Weitere Impfpolioviren in Abwasser entdeckt
in weiteren deutschen Städten wurden in Abwasserproben Impfpolioviren gefunden
sie können unter bestimmten Umständen und in sehr seltenen Fällen bei Ungeimpften wieder zum Ausbruch der Krankheit führen
Experten betonen, dass durch die Abwasseruntersuchung solche Fälle nun früh gesehen werden und dass ein hoher Impfschutz in der Bevölkerung wichtig ist
Das Robert Koch-Institut (RKI) hat erneut über den Nachweis von Impfpolioviren in Abwasserproben in Deutschland berichtet [I]. Diese sogenannten impfstoffabgeleiteten Polioviren können unter bestimmten Umständen zirkulieren und in sehr seltenen Fällen die Krankheit bei Ungeimpften auslösen. Betroffen sind Abwasserproben aus Kläranlagen in Dresden, Düsseldorf und Mainz, die in den Kalenderwochen 46 und 47 untersucht wurden. Bereits zuvor waren genetisch ähnliche Viren in Proben aus München, Bonn, Köln und Hamburg festgestellt worden.
Oberstarzt und Leiter, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München, und Außerplanmäßiger Professor, Technische Universität München
„Das Abwasser-Screening mittels PCR oder Genomsequenzierung ist ein nützliches Verfahren zur Erkennung von Infektionskrankheiten in der Bevölkerung. Es hat insbesondere seit der SARS-CoV-2-Pandemie an Bedeutung gewonnen. Es ist allerdings wichtig, neben den Stärken, auch die Grenzen dieses Verfahrens zu kennen. So bedeutet der Nachweis von Erbgut eines Krankheitserregers im gesammelten Abwasser nicht automatisch, dass man Herkunft oder Ausbreitungswege dieses Erregers genau nachweisen kann. Das Abwasser kann von mehreren tausend Menschen stammen und man weiß erst einmal nichts darüber, wo diese Menschen herkommen oder wie sie sich angesteckt haben. Um das herauszufinden, bedarf es weiterer, teils aufwändiger, epidemiologischer Studien und Laboruntersuchungen.“
„Mit dem inaktivierten IPV-Impfstoff und dem OPV-Schluckimpfstoff haben wir glücklicherweise zwei sehr wirksame Mittel zum Schutz von Menschen gegen die Kinderlähmung. Seit vielen Jahren wird weltweit mit diesen Impfstoffen versucht die, nur beim Menschen vorkommende, Polio auszurotten. Leider hat das Impfprogramm der WHO in den vergangenen Jahren, insbesondere durch Kriege und politische Unruhen, Rückschläge erleiden müssen. Der Einsatz von OPV-Impfstoff ist auch heute noch sinnvoll, wenn sich Polio in einer Bevölkerung ausbreitet, die keinen ausreichenden Impfschutz hat und wenn die medizinische Versorgung und die Hygienesituation insgesamt eher schlecht sind.“
„Das Risiko einer ,Rückverwandlung‘ von OPV-Impfviren in gefährliche VDPV-Polioviren ist sehr gering. In den vergangenen Jahrzehnten wurden auf der ganzen Welt Milliarden von OPV-Schluckimpfungen ausgegeben und damit Millionen Fälle von Kinderlähmung vermieden. Sehr selten kam es zu Ausbrüchen von Impfpolio mit insgesamt bislang wenigen tausend Fällen weltweit. Zur Sicherheit wechselt man aber von OPV-Impfstoff auf IPV-Impfstoff, sobald aufgrund einer besseren Immunität in der Bevölkerung kaum noch echte Poliofälle auftreten. In Deutschland verwenden wir deshalb seit vielen Jahren auch nur noch den IPV-Polioimpfstoff. Dessen Impfschutz schützt auch gegen eine Impfpolio durch mutierte OPV-Impfviren.“
„Die ,Rückverwandlung‘ von OPV-Impfviren geschieht nicht einfach so in einem einzigen damit geimpften Menschen. Die Impfviren müssen vielmehr nacheinander auf mehrere, gegen Polio ungeschützte, Menschen übertragen werden. Dabei kann es passieren, dass OPV-Impfviren durch mehrere Mutationen schrittweise wieder gefährliche Eigenschaften des ursprünglichen Poliovirus zurückerlangen. In Deutschland haben wir allerdings nach einer Studie des RKI aus dem Jahr 2013 mehr als 85 Prozent Polio-Impfschutz in der Bevölkerung. Es wäre besser diese Quote läge noch höher. Allerdings ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass die OPV-Impfviren bei so einem Impfschutz in der Bevölkerung leicht weitergegeben werden und dabei mutieren können. Wo genau die jetzt im Abwasser nachgewiesenen mutierte OPV-Impfviren hergekommen sind, muss deshalb mit weiteren Studien geklärt werden. Letztlich ist es aber so, dass egal wo solche mutierte OPV-Impfviren auf der Welt entstehen, sie durch unsere schnellen internationale Reiseverbindungen, früher oder später auch immer in Deutschland ankommen werden.“
„Die meisten bisher entdeckten mutierten OPV-Impfviren sind nach einiger Zeit wieder von selbst verschwunden, ohne viele schwere Erkrankungsfälle ausgelöst zu haben. Es sind nur wenige Ereignisse bekannt, bei denen solche mutierten OPV-Impfviren in Bevölkerungsgruppen mit sehr niedrigem Polio-Impfschutz längere Zeit durch engen Kontakt weitergegeben wurden.“
„Es ist wichtig, dass alle Menschen in Deutschland ihren Polio-Impfschutz prüfen. Man sollte in seinem Leben mindestens vier Mal sicher gegen Polio geimpft worden sein, egal ob mit OPV- oder IPV-Impfstoff. In bestimmten Fällen wird eine Auffrischung nach zehn Jahren empfohlen. Mit einem ausreichenden Impfschutz ist man gut gegen die Kinderlähmung geschützt, egal, ob man mit ,wilden‘ Polioviren oder mutierte OPV-Impfviren in Kontakt kommt.“
Professur für Molekulare Immunologie, Leiter des Instituts für Hygiene und Angewandte Immunologie, Medizinische Universität Wien, und Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten, Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM), Österreich
„Das Abwasser-Surveillance ermöglicht die Detektion vieler Infektionserreger, die bisher nicht systematisch erhoben worden sind. Aktuelle Daten aus dem Abwasser in zumindest drei EU-Ländern zeigen, dass ein propagierender Polio-Impfstamm, der so bei uns eigentlich nicht mehr Verwendung findet, mancherorts ins Abwasser ausgeschieden wird. Solche Abwasser-Überwachungsprogramme helfen, einen besseren Überblick über in der Bevölkerung zirkulierende Viren zu gewinnen. Im aktuellen Fall zeigt es auch die Wichtigkeit der Impfung für Polio bei Kindern als auch bei Reisenden beziehungsweise Personen aus Hochrisikogebieten, die eventuell keinen vollständigen Impfschutz besitzen. Insgesamt wäre ich etwas vorsichtig mit der Interpretation der Abwassersignale, da vielerorts systematische jahrelange Messungen und die entsprechende genomische Epidemiologie fehlen.“
Fachverantwortlicher für die molekulare Diagnostik der klinischen Virologie (WHO-Stützpunkt für Poliomyelitis), Universitätsspital Basel
„Wenn wir die weltweite politische Lage betrachten und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme und -zahlen, ist es nicht verwunderlich, dass Polio im Abwasser gefunden wurde. Dies zeigt, dass die Frühwarnsysteme in den entsprechenden Ländern gut funktionieren. Es ist möglich, dass auch in anderen Ländern, die ein hohes Flüchtlingsaufkommen haben, jedoch kein Abwassermonitoring durchführen, Polio im Abwasser vorhanden ist. Der alleinige Nachweis von Poliovirus-Genomabschnitten im Abwasser sagt aber nichts darüber aus, ob es sich um vermehrungsfähige und somit um infektiöse Viren handelt. “
Auf die Frage, ob die Polioviren erst seit kurzer Zeit im Abwasser zirkulieren:
„Diese Frage kann man nicht mit Sicherheit beantworten. Eine Möglichkeit wäre, in der Vergangenheit gesammelte und adäquat gelagerte Abwasserproben nachträglich auf Poliovirus zu untersuchen.“
Auf die Frage, ob es denkbar ist, dass durch den Eintrag solcher Impfpolioviren erneut vermehrt Impfpoliofälle auftreten werden:
„Dies ist relativ unwahrscheinlich, da die Impfquote in Deutschland für drei Impfstoffdosen im Alter von 15 Monaten bei gut 90 Prozent liegt, allerdings gibt es deutliche Schwankungen zwischen den Bundesländern. Eine Impfquote von mehr als 95 Prozent kann eine Ausbreitung des Virus und somit größere Ausbrüche verhindern. Es wäre sicherlich gut, wenn die Bevölkerung den Nachweis von Poliovirus-Genomabschnitten im Abwasser zum Anlass nimmt, den Impfstatus zu überprüfen.“
Auf die Frage, ob die IPV-Impfung vor Infektion mit Impfpolioviren schützt:
„VDPVs (vaccine-derived polioviruses; Anm. d. Red.) sind Polioviren, die durch Rückmutation die Neurotoxizität zurückerlangt haben und sie können somit, wie Wildpolioviren, zu akuten schlaffen Lähmungen führen. Diese Eigenschaft ist aber unabhängig von der ,äußeren‘ Gestalt der Viren. Diese ist bei Wildpolioviren, Sabin-Impfstämmen und VDPVs sehr ähnlich. Somit deckt die IPV-Impfung sowohl Wildpolioviren, Sabin-Impfviren und daraus resultierende VDPVs ab.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2022): Polioviren in Abwasseruntersuchungen. Statements. Stand: 18.08.2022.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Robert-Koch-Institut (04.,12.2024): Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren in Abwasserproben an weiteren Orten in Deutschland nachgewiesen. Epidemiologisches Bulletin.
Prof. Dr. Roman Wölfel
Oberstarzt und Leiter, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr, München, und Außerplanmäßiger Professor, Technische Universität München
Prof. Dr. Andreas Bergthaler
Professur für Molekulare Immunologie, Leiter des Instituts für Hygiene und Angewandte Immunologie, Medizinische Universität Wien, und Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten, Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM), Österreich
PD Dr. Rainer Gosert
Fachverantwortlicher für die molekulare Diagnostik der klinischen Virologie (WHO-Stützpunkt für Poliomyelitis), Universitätsspital Basel