Evidenz zur Verbreitung von SARS-CoV-2 aus Clusterstudien
Ein detaillierter Einblick in die ersten COVID-19-Fälle aus München liefert weitere Evidenz für präsymptomatische Übertragung von SARS-CoV-2 und Ansteckungsrisiken bei verschiedenen Kontakten. Ende Januar tauchten die ersten Fälle von COVID-19 bei einer Firma in München auf. Eine chinesische Geschäftsreisende hatte sich zuvor mit SARS-CoV-2 infiziert und steckte bei Meetings einige Mitarbeiter eines Autozulieferers an. Die Folge waren insgesamt 16 bestätigte Fälle in vier Generationen. Die rasche Isolation der Infizierten, die Nachverfolgung und Quarantänisierung der Kontakte unterbrach die Infektionskette. Wissenschaftler veröffentlichen eine detaillierte Analyse der 16 COVID-19-Fälle und ihrer 241 Kontakte. Sie schlüsseln minutiös auf, welche möglichen Übertragungswege und Ansteckungsraten in verschiedenen Klassen von Risikokontakten zu finden sind. Ihre Ergebnisse erschienen in der Fachzeitschrift „The Lancet Infectious Diseases“ (siehe Primärquelle).
Professorin für neu auftretende Infektionskrankheiten, London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM), Vereinigtes Königreich, und Professorin am Heidelberg Institut für Global Health, Universitätsklinikum Heidelberg, Vereinigtes Königreich
„Ähnlich wie SARS wird nun auch SARS-CoV-2 mit Ereignissen mit starker Ausbreitung – sogenannten superspreader events – und Clustern in Verbindung gebracht. Die wichtigste Intervention des öffentlichen Gesundheitswesens zur Eindämmung der COVID-19-Ausbrüche besteht darin, jeder einzelnen Infektionskette nachzugehen. Dies ist offensichtlich einfacher in Umgebungen mit weniger Fällen und wird während des ‚Tsunami‘ an Fällen in Epizentren, wenn die Gesundheitssysteme überfordert sind, logistisch fast unmöglich. Unglücklicherweise gibt es für letztere keine andere Möglichkeit als die Abriegelung, um die Übertragung in der Gemeinschaft zu verringern. Ist die Kurve einmal ‚abgeknickt‘, dann sollte man zu den wichtigsten Interventionen zurückkehren: testen, isolieren, Kontakte verfolgen und Quarantäne von Kontakten. Modellierungen haben gezeigt, dass, selbst wenn man nur etwa 80 Prozent der Kontakte identifiziert, man die Reproduktionsrate unter 1 bringen kann.“
„Das traditionelle Contact Tracing stützt sich auf das Gedächtnis der infizierten Person. Bei einer Krankheit mit einer relativ langen Inkubationszeit ist es offensichtlich, dass wir aus der Erinnerung nicht alle Kontakte der vergangenen fünf Tage vor dem Auftreten der Symptome zurückverfolgen können. Daher muss die Ermittlung von Kontaktpersonen durch digitale Technologien verbessert werden. Solche Apps werden derzeit in den meisten europäischen Ländern entwickelt und in einigen Ländern, darunter auch Deutschland, in Praxistests erprobt.“
„Das aktuelle Paper aus Deutschland in The Lancet Infectious Diseases liefert weitere Evidenz dafür, dass präsymptomatische Übertragungen häufig vorkommen. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass die Viruslast von SARS-CoV-2-Infizierten zum Zeitpunkt des Symptombeginns am höchsten war. Das wiederum deutet darauf hin, dass die Virusabgabe ihren Höhepunkt erreichen kann, bevor die Symptome auftreten, was zu einer erheblichen präsymptomatischen Übertragung führt [1]. Eine Punkt-Prävalenzstudie von SARS-CoV-2 bei Pflegeheimbewohnern zeigte, dass von 27 Bewohnern, die zum Zeitpunkt des Tests asymptomatisch waren, 24 im Median vier Tage später Symptome entwickelten (interquartiler Bereich, drei bis fünf Tage) [2], was die hohe Wahrscheinlichkeit für eine mehrtägige präsymptomatische Virusausschüttung unterstützt.“
„Die aktuelle Veröffentlichung unterstreicht zudem die Relevanz der Verfolgung von Übertragungsketten durch Contact Tracing und Quarantäne von Kontakten. Alle Länder, die eine rigorose Kontaktverfolgung eingeführt haben, waren am effektivsten darin, die Zahl Neuinfizierten klein zu halten. Südkorea, Taiwan, Hongkong, Thailand, Vietnam und Singapur sind eindeutige Beispiele für Länder, die nicht an Ressourcen und Technologie sparen, um eine rigorose Ermittlung von Kontaktpersonen durchzuführen. Alle waren erfolgreich.“
Auf die Frage, welche Rolle Kontakte mit mittlerem bis geringem Risiko der Übertragung außerhalb von Haushalten spielen:
„Solche sporadischen Kontakte scheinen nicht für die Mehrzahl der Infektionen verantwortlich zu sein. Die meisten Übertragungen finden innerhalb von Haushalten und bei anderen unmittelbaren Kontakten statt. Das ist die Botschaft, die auch mit der Analyse des Ausbruchs von Wuhan vermittelt wurde. Deshalb ist es so wichtig, eine Kontaktverfolgung durchzuführen. Wenn jedes Land in der Lage wäre, Fälle frühzeitig zu erkennen und dann ein rigoroses Contact Tracing durchzuführen, hätten wir nicht die Epizentren, die mit einer hohen Zahl an Todesopfern verbunden sind – wie wir sie in den USA, Spanien, Frankreich und Italien gesehen haben.“
„Ein geringerer Anteil der Übertragungen findet bei Massenveranstaltungen oder in einem Umfeld mit hoher sozialer Durchmischung und Kontakten statt. Das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit soll die Übertragung von präsymptomatischen Infektionen verringern, wenn die Menschen (noch) nicht wissen, dass sie infiziert sind. Personen mit Symptomen sollten nicht in die Öffentlichkeit gehen, und es sollten alle Maßnahmen ergriffen werden, damit sich symptomatische Personen isolieren. Eine Übertragung in der Öffentlichkeit kommt vor, wie die hohe Zahl von Infektionen in den USA bei Verkäufern in Lebensmittelgeschäften und bei Busfahrern zeigt.“
„Attack rates in Umgebungen, in denen keine Maßnahmen ergriffen werden, liegen zwischen 20 und 100 Prozent, wobei es sich bei Letzteren um Familiencluster handelt. Die Ansteckungen auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess ergaben eine extrem hohe attack rate, obwohl die Passagiere in ihren Kabinen unter Quarantäne gestellt wurden.“
„Ein enger und längerer Kontakt erhöht definitiv das Risiko einer Infektion, aber ein kürzerer Kontakt – zum Beispiel bei Busfahrern oder in Lebensmittelgeschäften – schließt eine Übertragung nicht aus.“
Leiterin der Abteilung Infektionsepidemiologie, Österreichische Agentur für Gesundheitund Ernährungssicherheit (AGES), Österreich
„Das Ziel von uns Infektionsepidemiologen ist es, – innerhalb einer solchen Epidemie mit anfänglich exponentiellem Wachstum und einer Tröpfcheninfektion – Häufungen von Fällen, auch Cluster genannt, dingfest zu machen und die Übertragungsketten zu identifizieren. So ist es uns möglich, die relevanten Übertragungswege mit sofortigem Erkenntnisgewinn zu erkennen und die adäquaten Kontroll- und Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Ein Beispiel zu einer solchen Aufarbeitung eines Clusters in Österreich stellen wir auf unserer Website bereit [3].“
„Ein Cluster ist nach Definition der WHO eine Häufung an Fällen nach Zeit oder Ort beziehungsweise eine Häufung von Fällen, die sich durch eine gemeinsame Exposition auszeichnen, beispielsweise eine gemeinsame Reise, der Besuch einer Party oder eines Kochkurses.“
„Das Auffinden und Beschreiben eines neuen Clusters läuft so ab: Durch rasche PCR-Tests können wir einen neuen Infektionsfall feststellen, von dem aus wir dann mit klassischem Case and Contact Tracing die weitere Analyse starten. Wir suchen also bis zu 14 Tage – der maximalen Inkubationszeit – rückwärts nach einem Kontakt, bei dem sich der Fall angesteckt haben kann, dem Primärfall. Vom Erkrankungsdatum des Indexfalls aus suchen wir dann auch wiederum zwei Tage rückwärts und bis zur Isolation des Falls nach weiteren Kontakten, die der identifizierte Fall angesteckt haben könnte. Das sind Menschen, die kumulativ mehr als 15 Minuten engen Kontakt hatten, die eine Tröpfchenübertragung möglich gemacht hätte.“
„Wir nehmen zwei Tage vor Beginn der Symptome als Start der Suche nach Kontakten, da es nachgewiesen präsymptomatische Übertragungen gibt. Das sehen wir anhand der Ableitung des Parameters des seriellen Intervalls, der ein Surrogat für die Generationszeit ist, also der Zeit zwischen einer Fallgeneration und der nächsten (näher erläutert in der Infografik mit Fact Sheet des SMC [IV]; Anm. d. Red.). Wir ermitteln das serielle Intervall, da wir den genauen Zeitpunkt der Ansteckung eines Kontaktes ja nicht messen können. Ist das serielle Intervall – wie bei COVID-19 – kürzer als die mittlere Inkubationszeit, stecken Infizierte weitere Menschen schon vor dem Ausbruch der Symptome an. Diesen kurzen Zeitraum hat man also Zeit, den angesteckten Menschen zu finden und zu quarantänisieren, damit weitere Übertragungen verhindert werden können.“
„Hier in Österreich liegt das mittlere serielle Intervall derzeit bei 4,46 Tagen mit einer möglichen Abweichung von circa zweieinhalb Tagen in beide Richtungen [4]. Das entspricht ungefähr dem, was auch die internationale Evidenz hergibt. Das bedeutet auch, dass das kürzeste Intervall bei zwei Tagen liegt, was das Virus so heimtückisch macht im Vergleich zum Beispiel zu den Masern, bei denen das Intervall bei circa sieben Tagen liegt. Ich habe einfach wenig Zeit, die Kontakte in den Folgegenerationen ausfindig zu machen, bevor sie selbst zum Fall und damit zum Spreader werden.“
„Die attack rate sagt uns, wie viele der exponierten Menschen auch wirklich infiziert wurden. Diese attack rate kann man sich für verschiedene Settings anschauen, in denen sie sich auch für eine Tröpfcheninfektion erwartbar unterscheidet. Je länger und je enger der Kontakt, desto höher die attack rate. In einem Supermarkt hat man zum Beispiel viel weniger Kontakt als in einem gemeinsamen Haushalt. Für eine Tröpfcheninfektion muss man beispielsweise schon etwas Sprechen und das tut man im Supermarkt eher wenig, im Après-Ski-Lokal, wie in Ischgl gesehen, ist das allerdings der Fall und unter Alkohol wahrscheinlich noch mehr und wir sehen eine hohe attack rate. Die attack rate ist also ein Surrogat für das Transmissionsrisiko.“
„Wir befragen im Contact Tracing die Fälle und Kontakte mithilfe eines standardisierten Fragebogens, wann sie beispielsweise Symptome entwickelt haben und welche das waren. Dabei tauchen schon zwei Limitationen auf. Einerseits ist das die Erinnerung der Personen an das Erkrankungsdatum. Andererseits haben sich aber auch im Zeitverlauf die abzufragenden Symptome verändert. Zu Beginn waren das vor allem trockener Husten und Fieber, mit der Zeit sind Geruchs- und Geschmackslosigkeit hinzugekommen, die vielleicht sogar früher auftreten. Somit haben wir zu Beginn die Dauer der Erkrankung unterschätzt und andere Kontaktpersonen verfehlt. Weiterhin ist es für die Fälle schwer, sich zu erinnern, welchen Aktivitäten sie nachgegangen sind, also wo beispielsweise weitere Kontakte stattgefunden haben können. Das war aber vor dem Lockdown noch ein viel größeres Problem.“
Auf die Frage, inwiefern es wichtig ist, neue Fälle bestehenden Cluster zuordnen zu können, also einen epidemiologischen Link feststellen zu können und wie der Stand in Österreich ist:
„In Österreich konnten mit Auswertungsstand 08.05.2020 konnten 4.041 der insgesamt circa 15.751 bestätigten Fälle 194 Fallhäufungen (Clustern; Anm. d. Red.) zugeordnet werden [5]. Wir sind in Österreich also bei circa einem Viertel der Fälle, die zu bekannten Clustern zuzuordnen sind. Hier in Österreich möchte die Regierung am liebsten, dass ab sofort jeder kleinste Ausschlag in den Fallzahlen erfasst wird und einer Transmissionskette zugeordnet wird. Deutschland wird dabei ein bisschen als Vorbild angebracht mit seinen speziellen Scouts für das Contact Tracings. Ein solches Konzept ist in der hiesigen Struktur kaum möglich. Wir müssen die lokalen Gesundheitsstrukturen da stärker unterstützen. Man muss sagen, dass wir niemals in der Lage sein werden, jeden einzelnen Fall retrospektiv einer Häufung zuzuordnen. Derzeit ist es so, dass wir mit dem Contact Tracing in Gebieten beginnen, in denen es innerhalb von sieben Tagen mehr als fünf neue Fälle gibt. Aber wenn wir bisher ein Viertel der Fälle einem Cluster zuordnen können, ist das schon sehr gut. Je geringer das Niveau der aktuellen Fallzahlen wird, desto eher können wir Fälle auch kleinen Clustern zuordnen.“
„Mit Beginn der Lockerung nach Ostern in Österreich können wir sagen, dass die Verbreitung noch nicht in die Freizeitaktivitäten zurückgekehrt ist, sondern sich nach wie vor vorrangig auf die Pflegeheime und Klöster beschränkt. Vor allem in der Schule gibt es keine relevanten Übertragungen.“
„In einer groben Analyse haben wir uns angeschaut, welche der Cluster hier in Österreich möglicherweise auf ein Kind als Primärfall zurückzuführen sind und können das bei einem Großteil ausschließen. Wenn, dann sind Kinder nur innerhalb einer Transmissionskette zu finden und auch dort zum Teil asymptomatisch. Inwiefern von diesen dann wiederum weitere Fälle ausgehen, bleibt noch unklar.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Böhmer MM et al. (2020): Outbreak of COVID-19 in Germany resulting from a single travel-associated primary case. The Lancet Infectious Diseases. DOI: 10.1016/S1473-3099(20)30314-5.
Weiterführende Recherchequellen
[I] Park SY et al. (2020): Coronavirus Disease Outbreak in Call Center, South Korea. Emerging Infectious Diseases; 26 (8). DOI: 10.3201/eid2608.201274.
[II] Danis K et al. (2020): Cluster of coronavirus disease 2019 (Covid-19) in the French Alps, 2020. Clinical Infectious Diseases; ciaa424. DOI: 10.1093/cid/ciaa424.
[III] Wei W et al. (2020): Presymptomatic transmission of SARS-CoV-2 – Singapore, January 23 - March 16, 2020. Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR); Weekly I, 69 (14): 411–415.
[IV] Science Media Center (2020): Verlauf von COVID-19 und kritische Abschnitte der Infektion. Fact Sheet. Stand: 31.03.2020.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] He X et al. (2020): Temporal dynamics in viral shedding and transmissibility of COVID-19. Nature Medicine.
[2] Arons MM et al. (2020): Presymptomatic SARS-CoV-2 Infections and Transmission in a Skilled Nursing Facility. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2008457.
[3] Richter L et al. (2020): Epidemiologische Parameter des COVID19 Ausbruchs - Update 30.04.2020, Österreich, 2020.
[4] Richter L et al. (2020): Schätzung des seriellen Intervalls von COVID19, Österreich.
[5] AGES: Epidemiologische Abklärung am Beispiel COVID-19. Stand: 14.05.2020.
Prof. Dr. Annelies Wilder-Smith
Professorin für neu auftretende Infektionskrankheiten, London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM), Vereinigtes Königreich, und Professorin am Heidelberg Institut für Global Health, Universitätsklinikum Heidelberg, Vereinigtes Königreich
PD Dr. Daniela Schmid
Leiterin der Abteilung Infektionsepidemiologie, Österreichische Agentur für Gesundheitund Ernährungssicherheit (AGES), Österreich