Frühchen-Lämmer in künstlicher Fruchtblase herangereift
Extrem früh geborene Lämmer können in einer Art künstlichen Fruchtblase und mit einer „künstlichen Plazenta“ gut einen Monat lang heranreifen. Acht Lämmer wurden nach 105 bis 120 Tagen (von üblicherweise rund 145 Tagen) Tragzeit in der Gebärmutter per Kaiserschnitt geboren; ihre Nabelschnur wurde innerhalb von Minuten über eine Kanüle an eine „künstliche Plazenta“ angeschlossen und die Tiere dann in einen „extrakorporalen Biobag“ eingeschlossen. So erhielten die Tiere über einen externen Kreislauf Nährstoffe, Sauerstoff und Flüssigkeiten. Im Laufe von bis zu vier Wochen in diesem „Biobag“ wuchsen einige Tiere relativ normal heran, öffneten ihre Augen und bewegten sich altersgerecht; auch die Lungen entfalteten sich und das Gehirn reifte normal. Über dieses Experiment berichtet das Team um Alan W. Flake vom Children’s Hospital in Philadelphia in der kommenden Ausgabe des Fachjournals „Nature Communications“ (siehe *Primärquelle). In dem Paper steht auch: „Die Autoren deklarieren keine konkurrierenden finanziellen Interessen“, obwohl Flake und die zwei Erstautoren der aktuellen Studie bereits ein Patent für dieses System haben (siehe Weitere Recherchequellen).
Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Mannheim
„Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet in § 2 Absatz 2 die extrakorporale Weiterentwicklung eines Embryos (Ektogenese). Die Vorschrift verbietet diese Form der Aufzucht in der Retorte, weil es sich um ein unverantwortliches Humanexperiment handelt. Tatobjekt ist allerdings nur ein Embryo, so dass der Schutz der Vorschrift endet, wenn der Embryo das Entwicklungsstadium des Fetus erreicht hat. Das ist mit der abgeschlossenen Ausbildung der Organanlagen etwa zur achten Schwangerschaftswoche der Fall. Damit ist die Fetogenese vom Embryonenschutzgesetz nicht verboten. Es gibt im deutschen Recht auch kein anderes Verbot, einen Fetus außerhalb des Mutterleibes weiterzuentwickeln.“
„Unter welchen Voraussetzungen Heilversuche oder Forschung mit Feten unternommen werden dürfen, ist im deutschen Recht nicht explizit geregelt. Wenn man allgemeine medizinrechtliche Regeln anwendet, hängt die Zulässigkeit unter anderem von der Zustimmung beider sorgeberechtigten Eltern ab. Vor allem aber ist eine verantwortliche Nutzen-Risiko-Abwägung entscheidend. Ich halte einen Versuch, wie er mit den frühgeborenen Lämmern durchgeführt wurde, jedenfalls dann bei menschlichen Frühchen für zulässig, wenn aufgrund ausreichender Tierversuche die berechtigte Erwartung besteht, dass der Nutzen die Risiken für das betroffene Frühchen überwiegt. Wie viele und welche Tierversuche mit welchem Ergebnis als Beurteilungsbasis ausreichen, ist einschließlich des Problems der Übertragbarkeit auf den Menschen eine medizinisch-naturwissenschaftliche Frage.“
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité Universitätsmedizin und Koordinator der Leitlinie "Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit", Berlin
„Von den in Tabelle 1 der Publikation aufgeführten Tieren gibt es nur ein einziges Langzeit-Überlebendes; die Komplikationsraten sind im Übrigen sehr hoch.“
„Bereits heutzutage wird bei (menschlichen; Anm. d. Red.) Neugeborenen mit unterentwickelter Lunge – in Folge einer Lücke im Zwerchfell – versucht, diese mit Hilfe der Herz-Lungen-Maschine für ein bis zwei Wochen zu stabilisieren. Die Hoffnung ist, dass man damit der Lunge Gelegenheit gibt, sich in Ruhe auszudehnen. Der Aufwand ist gewaltig und die Komplikationsraten sind hoch: Wenn es irgendwie geht, versucht man deshalb, den Kindern diesen Weg zu ersparen.“
„Ich halte es für völlig unrealistisch, dass man eine extrakorporale Oxygenierung (Sauerstoffversorgung; Anm. d. Red.) in den nächsten fünf Jahren bei extremen Frühgeborenen einsetzen wird. Die Gefahr von Blutungen, Thrombosen und Infektionen ist viel zu groß.“
ehemaliger Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Ulm
„Was werden wohl Eltern zu solch einem ‚Biobag’ sagen? Schon ohne Biobag streiten sich geburtshilflich tätige Frauenärzte, neonatologisch spezialisierte Kinderärzte, Eltern und die Öffentlichkeit, wie man mit Kindern an der Grenze der Lebensfähigkeit – also in der 22., 23. Schwangerschaftswoche – umgehen soll. Meiner Erfahrung nach gibt es Frauen, die nach mehreren Fehlgeburten darum bitten, alles medizinisch Mögliche für ihr sehr unreifes Kind (22 Schwangerschaftswochen) zu tun, auch wenn man sie über die damit verbundenen erheblichen Risiken für die Zukunft ihres Kindes aufgeklärt hat. Ich erwarte, dass sich in dieser Gruppe von Schwangeren einige für die Behandlung ihres Kindes in einem Biobag entscheiden würden. Ich erwarte aber auch, dass sich viele Ärzte und Stimmen der Öffentlichkeit entsetzt über eine solche Entwicklung zeigen werden.“
Leiter des Deutschen Zentrums für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie (DZFT), Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Gießen
„Ich war nicht überrascht, von dem Experiment zu lesen. Es ist die konsequente Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis in diesem Bereich, aufbauend auf eigenen Vorarbeiten und denen anderer Arbeitsgruppen. Der entscheidende Fortschritt in Richtung künstliche Fruchtblase wird natürlich begünstigt von der immer schneller voranschreitenden Entwicklung biomedizinischer Technologien. Die Zeit ist reif.“
„Die Gruppe von Alan Flake ist derzeit eine der führenden und finanziell am besten ausgestatteten Arbeitsgruppen im Bereich Perinatalmedizin, die es gibt.“
„Prinzipiell lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen. Die Situation extrem früh geborener Kinder wird sich zunächst allerdings kaum verbessern, da die Technologie noch über Jahre weiterentwickelt werden muss. Das wird derzeit aber nur an wenigen Orten geleistet und kann auch nur an wenigen Orten geleistet werden.“
„Ein besonderes Problem der Anfangsphase wird deshalb die Auswahl geeigneter Frühchen sein. Spontan und unerwartet in der 22. bis 23. Schwangerschaftswoche geborene Kinder werden nur selten zur rechten Zeit am rechten Ort sein, um an ein solches System angeschlossen zu werden. Da sie nach natürlicher vaginaler Geburt extrem empfindlich sind, sind sie schon in der Phase bis zum Anschluss an einen ‚BioBag’ einem sehr hohen Risiko ausgesetzt, irreversible Organschäden zu erleiden oder zu versterben.“
„Vielversprechender wäre es meiner Meinung nach, solche ungeborenen Kinder, deren bedrohliche Kreislaufsituation schon bei Ultraschalluntersuchungen erkannt wird, im Anschluss an ein spezielles Entbindungsverfahren – die sogenannte EXIT-Prozedur – in die künstliche Gebärmutter zu überführen. Zusätzliche Gefahren wie etwa Auskühlung, Keimbesiedlung oder die Notwendigkeit, die Kinder zu beatmen, könnten so gemieden werden. Solche Risikoschwangerschaften werden im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen häufig beobachtet, und die Schwangeren könnten dann einem spezialisierten Zentrum zugewiesen werden.“
„Wird diese noch hochexperimentelle Methode klinisch eingeführt, ist wie im vorherigen Tierexperiment genauso mit schrittweisen Erfolgen wie mit zahlreichen Problemen und Rückschlägen zu rechnen. Es wäre unrealistisch, nicht auch das Auftreten schwerer Behinderungen bei überlebenden Kindern und möglicherweise eine hohe Sterblichkeitsrate während dieser Entwicklungsphase in den ersten Jahren zu erwarten.“
„Wichtig ist dann vor allem, dass der Methode genug Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln – statt die notwendige Forschungsförderung womöglich zu stoppen oder die beteiligten Wissenschaftlicher zu entmutigen, wenn Probleme auftreten.“
„Diese erste Phase lässt sich nicht umgehen und ist vergleichbar mit der Entwicklung der Herz-Lungen-Maschine oder der Blutwäsche. Heute gelten beide Methoden als medizinische Routineverfahren. Vor nur sieben Jahrzehnten sah das aber noch ganz anders aus. Ich kann mir gut eine ähnliche Entwicklung für den künstlichen Uterus vorstellen. Darüber hinaus ist im Rahmen der Weiterentwicklung dieser Methode mit zahlreichen zusätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu rechnen, deren Bedeutung bislang noch nicht absehbar ist. Wenn sich das System bewährt, halte ich es für gut vorstellbar, dass es sogar noch bis zu Beginn der 30er-Schwangerschaftswochen angewendet wird, nicht nur bis zur 24. Schwangerschaftswoche.“
„Aus heutiger Sicht der Fetalchirurgie ergeben sich durch das System zunächst einmal keine besonderen Vorteile, da die meisten Schwangerschaften nach vorgeburtlichen Eingriffen ja über Wochen bis Monate weitergeführt werden. Knapp 90 Prozent ‚unserer’ Kinder werden nach Vollendung von 30 Wochen, die Hälfte sogar erst ab der 34. Schwangerschaftswoche geboren. Ab beiden Zeitpunkten lassen sich die Babys mit nur geringem Risiko für das Auftreten schwerer Frühgeburtskomplikationen behandeln.“
„Ob und unter welchen Umständen betroffene Eltern dieser Behandlung zustimmen würden, wenn ihr gerade geborenes Kind sich an der Grenze zur Überlebensfähigkeit befindet, lässt sich nicht pauschal beantworten. Besteht aber realistische Hoffnung auf Erfolg, werden sich auch immer wieder Eltern für diese noch experimentelle Therapie entscheiden, damit ihr Kind lebt.“
„Wichtig zu wissen ist nur: Für viele dieser Kinder gäbe es auch schon heute experimentelle und weniger aufwändige Möglichkeiten, die kritischste Schwangerschaftsphase von 22 bis 24 Wochen in der Gebärmutter ihrer Mutter erfolgreich zu überbrücken. Sie werden bislang nur leider kaum untersucht, geschweige denn genutzt.“
Professor für Systematische Theologie/ Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, Berlin
„Sollte der ‚Biobag’ es eines Tages ermöglichen, extrem früh geborenen Kindern sanfter durch die kritische Phase der Lungenreifung zu helfen, könnte dies ein schwieriges Dilemma in der Neonatalmedizin mildern. Die Entscheidungen zu, nein, über Frühchen an der Grenze der Lebensfähigkeit fordern Eltern, das therapeutische Team und mit Recht und Ethik Beschäftigte in kognitiv und emotional schier kaum zu ertragender Weise.“
„Hinter dem von Gerichten und Leitlinien immer wieder zitierten Votum des Bundesgerichtshofs [3], dass ‚Maßnahmen zur Lebensverlängerung ... nicht schon deswegen unerlässlich (sind), weil sie technisch möglich sind’, verbirgt sich ein kaum lösbares ethisches Dilemma: Je jünger man ein Frühgeborenes am Leben erhalten kann, desto eher riskiert man – allerspätestens in der als Grauzone bezeichneten Phase zwischen der 22. und 24. Schwangerschaftswoche – schwerste irreversible Schädigungen des Kindes. Das alleine wäre kein Grund, nicht um das Leben des Kindes zu kämpfen. Aber wenn eine mehr als kurze Überlebenswahrscheinlichkeit gering ist, das Kind in dieser Zeit leidet und kaum ein würdevolles Leben führen kann: Was dann? Früher konnte man an dieser Stelle sagen: Man solle der Natur ihren Lauf lassen. Aber so können wir nicht mehr reden.“
„Wir können uns bestenfalls eingestehen: Wir argumentieren, als ob wir der Natur ihren Lauf ließen, wissend, dass es nicht mehr das Schicksal der Natur, sondern dass es – mit dem klugen Odo Marquard gesprochen – die menschliche ‚Machsal’ ist, die solch fatale Geschicke produziert. Wenngleich der ‚Biobag’ für die aktuelle Grauzone das Dilemma zu entschärfen verspricht, kann es auch sein, dass die neue Technologie die Grauzone nur nach vorne verschieben würde.“
„Angesichts der enormen, umfassenden Bedeutung der maternalen Umwelt des Uterus für die physische und psychische Entwicklung sollte diese für die neonatologische Intensivmedizin wichtige Forschungsarbeit nicht dazu missbraucht werden, die unselige und utopische Debatte zu künstlichen Gebärmüttern wieder aufkommen zu lassen. Dazu sind die dramatischen Herausforderungen, aber auch Chancen, die nach weiteren Versuchen im Tierversuch, der ‚Biobag’ bieten könnte, zu ernst.“
stellvertretende Leiterin der Abteilung Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie, Medizinische Universität Wien, Österreich
„Nein, dieses Experiment überrascht mich nicht wirklich, da es Versuche einer solchen Therapie bereits seit mehr als 50 Jahren gibt. Aber erst in den vergangenen Jahren zeigen sich erstmals ansatzweise realistisch anmutende Fortschritte in dieser Richtung, wie sie auch die vorliegende Arbeit der Kinderklinik Philadelphia darstellt. Und ja, mit der vorliegenden Arbeit wird ein entscheidender Schritt in diese Richtung denkbar. Jedoch bleiben weiterhin die bereits bekannten Probleme der ‚künstlichen Plazenta/Gebärmutter’ bestehen.“
„Problem 1: Die fetale Zirkulation muss erhalten bleiben, die Lunge darf sich nicht mit Luft füllen, denn sobald dies geschehen ist, ist eine Rückkehr zum fetalen Status (inklusive Druckverhältnissen und Shunts zuständig für die Lungen- und Körperperfusion) nicht mehr möglich. Auch ein extrem unreifes Frühgeborenes beginnt in der Regel – außer es steht unter Medikamenten oder leidet unter Sauerstoffmangel – nach der Geburt zu atmen bzw. zeigen sich in jedem Fall Schnappatmungen, die beginnen, die Lunge mit Luft zu füllen und eine Kreislaufumstellung einleiten. Ohne Beatmungsunterstützung und ohne Anreicherung des Blutes mit Sauerstoff über die Plazenta kommt es innerhalb von wenigen Minuten zur Sauerstoffunterversorgung. Somit bleiben für die Initiation eines solchen ‚künstlichen Plazentasystems’ nur wenige Minuten. Dies stellt in der Realität eine große Herausforderung dar, da eine extreme Frühgeburt meist kein sehr planbares Ereignis darstellt.“
„Problem 2: die Anpassung eines Systems an den fetalen Kreislauf. Der Widerstand im künstlichen Kreislauf ist ein anderer, und dies kann zur Belastung des Herz-Kreislauf-Systems des Fetus führen. Aber gerade dieses Problem scheint mit dieser neuen Methode deutlich besser als bisher gelöst werden zu können.“
