Insektenarten sind durch Naturschutzgebiete nicht gut geschützt
Verbreitungsgebiete von drei Viertel der Insektenarten laut Studie durch Schutzgebiete nicht gut abgedeckt
problematisch angesichts des weltweiten Insektensterbens
Forschende halten Studie für wichtigen ersten Überblick, Datenlage zu Insektenvorkommen aber sehr lückenhaft
Einer neuen Studie zufolge sind die Verbreitungsgebiete von drei Viertel der Insektenarten nicht angemessen von Naturschutzgebieten repräsentiert. Zwei Prozent der untersuchten Arten kommen sogar nur außerhalb geschützter Bereiche vor. Angesichts des starken Rückgangs an Insekten sei das problematisch, argumentieren die Autoren. Die Studie ist am 01.02.2023 im Fachjournal „One Earth“ (siehe Primärquelle) erschienen.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Ökologische Netzwerke, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt
„Schutzgebiete werden in der Regel ausgewiesen, um das Vorkommen einzelner, meist seltener, Arten zu erhalten oder um Lebensräume mit globaler Bedeutung zu schützen – zum Beispiel Brut- oder Nahrungsgebiete für Zugvögel. Um den weitreichenden Rückgang an Insekten aufzuhalten, sind jedoch Maßnahmen erforderlich, die stärker auf den Erhalt vieler Arten als auf den Erhalt einzelner Arten ausgerichtet sind. Die Erhöhung der unter Schutz stehenden Landfläche auf 30 Prozent durch das 30x30-Ziel ist eine solche Maßnahme.“
„Die Autoren der Studie haben weltweite Daten zum Vorkommen von Insekten mit der Verteilung von Schutzgebieten verglichen. Damit bietet die Studie einen wichtigen ersten Überblick, wo sich vorhandene Schutzgebiete mit dem Vorkommen von Insekten überschneiden und für welche Verbreitungsgebiete noch Schutzgebiete fehlen. Allerdings sollten die Ergebnisse für einige Weltregionen mit Vorsicht interpretiert werden, denn die Datengrundlage zum Vorkommen von Insekten ist nicht überall so gut und umfassend wie in Mitteleuropa oder Nordamerika.“
„Die Autoren verwenden mit der ,Global Biodiversity Information Facility‘ Datenbank die beste aktuell zur Verfügung stehende Informationsquelle für das Vorkommen von Arten auf globaler Skala. Allerdings ist die Datenlage global betrachtet sehr unterschiedlich mit einer deutlich besseren Abdeckung im globalen Norden. Die Autoren schreiben außerdem selbst, dass die Verbreitungsgebiete der meisten Arten deutlich unterschätzt sein dürften.“
„Die Definition der Zielwerte abhängig von der Größe des Verbreitungsgebietes ist sinnvoll. Die Autoren verwenden als minimalen Zielwert den aktuellen globalen Anteil an Schutzgebieten von 15 Prozent der Landfläche und verwenden diesen für Arten mit einem Verbreitungsgebiet, das etwas kleiner ist als die größeren Länder Europas. Dies ist zwar sinnvoll und realistisch, jedoch liegt der Zielwert bei Arten mit einem Verbreitungsgebiet etwa der Größe Rügens schon bei 100 Prozent geschützter Fläche. Hier wäre es interessant zu sehen, wie stark der Anteil an ausreichend geschützten Arten steigt, wenn man das höchste Ziel erst bei kleineren Verbreitungsgebieten ansetzt.“
Auf die Frage, warum der Studie zufolge besonders in Nordamerika und Asien – nicht aber in West- und Mitteleuropa – Insekten schlecht von Schutzgebieten repräsentiert sind:
„Wenn man die Verteilung der Beobachtungen in der ,Global Biodiversity Information Facility‘ betrachtet, sieht man, dass es für große Bereiche in Afrika und Zentralasien keine Informationen zum Vorkommen von Insekten gibt. Hier werden Arten außerhalb von Schutzgebieten vermutlich selten erforscht und erfasst. Das bedeutet, dass die Überlappung zwischen dem Vorkommen von Arten und der Fläche von Schutzgebieten sehr hoch ist. In Nordamerika scheint die geringe Überlappung hingegen eher an der Menge oder Lage von Schutzgebieten zu liegen, denn hier ist die Abdeckung durch Beobachtungen in der ,Global Biodiversity Information Facility‘ sehr gut. In West- und Mitteleuropa gibt es im globalen Vergleich ein dichtes Netz von Schutzgebieten. Hier ist daher die Wahrscheinlichkeit hoch, dass für Arten mit großem Verbreitungsgebiet das in der Publikation verwendete Ziel von 15 Prozent Schutzfläche erreicht wird. In Europa ist das Vorkommen von Insekten zudem sehr gut erforscht und Schutzgebiete wurden und werden insbesondere dort ausgewiesen, wo Arten mit kleinem Verbreitungsgebiet vorkommen.“
Auf die Frage, was – mit Blick auf das 30x30-Ziel – berücksichtigt werden muss, damit neu eingerichtete Schutzgebiete Insekten zugutekommen:
„In Deutschland stehen aktuell nur knapp sieben Prozent der Fläche unter strengem Schutz durch ausgewiesene Schutzgebiete und Nationalparks. Dies ist deutlich weniger als die 15 Prozent, welche in der Publikation als Minimalziel angenommen wurden für Arten, welche ein sehr großes Verbreitungsgebiet haben und deshalb normalerweise nicht als schutzbedürftig eingestuft werden. Es gibt zwar zusätzlich dazu weitere Flächen, in welchen Natur erhalten werden soll – zum Beispiel Naturparks und Biosphärenreservate, dort gelten jedoch weniger strenge Regeln, was die Nutzung durch Landwirtschaft, Forstwirtschaft oder Tourismus angeht. Für das 30x30-Ziel muss also klar definiert werden, welche Art von Schutzgebieten den 30 Prozent Fläche zugeordnet werden sollen, welche Nutzungseinschränkungen nötig sind, um Biodiversität zu erhalten und wie diese kontrolliert werden.“
„Da Insekten eine extrem vielfältige Tiergruppe darstellen, muss sowohl global als auch lokal die gesamte Vielfalt an Ökosystemen und Lebensräumen geschützt werden. Innerhalb einzelner Ökosysteme gilt dasselbe Prinzip: Je vielfältiger ein Lebensraum in Bezug auf Strukturen, Pflanzen und Mikroklima ist, desto mehr Insektenarten können potenziell vorkommen.“
Auf die Frage, inwiefern Naturschutzgebiete effektiv für den Schutz von Insekten sind und welche anderen Schutzmaßnahmen wichtig(er) sind:
„Schutzgebiete sind sehr wichtig für den Schutz von Insekten, da sie den Lebensraum von Arten mit besonderen Ansprüchen erhalten. Allerdings gilt: Schutzgebiete sind zwar vor direkten Eingriffen geschützt, jedoch nicht vor den indirekten Veränderungen in der umgebenden Landschaft. Insbesondere der Eintrag von Stickstoff oder Insektiziden über die Luft ist auch in Naturschutzgebieten ein Problem für die Artenvielfalt. Außerdem sind Schutzgebiete häufig nicht ausreichend miteinander vernetzt, da verbindende Elemente in der Landschaft fehlen. Wir brauchen also auch außerhalb von Schutzgebieten mehr Strukturvielfalt – zum Beispiel Hecken, Säume und Grünstreifen – und eine weniger intensive Landnutzung.“
Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Bonn
„Die Studie fügt sich in andere Studien ein [1] [2], die versucht haben, herauszufinden, wie gut Insekten durch Naturschutzgebiete geschützt werden. Neu an der vorliegenden Studie ist, dass der Versuch unternommen wird, tatsächlich für die gesamte terrestrische Landfläche der Erde eine Schätzung abzugeben. Der ermittelte Wert – 76 Prozent der Arten sind nicht gut durch Naturschutzgebiete geschützt – ist überraschend hoch.“
„Die Ergebnisse der Studie sind leider alles andere als repräsentativ. Von den schätzungsweise fünf bis sechs Millionen Insektenarten sind bisher etwa eine Million beschrieben. Mit 90.000 Arten deckt die Studie damit gerade einmal neun Prozent der weltweit vorkommenden Insekten ab. Viele Nachweise beruhen außerdem nur auf ganz wenigen Fundpunkten und für den Großteil der Insekten gibt es schlichtweg überhaupt keine verlässlichen Verbreitungsdaten. Besonders besorgniserregend ist, dass die einzige Gruppe mit anscheinend ausreichender Repräsentanz in Schutzgebieten diejenige der Fächerflügler (Strepsiptera) ist. Dies ist eine höchst versteckt lebende, parasitische Insektengruppe, über deren Verbreitung eigentlich fast nichts bekannt ist. Da insbesondere in den Tropen immer noch nur ein Bruchteil aller Arten beschrieben sind, ist es meiner Ansicht nach unmöglich, eine seriöse Abschätzung eines Gesamtmittelwerts des Schutzstatus zu geben.“
„Zudem erscheint die Festlegung der Zielwerte recht willkürlich: Wie wären die Ergebnisse der Studie ausgefallen, wenn die Zielwerte anders gewählt worden wären? Die Zielwerte wurden im Prinzip so festgelegt, als seien Insekten Wirbeltiere. Man hätte eigentlich erst einmal herausfinden müssen, wie groß die durchschnittlichen Verbreitungsgebiete von Insekten sind, und dann darauf aufbauend einen repräsentativen Zielwert definieren sollen. Die gewählten 1.000 Quadratkilometer, die zu 100 Prozent durch Schutzgebiete abzudecken seien, erscheinen aus der Luft gegriffen. Es könnte sein, dass 1.000 Kilometer viel zu groß sind, es könnte aber auch sein, dass ein höherer Wert sinnvoll gewesen wäre. Hier wäre eine tiefergehende Analyse wünschenswert gewesen, um herauszufinden, wie sich unterschiedliche Schwellenwerte auf die Ergebnisse der Studie ausgewirkt hätten.“
„Der größte Kritikpunkt an der Studie ist, dass ausschließlich Daten aus der ,Global Biodiversity Information Facility‘ Datenbank eingeflossen sind. Diese Daten wurden freiwillig von Beobachter/innen gesammelt und sind alles andere als repräsentativ. Es handelt sich im Gegenteil um sogenannte unstrukturierte Daten, bei denen es außerdem kaum eine Qualitätskontrolle gibt. Vorangegangene Studien haben aus diesem Grunde stets mehrere Datenquellen verwendet und sich nicht nur auf die ,Global Biodiversity Information Facility‘ verlassen. Zudem wurden nur die bestehenden Daten verwendet, ohne ein tiefergehendes Artverbreitungsmodell (,species distribution model‘) anzuwenden. Auch ist der Schwellenwert von mindestens vier Fundpunkten pro Art viel zu niedrig angesetzt – die resultierenden Polygone können hochgradig fehlerhaft sein, wenn diese nur auf vier Punkten begründet werden.“
Auf die Frage, warum der Studie zufolge besonders in Nordamerika und Asien – nicht aber in West- und Mitteleuropa – Insekten schlecht von Schutzgebieten repräsentiert sind:
„Dieses Ergebnis ist schwer nachzuvollziehen, insbesondere, weil nicht beschrieben wird, wie die Autoren die Karte genau erstellt haben. Insgesamt ist die in der Studie zur Verfügung gestellte Information so knapp zusammengefasst dargestellt, dass man die genau verwendeten Methoden nur schwer nachvollziehen kann. Es fallen beispielsweise weiße Bereiche im Amazonasbecken und in Kamtschatka auf. Darüber hinaus scheint auch in Sibirien die Datenlage unklar gewesen zu sein, da hier sehr niedrige und sehr hohe Werte gemischt auftreten. Besonders die Werte im tropischen Lateinamerika, aber auch für Afrika und Australien, sind mit Vorsicht zu genießen, da hier zugleich große Informationslücken bestehen. Wie kann man es sich erklären, dass es beispielsweise auf dem Afrikanischen Kontinent keine Abstufung zwischen Sahara und Kongobecken gibt? Es kann nicht sein, dass hier alle Insektenarten gut geschützt sind. Stattdessen dürfte hier die Datenbasis für eine solch globale Analyse einfach nicht ausreichend sein.“
Auf die Frage, was – mit Blick auf das 30x30-Ziel – berücksichtigt werden muss, damit neu eingerichtete Schutzgebiete Insekten zugutekommen:
„Aus meiner Sicht muss man hier zwei Dinge gleichzeitig bedenken: Einerseits sollte das Schutzgebiet selbst gut ,in Schuss‘ gehalten werden und andererseits muss auch die umgebende Landschaftsmatrix biodiversitätsfreundlich gestaltet werden. Es reicht nicht, Schutzgebiete als ,Inseln der Glückseligkeit‘ zu schützen – man muss auch dafür sorgen, dass die Vernetzung zwischen den Schutzgebieten und die Durchlässigkeit der umgebenden Landschaftsmatrix gewährleistet ist.“
„Innerhalb der Schutzgebiete wäre ein wichtiger erster Schritt, darauf zu achten, dass eine ausreichende Pflanzen-Artenvielfalt gewährleistet ist. Da jede Pflanzenart mehrere Insektenarten beherbergt, hätte man durch eine intakte, artenreiche Vegetationsdecke bereits indirekt etwas für die Insektenvielfalt bewirkt. Der Fokus sollte dabei auf den besonders nährstoffarmen Lebensräumen liegen – in Deutschland sind das vor allem Hochmoore und Magerrasen. Zunehmend sollten wir aber auch darauf hinarbeiten, dass Land- und Forstwirtschaft, aber auch jeder Einzelne, die Natur als Wert begreift und sich gerne für den Erhalt der Artenvielfalt einsetzt. Wir müssen endlich lernen, dass Artenschutz letztlich auch Menschenschutz ist – wir sind gesünder und fröhlicher, wenn wir von einer bunten Natur umgeben sind.“
„Insbesondere die kleinsten der Schutzgebiete in Deutschland sind auf Dauer dem Untergang geweiht, wenn wir so weitermachen wie bisher - aus der Umgebung werden ständig Nährstoffe eingeweht, die zu einem Rückgang der Artenvielfalt führen. Außerdem sind die meisten Populationen so klein, dass sie genetisch verarmen und der langfristige Fortbestand nicht mehr gesichert ist.
Auf die Frage, inwiefern Naturschutzgebiete effektiv für den Schutz von Insekten sind und welche anderen Schutzmaßnahmen wichtig(er) sind:
„Insbesondere die kleinsten der Schutzgebiete in Deutschland sind auf Dauer dem Untergang geweiht, wenn wir so weitermachen wie bisher – aus der Umgebung werden ständig Nährstoffe eingeweht, die zu einem Rückgang der Artenvielfalt führen. Außerdem sind die meisten Populationen so klein, dass sie genetisch verarmen und der langfristige Fortbestand nicht mehr gesichert ist.“
„Die Segregation zwischen Schutzgebieten und ,Normallandschaft‘ muss aufgebrochen werden – wir brauchen lebendige Landschaften, in denen es den Insekten überall gut geht und nicht nur in den Schutzgebieten. Schutzgebiete dürfen keine Museen mit Zaun und Tor werden. Stattdessen brauchen wir Artenvielfalt auf ganzer Fläche – im Wald, auf dem Acker und in den Gewässern, aber auch in Städten und Privatgärten. Das geht nur mit einem gesamtgesellschaftlichen Umdenken. Naturschutz in Isolation ist dem Untergang geweiht. Ein Vorschlag wäre, in der Landschaft durch eine Vielzahl an Maßnahmen mehr Biodiversität zu ermöglichen: großflächige, lichtdurchflutete Mischwälder; ausgedehnte, artenreiche Agrarflächen; artenreiches Grünland; buntes Stadtgrün mit einheimischen Kräutern und Sträuchern; artenreiche Autobahnränder und intakte, renaturierte Flussauen und Moore.“
Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
„Häufigkeit und Verbreitung von Insekten sind wenig erforscht, obwohl Insekten rund zwei Drittel aller Tierarten stellen. Das liegt zum einen an der schieren Artenzahl, die schätzungsweise bei über fünf Millionen liegt, zum anderen an ihrer geringen Körpergröße und Sichtbarkeit. Entsprechend sind Schätzungen zum Rückgang der Artenvielfalt von Insekten mit sehr großen Unsicherheiten behaftet.“
„Die Schätzungen von Shawan Chowdhury und Koautoren sind wegen dieser schlechten Datenlage mit Vorsicht zu genießen. Von wenigen Funddaten pro Art darauf zu schließen, wie viel des Verbreitungsgebiets durch Schutzgebiete abgedeckt ist, ist waghalsig. Zudem gibt es von nur weit unter einem Prozent aller Insektenarten überhaupt registrierte – meist wenige – Fundstellen, so dass sowohl das Vorkommen wie auch das Verbreitungsgebiet von über 99 Prozent der Insektenarten im Dunkeln bleiben.“
„Allerdings halte ich die Größenordnung der Einschätzung für realistisch, dass Schutzgebiete für die Erhaltung von mehr als drei Viertel aller Insektenarten nicht ausreichen. Insekten sind elementarer Bestandteil fast aller Ökosysteme und 16 Prozent Schutzgebiete können deshalb für ihr Überleben keine ausreichende Grundlage sein. Es braucht für einen nachhaltigen Schutz der beeindruckend großen Artenvielfalt von Insekten darüber hinaus eine Biodiversitäts-freundliche Landnutzung mit vielen naturnahen Landschaftselementen in kleinräumigen Mosaiklandschaften.“
Auf die Frage, was – mit Blick auf das 30x30-Ziel – berücksichtigt werden muss, damit neu eingerichtete Schutzgebiete Insekten zugutekommen:
„Weltweit gibt es rund 250.000 Schutzgebiete auf 16,2 Prozent der Landfläche und 7,7 Prozent der Küsten- und Meeresgebiete. Das ist zwar eine Vervierfachung seit 1990, aber noch weit von der Forderung des Weltbiodiversitätsrats entfernt, jeweils 30 Prozent zu schützen (das 30x30 Ziel).“
„Insekten sind in praktisch allen Lebensräumen artenreich vertreten und erfüllen zentrale Ökosystemfunktionen wie Bestäubung, biologische Kontrolle von Populationen und Zersetzung toten organischen Materials. Insofern braucht es einen breit über alle Ökosystemtypen gestreuten Schutz, auch wenn tropische Regenwaldgebiete mit ihrer ungeheuer großen Artenvielfalt beim Schutz eine besondere Berücksichtigung finden sollten.“
Auf die Frage, inwiefern Naturschutzgebiete effektiv für den Schutz von Insekten sind und welche anderen Schutzmaßnahmen wichtig(er) sind:
„Schutzgebiete sind für die Artenvielfalt von sehr großer Bedeutung. Allerdings sind Schutzgebiete weltweit stark gefährdet und verlieren viele ihrer Arten. Denn gerade die so wichtigen Reservate der Tropen werden oft durch intensive Nutzung beeinträchtigt. Zudem sind Schutzgebiete meist zu klein und zu isoliert, um langfristig das Überleben seltener Arten zu sichern. Das betrifft nicht nur große und seltene Wirbeltiere, sondern auch Insekten, da schätzungsweise 30 bis 50 Prozent aller Insektenarten als selten einzustufen sind und entsprechend große Areale brauchen, um nicht auszusterben. Wandernde Arten, wie beispielsweise viele Schmetterlinge, sind besonders betroffen.“
„Deswegen ist es wichtig, sich beim Biodiversitäts-Schutz nicht allein auf die vorhandenen Schutzgebiete zu verlassen. Denn dann drohen drei Viertel der Landfläche für den Schutz der Artenvielfalt verloren zu gehen. Es braucht eine Biodiversitäts-freundliche Landnutzung, vor allem im Bereich der Landwirtschaft, die mehr als 40 Prozent der Landfläche prägt. Agrarlandschaften mit einem Minimum von 20 Prozent naturnaher Lebensräume, kleinen Feldern und einer Vielfalt angebauter Kulturen würden dazu beitragen, dass sich Insekten großräumiger ausbreiten können, Schutzgebiete weniger isoliert sind und weniger Insektenarten aussterben.“
Prof. Dr. Axel Hochkirch, Professor für Biodiversität und Naturschutz, Fachbereich Raum- und Umweltwissenschaften, Universität Trier, und Vorsitzender des Komitees zum Schutz wirbelloser Tiere des Weltnaturschutzverbands IUCN, ab 01.02.2023 Kurator für Ökologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg
„Die Autoren haben erstmals untersucht, wie gut die Insektenvielfalt durch das globale Netzwerk von Schutzgebieten abgedeckt ist. Vergleichbare Studien waren bislang lediglich für kleinere Regionen verfügbar. Es ist bereits seit längerem bekannt, dass die Auswahl von Schutzgebieten sich vor allem nach dem Vorkommen von Wirbeltieren richtet – insbesondere von Säugetieren und Vögeln, gelegentlich auch von Pflanzen. Insekten spielten dagegen bislang hierbei eine untergeordnete Rolle, obwohl sie den Großteil der Biodiversität stellen.“
„Die Autoren haben die besten verfügbaren Daten für die Analysen verwendet. Die Repräsentations-Zielwerte (,representation targets‘) sind für Arten mit kleinen Verbreitungsgebieten recht ambitioniert. Allerdings ist ein Grundproblem, dass die Daten zum Vorkommen von Insekten sehr lückenhaft sind. In Europa und Nordamerika gibt es deutlich bessere Informationen zum Vorkommen von Insekten als im globalen Süden, doch selbst in Deutschland sind Daten zu Insektenvorkommen lückenhaft im Vergleich zu Vögeln. Zudem sind die Daten zu Schutzgebieten in der Globalen Datenbank (,World Database on Protected Areas‘) nicht vollständig und regional sehr heterogen. Für Deutschland werden zum Beispiel auch Landschaftsschutzgebiete berücksichtigt, die für den Naturschutz nur von geringem Wert sind. In den Tropen sind dagegen Schutzgebiete häufig nur als Punkt hinterlegt, was die Autoren durch die Anwendung eines Puffers gelöst haben, wodurch aber naturgemäß Ungenauigkeiten entstehen. Unklar ist, warum Biosphärenreservate nicht als Schutzgebiete berücksichtigt wurden.“
„Die Autoren gehen auf einige dieser Probleme in der Diskussion ein, insbesondere auf die lückenhafte Datenlage zu Insektenvorkommen. Insgesamt ist zu erwarten, dass es zu einer Unterschätzung der Abdeckung von Insekten durch Schutzgebiete kam. Auch wenn die Schlussfolgerung, dass Insekten nur mangelhaft durch Schutzgebiete abgedeckt sind, sicher richtig ist, würde ich die 76 Prozent nicht auf die Goldwaage legen.“
Auf die Frage, warum der Studie zufolge besonders in Nordamerika und Asien – nicht aber in West- und Mitteleuropa – Insekten schlecht von Schutzgebieten repräsentiert sind:
„Europa hat zwar ein Netz von Schutzgebieten, wodurch es aufgrund der von den Autoren verwendeten Methode schneller zu einer Überlappung mit Vorkommen von Insekten kommt. Allerdings bieten nicht alle Schutzgebiete einen ausreichenden Schutz für Insekten, wie zum Beispiel Landschaftsschutzgebiete oder Naturparks in Deutschland. Auch ist die Datenlage zum Vorkommen von Insekten in Europa deutlich besser als in anderen Regionen der Erde, so dass eine räumliche Überlappung des Vorkommens wahrscheinlicher ist als in Regionen mit spärlicher Datenlage.“
Auf die Frage, was – mit Blick auf das 30x30-Ziel – berücksichtigt werden muss, damit neu eingerichtete Schutzgebiete Insekten zugutekommen:
„Der von den Autoren genannte ,Key Biodiversity Area Standard‘ der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) ist eine exzellente Grundlage, um für Insekten relevante Gebiete zu identifizieren und unter Schutz zu stellen. Global gesehen sind insbesondere Berg- und Küstenregionen von wichtiger Bedeutung für Insekten. Kleinere Bergregenwälder mögen nicht immer wichtig für Großsäuger oder Vögel sein, können aber zahlreiche endemische Insektenarten, aber auch Pflanzen und Pilze aufweisen. Daher sind Insekten für die Identifizierung solcher ,Key Biodiversity Areas‘ von besonderer Bedeutung.“
Auf die Frage, inwiefern Naturschutzgebiete effektiv für den Schutz von Insekten sind und welche anderen Schutzmaßnahmen wichtig(er) sind:
„Generell sind Insekten innerhalb von Schutzgebieten deutlich besser geschützt als außerhalb von Schutzgebieten. Wir konnten in einer eigenen Studie [3] feststellen, dass Heuschrecken in Naturschutzgebieten deutlich positivere Bestandstrends aufweisen als in nicht geschützten Gebieten. Allerdings ist entscheidend, dass diese Schutzgebiete einem adäquaten Management unterliegen. Ohne Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen geht der Wert von Naturschutzflächen oft verloren. Gerade traditionelle, extensive Landbewirtschaftungsformen sind in Deutschland für die Erhaltung von Insekten besonders wichtig.“
„Auf tropischen Inseln sind eingeschleppte, gebietsfremde Arten meist die wichtigste Gefährdungsursache für Insekten. Hier würde ein Naturschutzgebiet nicht viel helfen, wenn nicht auch diese invasiven Arten reguliert werden. Pestizide konnten zudem in Insekten aus Schutzgebieten nachgewiesen werden, selbst wenn dort der Pestizideinsatz verboten ist. Hier gibt es große Drifteffekte. Daher können diese Probleme nur bei einer generellen Reduktion des Einsatzes von Pestiziden bekämpft werden. Auch andere Gefährdungsfaktoren, wie der Klimawandel, lassen sich nicht in kleinen Schutzgebieten lösen. Es ist aber auch von großer Wichtigkeit, dass Schutzgebiete von der lokalen Bevölkerung akzeptiert werden. Naturschutz lässt sich nur gemeinsam mit den Menschen erreichen. Dies ist gerade im globalen Süden von großer Wichtigkeit, wo Schutzgebiete häufig nur auf dem Papier existieren.“
„Keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Chowdhury S et al. (2023): Three quarters of insect species are insufficiently represented by protected areas. One Earth. DOI: 10.1016/j.oneear.2022.12.003.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Delso A et al. (2021): Protected area networks do not represent unseen biodiversity. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-021-91651.
[2] Rada S et al. (2019): Protected areas do not mitigate biodiversity declines: A case study on butterflies. Diversity and Distributions. DOI: 10.1111/ddi.12854.
[3] Ogan S et al. (2022): Re-surveys reveal biotic homogenization of Orthoptera assemblages as a consequence of environmental change. Diversity and Distributions. DOI: 10.1111/ddi.13548.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Wagner DL (2020): Insect Declines in the Anthropocene. Annual Reviews. DOI: 10.1146/annurev-ento-011019-025151.
[II] Hallmann CA et al. (2016): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. Plos One. DOI: 10.1371/journal.pone.0185809.
[III] Science Media Center (2022): COP15: 30 Prozent Schutzgebiete bis 2030. Press Briefing. Stand: 05.12.2022.
Dr. Nadja Simons
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Ökologische Netzwerke, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt
Prof. Dr. Christoph Scherber
Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Bonn
Prof. Dr. Teja Tscharntke
Leiter der Abteilung Agrarökologie, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
Prof. Dr. Axel Hochkirch
Prof. Dr. Axel Hochkirch, Professor für Biodiversität und Naturschutz, Fachbereich Raum- und Umweltwissenschaften, Universität Trier, und Vorsitzender des Komitees zum Schutz wirbelloser Tiere des Weltnaturschutzverbands IUCN, ab 01.02.2023 Kurator für Ökologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg