiger Bestandteil einer breit angelegten Behandlung sein. Alzheimer und andere Demenzerkrankungen können mehrere Mechanismen aufweisen. Arzneimittel und Therapien, die auf mehrere Krankheitsmechanismen abzielen, werden wahrscheinlich in Zukunft der beste Weg zur Heilung dieser verheerenden Erkrankungen sein.”
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Primärquelle
FDA Advisory Commitee Meeting – November 6, 2020: Meeting of the Peripheral and Central Nervous System Drugs Advisory Committee Meeting Announcement.
Weiterführende Recherchequellen
Vaz M et al. (2020): Alzheimer's disease: Recent treatment strategies. European Journal of Pharmacology; 887, 173554. DOI: 10.1016/j.ejphar.2020.173554.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Garde D et al. (04.11.2020): FDA scientists appear to offer major endorsement of Biogen’s controversial Alzheimer’s treatment. Statnews.
[II] Science Media Center (2016): Alzheimer-Medikament Solanezumab nicht wirksam: Erste Ergebnisse der Studie "Expedition 3". Rapid Reaction. Stand: 23.11.2016.
[III] Science Media Center (2019): Wahrscheinlich nicht wirksam – klinische Studie zu Alzheimer-Medikament abgebrochen. Rapid Reaction. Stand: 21.03.2019.
[IV] Knopman DS et al (2020): Failure to demonstrate efficacy of aducanumab: An analysis of the EMERGE and ENGAGE trials as reported by Biogen, December 2019. Alzheimer & Dementia; 1-6. DOI: 10.1002/alz.12213.
Prof. Dr. Dr. Christian Haass
Sprecher des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), München und Leiter der Abteilung Stoffwechselbiochemie am Biomedizinisches Centrum (BMC), Ludwig-Maximilians Universität München