Rückgang der Insektenbiomasse um über 75 Prozent
Die Biomasse fliegender Insekten ist in den vergangenen 27 Jahren um über 75 Prozent zurückgegangen. So lautet zumindest das Ergebnis der Studie von Hallmann et al., die am 18.Oktober 2017 im Fachjournal PLoS ONE (*Primärquelle) veröffentlicht wurde. Bereits Ende Juli gab es eine breite und kontroverse mediale Debatte über einige Eckpunkte der Untersuchungen, die damals über das Bundesumweltministerium publik wurden. Mit der vorliegenden Studie werden diese Ergebnisse jetzt detailliert und wissenschaftlich publiziert. Die Autoren der Studie halten es für unwahrscheinlich, dass der Klimawandel oder landschaftliche Veränderungen die Ursache für diesen Rückgang sind und sehen vor allem die Intensivierung der Landwirtschaft als möglichen Hauptgrund.
Stellvertretender Departmentleiter Biozönosenforschung, Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Halle
„Die vorliegende Studie zeigt deutlich, dass wir in größeren Gebieten Nord- bzw. Nordwestdeutschlands starke Rückgänge – um drei Viertel – der Biomassen von Insekten im Laufe der letzten etwa 30 Jahren hatten.“
„Bezüglich der Ursachen für diesen Rückgang werden einige Zusammenhänge herausgearbeitet. Dabei handelt es sich um Korrelationen, die jedoch nicht unbedingt Kausalitäten beschreiben. Zudem können nur Analysen für Faktoren gemacht werden, für die entsprechende Daten vorliegen. Diese lagen den Autoren der Studie zum Beispiel zu Details der Landnutzung – wie Management, Pestizide, Düngung etc. – den Autoren (noch) nicht vor. Deshalb sind Aussagen nicht möglich, wenngleich von solchen Einflüssen auszugehen ist.“
„Gehen wir vom Vorsorgeprinzip aus, das in Deutschland bei Risikoabschätzungen oft die Grundlage bildet, wäre es wichtig, den plausibel erscheinenden Ursachen entgegenzuwirken, so lange die Faktoren nicht näher eingegrenzt werden können – eine veränderte/nachhaltigere Landnutzung wäre dann auf jeden Fall angezeigt.“
„Die Methodik der Erfassung und Auswertung der Biomasse und die Analyse des Trends ist durchaus in Ordnung. Dafür spricht auch, dass das Journal ‚PLoSONE’ besonderen Wert auf die Qualität der Methodik legt. Obwohl die Daten ursprünglich mit einem anderen Anliegen erhoben wurden, haben die Autoren daraus für das aktuelle Anliegen das Beste gemacht. Da der Vergleich sich auch stark auf die Standorte stützt, die mehrfach erfasst wurden, und diese, wie die Gesamtheit aller Erfassungen, einen sehr ähnlichen Rückgang zeigten, halte ich den Vergleich der Biomasse über die Zeit der Messung hinweg für durchaus zulässig.“
„Die Publikation liefert nun den Beleg dafür, dass die Aussagen nicht nur für den einen medial in 2016/2017 diskutierten Standort gültig sind, sondern wirklich ein größerflächiges Phänomen vorliegt. Teile dieser Daten wurden bereits in der Anhörung im Umweltausschuss des Bundestages Anfang 2016 präsentiert [1], in der Diskussion aber wurden diese trotz Verfügbarkeit überraschenderweise nicht weiterverwendet. Da sie damals noch nicht wissenschaftlich publiziert waren, fand ich die Zurückhaltung bei deren Verwendung sehr angemessen. Weil die Analysen der Rückgänge nun durch einen peer-review-Prozess gegangen sind, ist überhaupt erst eine Basis für eine fundierte Diskussion gegeben.“
„Die Autoren konnten nicht alle klimatisch relevanten Faktoren einschließen. Nach ihrer eigenen Aussage sind noch weitere Analysen nötig. Daher kann das Klima als wichtiger Faktor nicht ausgeschlossen werden. Die vereinfachte Darstellung, dass Wetterveränderungen oder Änderungen der Landnutzung den Gesamt-Rückgang nicht erklären können, ist zumindest irreführend.“
„Es ist grundsätzlich schwierig, Phänomene des globalen Wandels nach ihren Ursachen aufzuschlüsseln. Zum Beispiel können klimatische Effekte auf der Landschaftsebene, wie höhere Temperaturen, in Kombination mit erhöhtem Stickstoffeintrag zu dichterer Vegetation und dadurch kühlerem Mikroklima führen, was Effekte kaschieren kann.“
„Da in die Analysen nur die vorliegenden bzw. von den Autoren recherchierten Umweltdaten einfließen konnten, sind andere Effekte auch nicht feststellbar. Beispielsweise werden nur die Flächenanteile von Wäldern, Äckern, Grünland etc. analysiert, nicht aber die räumliche Verteilung – also, ob eine große bzw. viele kleine Flächen desselben Vegetationstyps vorhanden sind. Letztere hat aber starken Einfluss auf die Landschaftsstruktur (Randbereiche, Hecken etc.).“
„Ebenso wird in der aktuellen Studie nicht diskutiert, inwiefern zum Beispiel die Verinselung der Flächen sich auf das Arteninventar auswirken könnte. Als großskaliges Phänomen wäre ja zum Beispiel ein allmähliches Aussterben von Arten auf zu kleinen und isolierten Flächen über die Zeit denkbar.“
Auf die Frage, welche Rückschlüsse auf ungeschützte Ökosysteme zulässig sind, da alle Messungen der Studie in geschützten Landschaften durchgeführt wurden:
„Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig zu wissen, wie sich die Arten- bzw. Artengruppen zusammensetzen und welche sich wie stark in den Biomasseverlusten widerspiegeln. Kleinere Insekten sind tendenziell eher generell über die Landschaft verteilt, unter anderem, weil sie auch leichter passiv verdriftet werden. Größere Insekten – also Falter, größere Bienen oder Käfer – sind hingegen eher aktiv in der Landschaft unterwegs. Folglich könnte eine Biomasse-Verschiebung, die vor allem auf kleinen Tieren beruht, eher auch das Bild in den nicht-geschützten Ökosystemen widerspiegeln. Sollte sie auch oder vor allem größere Tiere betreffen, könnte es sich um Effekte handeln, die eher auf die geschützten Lebensräume selbst bezogen sind. Zudem können vergleichsweise wenige große Insekten die Gesamtbiomasse überproportional stark beeinflussen – Größe und Biomasse stehen in einem exponentiellen Zusammenhang – und könnten auch hier für das Phänomen ganz wesentlich verantwortlich sein.“
„In allen Fällen – bei großen wie kleineren Insekten – wäre es wichtig, eine genauere Aufschlüsselung der Arten und ihrer Ansprüche zu haben. Das war im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht zu leisten, ist also den Autoren nicht vorzuwerfen. Dafür wäre dringend mehr Unterstützung durch entsprechend finanziertes Fachpersonal nötig – hier stößt das Ehrenamt an seine Grenzen. Überhaupt ist es enorm, was die Autoren bislang geleistet haben. Es ist dringend nötig, derartige Monitorings entsprechend systematisch aufzubauen – als öffentliche Aufgabe mit öffentlichen Geldern!“
Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
„Die Auswertung und die Resultate hinterlassen einen soliden, überzeugenden Eindruck.“
„Die damals (rund um die breite Debatte Ende Juli 2017; Anm. d. Red.) vorgelegten Befunde waren statistisch nicht haltbar – das hat sich aber mit dieser Publikation grundlegend geändert.“
„Die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion, zum Beispiel mit Agrochemikalien, ist eine plausible Ursache (wie die Autoren zur Erklärung vorschlagen; Anm. d. Red.) für den dramatischen Rückgang der Insektenbiomasse. Zu der landwirtschaftlichen Intensivierung gehört aber auch die zunehmende Monotonisierung der Agrarlandschaften: große Felder, nur noch wenige schmale Feldränder, kaum Hecken und Gehölze sowie nur noch vereinzelte Brachen und kaum mageres Grünland führen dazu, dass außerhalb der Schutzgebiete kaum noch Nahrungs- und Nistressourcen zur Verfügung stehen. Dieser Ressourcenverlust außerhalb der Schutzgebiete und die damit verbundene Isolation der Schutzgebiete sollten wesentlich zum Rückgang der Insekten beigetragen haben.“
„Der dramatische Insekten-Rückgang zeigt, dass Schutzgebiete in nur noch sehr geringem Maße als Quellhabitate für die Besiedlung der Agrarlandschaften dienen können. Damit ist auch die Aufrechterhaltung wichtiger Dienstleistungen wie der Bestäubung und der biologischen Schädlingskontrolle in der Agrarlandschaft gefährdet.“
Fachgebietsleiter Tierökologie, Institut für Zoologie, Universität Hohenheim
„Die Untersuchung erfolgte mit ökologischen Standardverfahren und zeigt einen massiven, unbestreitbaren Abwärtstrend in der Biomasse bei Insekten im Verlauf von etwa 30 Jahren. Biomasse ist dabei ein durchaus üblicher Messparameter. Die Frage ist, was diesen Abwärtstrend verursacht. Hier können die Autoren mit einer beeindruckenden Vielfalt an statistischen Analysen zeigen, dass es zwar eine Reihe von Einflussfaktoren gibt – Lebensraumtypen, Klima, Jahreszeit, etc. –, dass aber keiner dieser Faktoren den massiven Abfall erklären kann.“
„Die Tatsache, dass an vielen Probestellen nur einmal Proben genommen wurden, spielt für die Validität der Daten keine Rolle. Dies zeigt eine Teilanalyse der 26 Probestellen – ebenfalls schon eine hohe Zahl – mit mehrfacher Probennahme. Sie kommt zum selben Ergebnis wie die Hauptanalyse mit allen Probestellen.“
„Die Ergebnisse der Untersuchung sind schockierend. Die kleine Hoffnung, dass die vorab bekannt gewordenen, beunruhigenden Informationen (rund um die breite Debatte Ende Juli 2017; Anm. d. Red.) in der Publikation möglicherweise relativiert werden – zum Beispiel, weil sich die Arbeit als fehlerhaft erweist – ist zerstört! Die Arbeit ist methodisch sauber und zeigt flächendeckend für eine große geografische Region Mitteleuropas einen massiven Biomasserückgang für Insekten. Wir befinden uns mitten in einem Albtraum, da Insekten eine zentrale Rolle für das Funktionieren unserer Ökosysteme spielen.“
„Die Arbeit zeigt aber auch die Bedeutung von Langzeitstudien in der Ökologie, die von der praktizierten Forschungsförderung nicht berücksichtigt wird. Es ist bezeichnend, dass diese wichtigen Daten von privaten Entomologen erhoben wurden. Öffentliche Forschungsinstitutionen können sich solche langfristigen Untersuchungen gar nicht leisten und Fördergelder für solche Studien sind schwer bis überhaupt nicht zu bekommen.“
„Klimatische Variationen, Klimawandel und landschaftliche Veränderungen wurden bei der Arbeit mit einem erheblichen Aufwand an zusätzlichen Datenaufnahmen und statistischen Analysen berücksichtigt. Dabei konnte gezeigt werden, dass diese Faktoren nicht den massiven Abfall erklären können. Die Analyse ergibt, dass der Klimawandel sogar zu einer Zunahme der Biomasse hätte führen müssen. So bleibt nur eine Intensivierung der Landwirtschaft als Erklärung übrig. Es wäre wichtig, zu analysieren, welchen Einfluss dabei der Pestizideinsatz – zum Beispiel Neonicotinoide – auf die landwirtschaftlichen Flächen hat, die die Probenstellen umgeben.“
„Wenn die Biomasse an Insekten bereits an geschützten Standorten (alle Messungen der Studie wurden in landschaftlich geschützten Systemen vorgenommen; Anm. d. Red.) so drastisch zurückgeht, ist klar, dass die Entwicklung in nicht geschützten Ökosystemen mindestens genauso gravierend ist – vermutlich sogar gravierender.“
Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
„Seit einiger Zeit sprechen Wissenschaftler und Naturschützer beim Insektensterben über die ‚Krefeld-Studie’, bei der in Naturschutzgebieten in Deutschland über einen Zeitraum von fast 30 Jahren die Biomasse von fliegenden Insekten um etwa 80 Prozent zurückgegangen ist.“
„Mit der vorliegenden Studie sind die Daten jetzt publiziert. Die Studie zeigt eine sehr eindeutige Abnahme der Biomasse (Gesamtgewicht) von fliegenden Insekten, die in sogenannten Malaise-Fallen in insgesamt 63 Naturschutzgebieten im Offenland gefangen wurden. Dies ist die erste Langzeitstudie über die gesamte Biomasse von Fluginsekten und somit von großer Bedeutung.“
„In der Studie wurden allerdings die meisten Standorte nicht wiederholt beprobt und die Autoren haben das suboptimale Versuchsdesign mit entsprechenden statistischen Modellen ausgleichen müssen und offen diskutiert.“
„Das Gewicht der Proben wurde nicht als Trockengewicht bestimmt, was methodisch nicht optimal ist. Trotzdem beweist die Studie eindeutig einen drastischen Rückgang der Fluginsekten in Naturschutzgebieten. Welche Insektengruppen und Arten betroffen sind, ob es sich um bedrohte Arten handelt und ob es auch Arten gibt, die zugenommen haben, sollte nun in weiteren Schritten untersucht werden.“
„Ob die Abnahme in anderen Ökosystemen, wie zum Beispiel in Agrar- oder Forstsystemen, ähnlich aussieht, kann anhand dieser Studie nicht gesagt werden. Es könnte sein, dass in anthropogen genutzten Ökosystemen große Schädlingspopulationen die Gesamtbiomasse hochhalten.“
„Die Autoren untersuchen verschiedenste Umweltfaktoren, um zu zeigen, welche für den Rückgang der Insekten verantwortlich sind. Sie zeigen, dass vor allem die Zunahme der Anteile von Äckern in der näheren Umgebung, Stickstoff und somit die Landnutzungsintensivierung für den Insektenrückgang verantwortlich sind. Wetter-Variablen haben zum Beispiel keinen Einfluss. Dies sind korrelative Ergebnisse, die in weiteren Langzeitstudien und Experimenten detaillierter untersucht werden müssen.“
„Obwohl es sehr wünschenswert ist, in Zukunft Langzeitdaten über die Biomasse von Insekten in einem optimalen Versuchsdesign und nicht nur in Naturschutzgebieten zu sammeln, sollten wir nicht auf diese Ergebnisse warten, bis wir unsere Landnutzung ändern. Dies könnte für einige Insekten zu spät sein. Eine Reduzierung des Anteils von einjährigen Mono-Ackerkulturen und dem Stickstoffeinsatz sollte sich positiv auf viele Insektenpopulationen auswirken.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Hallmann CA et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE 12(10). DOI: 10.1371/journal.pone.0185809.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Videomitschnitt der Anhörung des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages: Lage der Insekten in Deutschland. 2016. URL: http://bit.ly/2ylTo8u
Prof. Dr. Josef Settele
Stellvertretender Departmentleiter Biozönosenforschung, Leiter der Arbeitsgruppe Tierökologie, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Halle
Herr Prof. Dr. Teja Tscharntke
Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
Prof. Dr. Johannes Steidle
Fachgebietsleiter Tierökologie, Institut für Zoologie, Universität Hohenheim
Prof. Dr. Alexandra-Maria Klein
Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg