Polio-Wildviren Typ 1 in Abwasserprobe nachgewiesen
der Fund erfolgte am 6. Oktober; die Viren wurden dem Robert-Koch-Institut zufolge von mindestens einer Person ausgeschieden
die Erreger können bei Ungeimpften in seltenen Fällen zu Poliomyelitis führen
Forschende betonen die Bedeutung des Abwasserscreenings und sehen bislang keine Gefahr für die Bevölkerung
In einer Hamburger Abwasserprobe sind Polio-Wildviren vom Typ 1 (WPV1) nachgewiesen worden. Darüber berichtet das Robert-Koch-Institut (RKI) im aktuellen „Epidemiologischen Bulletin“ (siehe Primärquelle). Polio-Wildviren können bei ungeimpften Personen zu Poliomyelitis (Kinderlähmung) führen. Die letzte in Deutschland erworbene Poliomyelitis-Erkrankung durch Polio-Wildviren wurde 1990 erfasst. Bereits seit Ende 2024 werden in Abwasserproben aus mehreren Standorten in Deutschland zirkulierende impfstoffabgeleitete Polioviren des Typs 2 (VDPV) nachgewiesen. Siehe SMC-Aussendungen [I] und [II].
Die Polio-Wildviren wurden dem RKI zufolge am 6. Oktober in Hamburg entdeckt. Derlei Polioviren zirkulieren aktuell eigentlich nur noch in Afghanistan oder Pakistan. In beiden Ländern ist die Polioimpfquote recht gering. Die Genomsequenz des nun entdeckten Virus zeige starke Ähnlichkeiten mit einem genetischen Cluster in Afghanistan, so das RKI. Der Nachweis spreche dafür, dass die Viren von mindestens einer Person ausgeschieden worden sei, die sich um den Zeitpunkt der Abwasserprobe in Hamburg aufgehalten habe. Ein Zusammenhang zwischen den nun entdeckten Polio-Wildviren und den zuletzt immer häufiger gefundenen impfstoffabgeleiteten Polioviren besteht dem RKI zufolge nicht. Die Virustypen seien verschieden.
Professur für Molekulare Immunologie, Leiter des Instituts für Hygiene und Angewandte Immunologie, Medizinische Universität Wien, und Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten, Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM), Österreich
Einschätzung des Falls in Hamburg
„Aus dem vorliegenden ,Epidemiologische Bulletin‘ lässt sich entnehmen, dass zumindest eine mit Wildtyp-Polio (WPV1) infizierte Person im Einzugsgebiet von Hamburg befunden hat. Das ist jetzt nicht völlig überraschend angesichts internationaler Reise- und Migrationsaktivitäten bei anhaltender Zirkulation von WPV1 in wenigen Ländern. Die Tatsache, dass das Abwasser in Deutschland seit 2021 auf Wildtyp-Polioviren untersucht wird, aber offenbar erst jetzt zum ersten Mal ein Signal detektiert wurde, deutet daraufhin, dass es sich um ein örtlich und zeitlich begrenztes Ereignis handelt. Abwasseranalysen von aktuelleren Proben aus Hamburg und anderen Orten werden über die Ausbreitung genaueren Aufschluss geben.“
Einschätzung der Gefährdungslage
„Die Risikoeinschätzung wird als sehr gering eingeschätzt. Das hängt einerseits mit dem erst einmaligen Nachweis von WPV1 im Abwasser zusammen, andererseits aber mit der verhältnismäßig hohen Immunitätslage in Deutschland mit Kinder-Durchimpfraten von bis zu 90 Prozent. Eine vollständige Polioimpfung bietet einen sehr hohen Schutz vor schweren Krankheitsverläufen. Insofern ist es sinnvoll, daran zu denken, etwaige bestehende Impflücken bei Kindern und Jugendlichen zu schließen sowie vor Reisen nach Afghanistan oder Pakistan – Regionen, in denen immer noch Polio-Wildtypviren zirkulieren – eine Polio-Auffrischimpfung anzudenken.“
Infektionsverlauf
„Poliovirusinfektionen verlaufen in den meisten Fälle ohne klinische Symptome. Das bedeutet, dass betroffene Personen das infektiöse Virus ausscheiden, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Daher ist die Empfehlung an ÄrztInnen sinnvoll, auftretende Verdachtsfälle rasch diagnostisch abzuklären.“
Abwasserscreening
„Abgesehen davon zeigt der aktuelle Poliofund im Abwasser, dass die Wissenschaft und die Gesundheitsbehörden inzwischen gute Werkzeuge haben, um Infektionserreger im Abwasser nachzuweisen und im Sinne der öffentlichen Gesundheit einen möglichst genauen Überblick zu erhalten.“
Stellvertretende Teamleiterin der Klinischen Epidemiologie, Abteilung Epidemiologie (EPID), Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig
Infektionsrisiko nach dem Hamburger Fall
„Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat den Nachweis von Polio-Wildviren vom Typ 1 in einer Abwasserprobe vom 06.10.25 aus Hamburg gemeldet. Dies ist der erste Nachweis von Polio-Wildviren in Deutschland seit 1992. Eine Zirkulation von Wildpolioviren ist aktuell aus Afghanistan und Pakistan bekannt, Nachweise aus Umweltproben hat es auch in weiteren Ländern gegeben, allerdings nicht in Europa. Es gibt aber auch nur in wenigen Ländern eine entsprechende Überwachung des Abwassers und auch in Deutschland findet die Überwachung des Abwassers auf Polioviren erst seit 2021 statt. Insgesamt zeigt der Nachweis aber die Bedeutung der Abwasserüberwachung als Frühwarnsystem.“
„Vorherige Nachweise von Polio-Wildviren in Deutschland basierten auf klinischen Fällen oder dem Nachweis in der Enterovirensurveillance. Klinische Symptome durch Polio-Wildviren sind nach Daten aus den Zeiten, in denen es noch zu Ausbrüchen kam, in einem bis vier Fällen von 100 Menschen, die infiziert und nicht geimpft sind, zu erwarten; aber ein deutlich kleinerer Anteil dieser Menschen hat die als Kinderlähmung bekannte Ausprägung bekommen.“
„Es ist aktuell also mit Blick auf diesen Nachweis davon auszugehen, dass es mindestens eine infizierte Person gibt, die das Virus ausscheidet. Grundsätzlich ist auch die Ansteckung von weiteren Personen nicht auszuschließen, klinische Symptome wären nur dann zu erwarten, wenn dies ungeimpfte Personen beträfe.“
„Das RKI schätzt das Risiko für die Bevölkerung aktuell als sehr gering ein, weist aber ebenfalls darauf hin, dass das Auftreten von klinischen Fällen möglich ist und es wichtig ist, dass Gesundheitseinrichtungen daran denken.“
Impfstoff und Impfquoten
„Lokale Faktoren, die dieses Risiko beeinflussen, sind insbesondere die regionale Polioimpfquote. Wichtig ist, dass klinische Symptome, die zu einer Polioerkrankung passen könnten, rasch erkannt werden können und entsprechende weitere Diagnostik veranlasst wird. Wichtig ist zudem, jetzt den Impfstatus zu prüfen, also den Impfpass anzusehen und sich bei Unsicherheiten an einen Arzt oder eine Ärztin zu wenden.“
„Der in Deutschland eingesetzte inaktivierte Poliovirusimpfstoff (IPV) verhindert eine Infektion durch Polioviren nicht, sondern schützt vor der klinischen Erkrankung. Demgegenüber erzeugt der orale, attenuierte Lebendimpfstoff (OPV) eine starke Schleimhaut-Immunität, da das abgeschwächte Virus im Darm repliziert. Dies führt zu einer deutlichen Reduktion der Virusreplikation, zu kürzerer oder ausbleibender Ausscheidung und damit zur Unterbrechung der Übertragungsketten.“
„Die Eliminierung der Poliomyelitis in Europa basiert auf einer Kombination aus sehr hohen Impfraten, umfassender Surveillance, fehlender endemischer Zirkulation und strikter Kontrolle importierter Erreger. Wird das Virus jedoch erneut eingeschleppt, kann es auch in vollständig IPV-geimpften Populationen zirkulieren, ohne sofort Erkrankungen zu verursachen.“
„Die Anwendung von OPV erfolgt in Ländern, in denen man sich der Eradikation nähert, aus Sicherheitsgründen nicht mehr routinemäßig, da es in seltenen Fällen zu impfstoffassoziierten Lähmungen kommen kann. In Regionen mit hoher Poliovirusprävalenz hat die Unterbrechung von Infektionsketten jedoch eine größere Bedeutung, sodass OPV dort weiterhin essenziell bleibt. In Ländern mit niedriger Prävalenz überwiegt dagegen der Nutzen der Vermeidung impfstoffbedingter unerwünschter Wirkungen, weshalb IPV bevorzugt eingesetzt wird.“
„Wenn also in einer nur unzureichend geimpften Bevölkerung Polioviren zirkulieren, besteht das Risiko von klinischen Erkrankungen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür steigt mit zunehmender Viruszirkulation und bei niedrigen Impfquoten. Insofern ist dieses Risiko entsprechend der regional unterschiedlichen Impfquoten in Deutschland bei Auftreten von Polioviren unterschiedlich.“
Oberstarzt und Leiter, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München, und außerplanmäßiger Professor, Technische Universität München
Infektionsrisiko nach dem Hamburger Fall
„Der Nachweis eines Wildpoliovirus im Abwasser zeigt, dass sich mindestens eine mit Poliovirus Typ 1 infizierte Person vorübergehend in Hamburg aufgehalten hat. Das Virus stammt sehr wahrscheinlich aus einem der beiden verbliebenen Endemieländer Afghanistan und Pakistan. Wichtig ist, dass es bislang keine Hinweise auf weitere Infektionen oder gar eine anhaltende Verbreitung gibt. Auch wurde bisher in Deutschland kein Polio-Krankheitsfall gemeldet.“
„Ich bewerte das Risiko für die Bevölkerung in Deutschland derzeit als sehr gering, auch weil wir bundesweit eine insgesamt recht hohe Impfquote haben. Für Menschen ohne Polio-Impfschutz besteht aber theoretisch ein Erkrankungsrisiko. Ob es lokal zu einer Übertragung kommen kann, hängt unter anderem von den folgenden Einflussfaktoren ab: Der Impfquote vor Ort (je höher, desto geringer das Risiko), den Hygienebedingungen (Polio wird fäkal-oral übertragen) und der Bevölkerungsstruktur (zum Beispiel lokale Cluster Ungeimpfter wie beispielsweise impfskeptische Gruppen), und davon, ob das Virus einmalig oder wiederholt eingetragen wird. Da der Fund in Hamburg bislang isoliert blieb, sehe ich im Moment noch keine Hinweise auf eine lokale Zirkulation.“
Impfquoten und Impflücken
„Polioviren verbreiten sich bei örtlichen Impflücken. Auch wenn Deutschland mit einer Polio-Impfquote von derzeit etwa 80 Prozent gut geschützt ist, gibt es Regionen mit deutlich unterdurchschnittlichen Impfquoten. In solchen Gebieten könnten selbst Einzelfunde zu Übertragungsketten führen. Für einen verlässlichen Gemeinschaftsschutz braucht es mindestens circa 80 bis 85 Prozent immune Personen – besser noch mehr. Liegt die Impfquote darunter, kann sich das Virus unbemerkt in ungeimpften Gruppen ausbreiten. Deshalb ist es jetzt entscheidend, die Polio-Impflücken konsequent zu schließen.“
Unterschied Wild- und Impfpolioviren
„Polio-Wildviren vom Typ 1 (WPV1) sind ein natürlich vorkommender Wildtyp, der derzeit nur noch in Afghanistan und Pakistan kontinuierlich zirkuliert. Impfstoffabgeleitete Polioviren (cVDPV2) entstehen, wenn ein abgeschwächtes Impfvirus des alten Schluckimpfstoffs in schlecht geimpften Populationen mutiert und wieder ,wildtyp-ähnlich‘ wird. Für Ungeimpfte sind beide Virustypen gleich gefährlich: Sie können Poliomyelitis mit dauerhaften Lähmungen auslösen. Der in Deutschland verwendete inaktivierte Polioimpfstoff schützt sehr zuverlässig vor einer Polioerkrankung durch beide Varianten.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Robert-Koch-Institut (13.11.2025): Polio-Wildviren Typ 1 in Abwasserprobe in Hamburg nachgewiesen. Epidemiologisches Bulletin. DOI: 10.25646/13559.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Science Media Center (2022): Polioviren in Abwasseruntersuchungen. Statements. Stand: 18.08.2022.
[II] Science Media Center (2024): Weitere Impfpolioviren in Abwasser entdeckt. Statements. Stand: 04.12.2024.
[III] Science Media Center (2024): Impfschutz in Deutschland: Hoher Standard, aber mit Schwachstellen. Statements. Stand: 13.12.2024.
Prof. Dr. Andreas Bergthaler
Professur für Molekulare Immunologie, Leiter des Instituts für Hygiene und Angewandte Immunologie, Medizinische Universität Wien, und Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten, Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM), Österreich
Dr. Carolina Klett-Tammen
Stellvertretende Teamleiterin der Klinischen Epidemiologie, Abteilung Epidemiologie (EPID), Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig
Prof. Dr. Roman Wölfel
Oberstarzt und Leiter, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München, und außerplanmäßiger Professor, Technische Universität München