„Problem 3: Die endokrine (hormonproduzierende) und somit auf das Wachstum und die Entwicklung einflussnehmende Aktivität der menschlichen Plazenta muss durch ein artifizielles System ersetzt werden. Wie auch die Autoren der Studie zeigen, ist eine engmaschige Überwachung der Glukose-, Protein- und Fettzufuhr notwendig, außerdem eine Substitution von Insulin und Erythropoetin (ein blutbildendes Hormon). Möglicherweise gibt es aber auch viel mehr Einflüsse der menschlichen Plazenta auf den Fetus als bisher bekannt. Zumindest ein Einfluss auf Stresshormone (Steroidhormone) – wichtig für Immunabwehr und Kreislauffunktion – scheint gesichert [1]. All dies scheint noch nicht ausreichend bekannt und somit lösbar. Auch der Nachweis einer ausreichenden Unterstützung der physiologischen Wachstums- und Reifungsprozesse steht noch aus, auch wenn im Rahmen der hier vorgestellten Arbeit erstmals Daten auch in diese Richtung vorliegen.“
„Problem 4: Eine höhere Sauerstoffkonzentration als fetal führt zu oxidativem Stress und Organschädigung. Auch hier sind genaue physiologische Werte eigentlich noch wenig bekannt und somit schwierig steuerbar.“
„Problem 5: Infektionsgefahr beim Frühgeborenen in einem nicht sterilen Milieu. Gerade dieses Problem scheint mit dem hier vorgestellten ‚Biobag‘ erstmals realistisch lösbar – zumindest für einige Tage.“
„Problem 6: Für einen extrakorporalen Kreislauf wird eine Blutverdünnung benötigt, dies erhöht das Risiko für Blutungen – und intraventrikuläre Blutungen sind eines der größten Probleme bei sehr unreifen menschlichen Frühgeborenen. Auch die Aktivierung des Gerinnungsystems mit Thrombosen kann zu massiven Problemen des Kreislaufsystems und vor allem zu Gehirndurchblutung führen; die Schlaganfallgefahr ist deutlich erhöht.“
„Somit findet sich mit der vorgestellten Arbeit aus Philadelphia ein Fortschritt in Richtung künstlicher Plazenta. Dennoch erscheinen vor dem Einsatz auch am Menschen noch weitere Studien notwendig.“
„Tierversuche sind immer nur begrenzt auf den menschlichen Organismus übertragbar, dennoch ergeben sich daraus wichtige Hinweise für eine mögliche Einsetzbarkeit beim Menschen. Somit lässt sich derzeit noch nicht sicher abschätzen, ob die hier vorgestellte Methode wirklich die Überlebensfähigkeit extremer Frühgeborener ohne zusätzliche Morbidität erhöhen kann, auch wenn die Ergebnisse erstmals ein Überleben über ein bis zwei Wochen realistisch erscheinen lassen. Hiermit würde sich für ein Kind in der 23. Schwangerschaftswoche schon ein deutlicher Vorteil ergeben, da sich die Überlebensraten dieser Kinder von derzeit 50 bis 60 Prozent (23 Schwangerschaftswochen) auf über 90 Prozent (25 Schwangerschaftswochen) anheben lassen würden [2] und auch die Komplikationsraten (Komorbidität) deutlich abnehmen würden.“
„Es fehlen vor allem Langezeitentwicklungsdaten sowohl des somatischen Wachstums (Organsysteme), als auch allen voran der neurologischen Langzeitentwicklung. Bei menschlichen Studien gelten immer erst die ‚Ergebnisse‘ nach zwei Jahren – also: Wie viele Patienten zeigen eine altersentsprechende, unauffällige Entwicklung? –, da erst im weiteren Verlauf die volle, vor allem neurologische Funktionsfähigkeit beurteilt werden kann. Zum Beispiel Gehen, Sprechen, Schulerfolg usw. sind unmittelbar nach der Geburt kaum abzuschätzen. Wenngleich die erhobenen Befunde der – zumindest morphologisch – nahezu unveränderten Entwicklung des Gehirns im Studienzeitraum in dieser Studie Hoffnung macht, korreliert die Morphologie des Gehirns dennoch nicht immer zwingend mit der Funktion, vor allem im weiteren Verlauf der Entwicklung.“
„Zusammengefasst sind die Risiken des ‚Biobags‘: Infektionen, oxidativer Stress und daraus resultierende Organschädigung, Entwicklungsverzögerung durch nicht physiologische Ernährung und hormonelle Steuerung (die menschliche Plazenta ist ein hormonell aktives Organ, das nicht so einfach zu ersetzen ist), unklare Auswirkungen auf die Langzeitentwicklung.“
„Mit den – in den vergangenen Jahren zunehmend verwendeten – nicht-invasiven, lungenschonenden Beatmungstechniken lassen sich zuletzt deutliche Verbesserung der Überlebensraten extrem unreifer Frühgeborener und verminderte Komorbiditäten erzielen [2]. Deswegen erscheint gerade jetzt ein ‚Umsteigen‘ auf eine invasive, sehr innovative und unbekannte Methode weniger sinnvoll bzw. notwendig. Insgesamt ist aber natürlich das Einsatzpotential im Bereich der extremen Frühgeburten zwischen 22 und 24 Schwangerschaftswochen zu sehen. Hier klingt solch ein ‚Bridging‘ von der intra- zur extrauterinen Umgebung verlockend und könnte die Chancen dieser Kinder entscheidend verbessern.“
„Ich fürchte – und zugleich erscheint dies aber auch als Chance für viele verzweifelte Familien –, dass die Weiterentwicklung dieser Technik ein weiteres Absinken der ‚Lebensfähigkeitsgrenze‘ bewirkt und dies längerfristig zu einer Erhöhung der Langzeitprobleme dieser Kinder führt. Wenn wir uns jedoch überlegen, dass noch vor 15 Jahren ein Frühgeborenes unter 26 Wochen wenig Chancen hatte und wir heutzutage Kinder ab der 22. bis 23. Schwangerschaftswoche versorgen können – was damals als absolut unvorstellbar galt –, dann besteht diese Angst wohl immer und wird sich möglicherweise langfristig als unrichtig erweisen. Mit neuen Methoden und Techniken erscheint wohl auch ein solches Szenario möglich. Dennoch haben wir als NeonatologInnen die Verpflichtung und Verantwortung nicht nur für Lebensrettung oder in unserem Fall Lebensermöglichung, sondern auch für die weitere Lebensqualität dieser Kinder und ihrer Familien. Somit müssen solche Schritte wohlüberlegt, in kontrollierten Studien und an großen universitären Zentren getestet werden, bevor ein generelles Umdenken sinnvoll ist.“
„Ich denke, dass Eltern, die unmittelbar damit konfrontiert werden, dass ihr Kind – sollte es zu diesem Zeitpunkt geboren werden – ein hohes Risiko hat, zu sterben oder eine lebenslange Behinderung davonzutragen, nach einer ausführlichen Aufklärung, durchaus bereit wären, das Risiko einer neuen Behandlung wie der eines ‚Biobags‘ einzugehen.“
Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig
„Ich halte dieses System zunächst einmal für eine bahnbrechende technologische Meisterleistung: ein extrakorporaler Kreislauf mit so wenig Strömungswiderstand, dass keine zusätzliche Pumpe benötigt wird, mit Heparin-beschichteten Oberflächen, die die Notwendigkeit einer Blutverdünnung reduzieren, sowie eine sterile Kunststoffhülle, die den Fetus vor Umwelteinflüssen schützt.“
„Der Lammfetus ist an vielen Einrichtungen ein etabliertes Tiermodell der Frühgeburtlichkeit – viel mehr als das Hausschwein. Ein anderes Modell ist der Kaninchenfetus. Beide entsprechen in ihrer Größe nicht wirklich dem menschlichen Frühgeborenen: Der Lammfetus ist größer, der Kaninchenfetus viel kleiner.“
„Insofern würde sich das Hausschwein anbieten. Mir bekannte Experimente wurden jedoch ausschließlich mit reifen neugeborenen Ferkeln durchgeführt, nicht mit Frühgeborenen. Das gilt auch für meine eigenen Experimente. Wir haben die Feten zwar schon während der Trächtigkeit im Uterus therapiert, aber zur Welt gebracht haben wir sie erst, als sie reif waren.“
„Warum ist das Hausschwein kein etabliertes Modell für Frühgeburtlichkeit? Rein spekulativ könnte das damit zu tun haben, dass eine trächtige Sau in der Regel eine größere Zahl von Feten gleichzeitig in ihrem Uterus hat, was das experimentelle Vorgehen stark verkompliziert, wenn man mit frühgeborenen Ferkeln experimentieren wollte. Vielleicht ist es aber einfach so, dass die Kollegen bisher mit ihrem Lammfetus-Modell so zufrieden waren, dass sie sich bisher nicht näher mit der Möglichkeit des Hausschweins beschäftigt haben. Ein Tiermodell so weit zu etablieren, dass die wissenschaftliche Community die Ergebnisse glaubt, ist ein großer Aufwand, und es ist daher immer das Einfachste, für neue Fragestellungen das althergebrachte Modell wieder zu verwenden. Das ermöglicht es auch, Ergebnisse mit früheren Ergebnissen zu vergleichen.“
„Die Ergebnisse mit den Lammfeten sind durchaus beeindruckend, bei der Übertragung auf menschliche Verhältnisse gibt es jedoch noch erhebliche Probleme zu lösen, wie die Autoren selbst einräumen. Menschliche Frühgeborene haben relativ häufig Hirnblutungen – und diese Gefahr würde im ‚Biobag’ ansteigen, da erhebliche Belastungen des Kreislaufs bei der Umstellung zu erwarten sind und außerdem eine Blutverdünnung, wenn auch in reduziertem Umfang, erforderlich ist, um eine Aktivierung der Blutgerinnung im extrakorporalen Kreislauf zu vermeiden. Diese Blutverdünnung und die Schwankungen der Kreislauffunktion werden das Risiko für Hirnblutungen bei angeschlossenen menschlichen Feten erheblich ansteigen lassen. Damit steigt auch das Risiko, dass mehr Kinder schwer behindert überleben.“
„Die Autoren schlagen als Zielgruppe Frühgeborene zwischen 23 und 25 Schwangerschaftswochen vor. Diese Frühgeborenen haben jedoch auch heute schon, ohne ‚Biobag’, in Deutschland eine Überlebensrate von 70 bis 90 Prozent. Aufgrund der zusätzlichen Gefahren in der ‚Biobag’ wäre nicht auszuschließen, dass der Zusatznutzen für diese Kinder insgesamt nicht groß sein wird.“
„Insofern sehe ich als eigentliche Zielgruppe Frühgeborene vor der 23. Schwangerschaftswoche. Hier gibt es jedoch, wie die Autoren einräumen, mechanische Probleme, da diese Kinder noch kleiner sind und sich die Maschine aufgrund der physikalischen Gesetze nicht beliebig weiter miniaturisieren lässt. Außerdem würde hier das Hirnblutungsrisiko noch höher sein. Hinzu käme, dass auch Frühgeborene ohne Hirnblutung Entwicklungsdefizite aufweisen, und zwar umso mehr, je früher sie geboren wurden; dies dürfte natürlich insbesondere für Kinder vor der 23. Schwangerschaftswoche gelten.“
„Zusammengefasst stelle ich fest, dass wir die ‚Biobag’ für Kinder von 23 bis 25 Schwangerschaftswochen nicht wirklich benötigen und diese zusätzliche Gefahren mit sich bringt, die möglicherweise zu mehr Hirnschäden und Todesfällen führen könnten, als dies mit der derzeitigen konventionellen Therapie der Fall ist. Die potenzielle Heruntersetzung der Behandlungsgrenze auf unter 23 Schwangerschaftswochen mithilfe der ‚Biobag’ hingegen dürfte diese zusätzlichen Risiken weiter erhöhen. Am Ende muss es unser Ziel sein, möglichst viele gesunde Kinder gesund großzuziehen – und das erreichen wir am besten mit möglichst wenig risikobehafteter Technik.“
„Es besteht bei mir kein Interessenkonflikt.“
„Es besteht kein Interessenkonflikt.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Partridge EA et al. (2017): An extra-uterine system to physiologically support the extreme premature lamb. Nature Communications; 8:15112. DOI: 10.1038/ncomms15112.
Weiterführende Recherchequellen
Patent “Extracorporeal life support system and methods of use thereof”, WO 2014/145494, von Emily Partridge, Alan Flake und Marcus Davey.
NICHD Neonatal Research Network (NRN): Extremely Preterm Birth Outcome Data. Kalkulator für Überlebenswahrscheinlichkeit und Schweregrad von Entwicklungsstörungen bei Frühchen, basierend auf Stoll BJ et al. (2015) und Tyson JE et al. (2008); Anm. d. Red.
Stoll BJ et al. (2015): Trends in Care Practices, Morbidity, and Mortality of Extremely Preterm Neonates, 1993-2012. JAMA;314(10):1039-51. DOI: 10.1001/jama.2015.10244.
Tyson JE et al. (2008): Intensive care for extreme prematurity – moving beyond gestational age. N Engl J Med;358(16):1672-81. DOI: 10.1056/NEJMoa073059.
Metelo-Coimbra C et al. (2016): Artificial placenta: Recent advances and potential clinical applications. Pediatr Pulmonol;51(6):643-9. DOI: 10.1002/ppul.23401.
Mychaliska G (2016): The Artificial Placenta: Is Clinical Translation Next? Pediatr Pulmonol;51(6):557-559. DOI:10.1002/ppul.23412.
Bird SD (2017): Artificial placenta: Analysis of recent progress. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol;208:61-70. DOI: 10.1016/j.ejogrb.2016.11.005.
Leitlinie „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit“. Stand: 30.04.2014. Gültig bis: 28.02.2018. Federführende Fachgesellschaft: Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin e. V. (GNPI).
Sweet DG et al. (2017): European Consensus Guidelines on the Management of Respiratory Distress Syndrome – 2016 Update. Neonatology;111(2):107-125. DOI: 10.1159/000448985.
Science Media Center Germany (2017): Bei Frühgeborenen chronische Lungenerkrankung mit Hydrocortison vorbeugen. Research in Context. Stand: 04.04.2017.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Pasqualini JR et al. (2016): The formation and transformation of hormones in maternal, placental and fetal compartments: biological implications. Horm Mol Biol Clin Investig. 27(1):11-28. DOI: 10.1515/hmbci-2016-0036.
[2] Klebermass-Schrehof K et al. (2013): Less invasive surfactant administration in extremely preterm infants: impact on mortality and morbidity. Neonatology;103(4):252-8. DOI: 10.1159/000346521.
[3] Bundesgerichtshof in Strafsachen (1984): Behandlungsverbot (Wittig). BGHSt 32: 367.
Prof. Dr. Jochen Taupitz
Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Mannheim
Prof. Dr. Christoph Bührer
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité Universitätsmedizin und Koordinator der Leitlinie "Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit", Berlin
Prof. Dr. Frank Pohlandt
ehemaliger Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Ulm
Prof. Dr. Thomas Kohl
Leiter des Deutschen Zentrums für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie (DZFT), Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Gießen
Prof. Dr. Peter Dabrock
Professor für Systematische Theologie/ Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, Berlin
Assoc.-Prof. PD Dr. Katrin Klebermaß-Schrehof
stellvertretende Leiterin der Abteilung Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie, Medizinische Universität Wien, Österreich
Prof. Dr. Ulrich Thome
Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig