Evidenz zur Übertragung und Infektiosität von SARS-CoV-2 in Aerosolen
In einem im Fachjournal „Clinical Infectious Diseases“ veröffentlichten Kommentar (siehe Primärquelle) appellieren über 200 Wissenschaftler an die medizinische Fachgemeinschaft und Behörden, das Risiko der Luftübertragung von SARS-CoV-2 ernster zu nehmen als bisher. Sie werfen der WHO und anderen öffentlichen Gesundheitsorganisationen vor, die Rolle der Aerosolübertragung nicht ausreichend anzuerkennen und in ihren Empfehlungen für Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen. Dabei beziehen sich die Autoren vor allem auf Situationen in geschlossenen Räumen. Sie fordern, auf Basis des Vorsorgeprinzips auch Empfehlungen zur guten Raumdurchlüftung und Verhinderung überfüllter Räume in aktuelle Leitlinien aufzunehmen. Sie argumentieren, dass zu allen Übertragungswegen gleich wenig Evidenz vorläge, auch zu den Routen der Tröpfchen- und Schmierinfektion, auf denen die aktuellen Leitlinien basieren.
Der wissenschaftsinterne Streit um die Aerosolübertragung ist nicht neu. Am Disput sind unterschiedliche Fachdisziplinen beteiligt, die ihre Einschätzungen abgeben. Der aktuelle Aufruf ist überwiegend von Experten aus den Bereichen Chemie, Physik und Engineering unterzeichnet worden; Virologen und Mediziner sind eher weniger beteiligt. Auch wenn die New York Times diesen Kommentar hauptsächlich als Kritik gegen die WHO verbucht [I], zielt er doch auf alle Behörden. Das Robert Koch-Institut in Deutschland beispielsweise trägt diesem Übertragungsweg in der Zusammenstellung der aktuellen Evidenz Rechnung [II].
Leiterin der Forschungsgruppe emerging viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten, Universität Genf, Schweiz
„Ich denke, es handelt sich hier um eine eher akademische Diskussion. Man kann Tröpfchen und das darin enthaltene Erbgut oder infektiöse Virus nach physikalischen Eigenschaften untersuchen – unter diesem Aspekt betrachten Physiker, Gebäudetechniker und weitere die Übertragung – oder nach den klassischen medizinischen Kriterien, die streng zwischen Aerosolen und Tröpfcheninfektionen für definierte Erreger unterscheiden. Letzteres geschieht durch Epidemiologen oder Krankenhaushygieniker und basiert unter anderem auf Beobachtungen zu Zweitinfektionen, Haushaltsübertragungen und zur Basisreproduktionsrate. Beide Seiten kommen der Wahrheit ein Stück näher. Dennoch lassen rein physikalische Versuche nicht unbedingt auf Übertragungsereignisse schließen, gleichzeitig spiegeln die strengen Unterscheidungen in entweder Aerosol oder Tröpfcheninfektion für einen einzelnen Erreger die vielfältigen Situationen in der Realität nicht ausreichend wider, wie wir nun feststellen.“
„Ich denke, die bisherige sehr strenge Unterscheidung in entweder Aerosol oder Tröpfcheninfektion ist nicht ausreichend, um alle Transmissions-Szenarien abzudecken. Nicht jedes virusbeladene Tröpfchen fällt genau nach einer definierten Streckenangabe auf den Boden und die Definition spiegelt nicht die verschiedenen Umweltbedingungen wider.So macht es einen Unterschied, ob ich mich mit vielen Menschen in einem kleinen stickigen Raum befinde, oder ob ich im Freien bin, wo diese Tröpfchen sofort von der Luftbewegung davon getragen werden.“
„Sicherlich fällt SARS-CoV-2 nicht in die Kategorie der ‚klassischen‘ Aerosol-übertragenen Erreger wie Masern oder Windpocken. Diese Erreger sind extrem ansteckend und können sehr lange in der Luft überdauern. Man kann sich noch anstecken, wenn man einen Raum betritt, in dem sich Stunden zuvor ein Erkrankter aufgehalten hat, ohne dass man diesem Erkrankten jemals persönlich begegnet ist. Ein solches Szenario ist bei SARS-CoV-2 nicht anzunehmen. Allerdings hat man am Anfang der Epidemie die Übertragung über Oberflächen wohl etwas überschätzt und die Übertragung durch die Nähe zu Erkrankten, auch durch die gleiche Raumluft, etwas unterschätzt. Wichtig ist, sich jetzt nicht auf akademische Diskussionen zu fokussieren, sondern pragmatische Entscheidungen zu treffen –mit dem, was wir über das Virus wissen. Wir haben nun viele Situationen beschrieben, wo es in Innenräumen zur Übertragung gekommen ist – Familienfeiern, Chorprobe, Sportstudio – und diesen Situationen muss jetzt bei der Prävention besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.“
„Ich glaube, man muss pragmatisch vorgehen und das Wissen, das wir derzeit über den Erreger haben, in sinnvolle, umsetzbare Empfehlungen übersetzen. Auch wenn man für einen bestimmten Anteil von Aerosolübertragungen ausgeht, wird es nicht möglich oder zielführend sein, FFP3-Masken in der Bevölkerung zu empfehlen. Andererseits haben wir genug dokumentierte Transmissionsereignisse – auch Superspreading-Events –, die in geschlossenen Räumen stattgefunden haben. Diese Situationen müssen wir vermeiden, und wenn dies nicht möglich ist, dann kann ein Mund-Nasen-Schutz einen Beitrag zur Prävention leisten.“
Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing
„Morawski und Milton fassen in ihrer Arbeit die bisherige Evidenz zur Aerosol-basierten Transmission von SARS-CoV-2 aus Sicht zweier Expertenlabore mit Sitz in Australien und den USA eindrücklich zusammen. Gerade Aerosole mit einer Partikelgröße unter fünf Mikrometer können sich im Rahmen eines Hustenanfalls bis zu zehn Meter in einem geschlossenen Raum ausbreiten. Es gibt zahlreiche Publikationen über Infektionsketten in Restaurants ohne nachweislich direkten Kontakt der Besucher untereinander. Auch die Ausbreitung von COVID-19 nach einem Chorauftritt ist ein weiteres Beispiel, wie gerade kleine Aerosol-Partikel in der Luft zur Gefahr für die Umgebung werden. Aus deutscher Sicht ist die Ansteckung von Mitarbeitern in großen Schlachthöfen zu ergänzen, am ehesten bedingt durch mehrfache Zirkulation von ungefilterter Kühlluft. Ähnliche Erfahrungen zur Transmission über Aerosole liegen bereits für andere Viren wie Influenza bestens publiziert vor.“
„Die nachvollziehbare Forderung der Autoren ist daher, dass aus hygienischer Sicht eine Händedesinfektion, Maskenpflicht und auch ein social distancing alleine nicht vor Aerosolen in geschlossenen Räumlichkeiten schützen können und daher insgesamt unzureichend sind. Vielmehr müssen Räumlichkeiten regelmäßig gelüftet werden, nicht zuletzt auch Klassenzimmer, Zimmer in Altenheimen und Krankenzimmer. Weitere Maßnahmen wären Luftfilteranlagen und die Anwendung von UV-Licht zur Keimzahlreduktion durch Aerosole – besondere Maßnahmen, die zumindest in vulnerablen Bereichen wie Kliniken und Altenheimen anzustreben sind. Schließlich fordern die Autoren, dass auch Menschenansammlungen in öffentlichen Transportmitteln und Gebäuden möglichst zu vermeiden sind, um Transmissionsketten durch Aerosole zumindest zu reduzieren. Große Organisationen wie die US-basierte ASHRAE (American Society of Heating, Ventilating, and Air-Conditioning Engineers) und die europäische REHVA (Federation of European Heating, Ventilation and Air Conditioning Associations) sowie 239 namentlich genannte Wissenschaftler unterstützen die Anwendung von Schutzmaßnahmen gegen Aerosole.“
„Leider gibt es jedoch noch keine generelle Warnung der WHO zur Gefahr durch eine Aerosol-basierte SARS-CoV-2-Infektion, außer im Rahmen von Aerosol-generierenden medizinischen Prozeduren wie etwa Lungenspiegelungen. Die WHO hat auch erst mit Verzögerung die Gefahr einer COVID-19 Infektion durch asymptomatische Patienten gesehen. Angesichts immer noch steigender globaler Infektionszahlen bei gleichzeitiger Umsetzung von Lockerungsmaßnahmen in manchen Ländern wäre ein Aufruf der WHO zum Schutz vor SARS-CoV-2-haltigen Aerosolen wünschenswert und aus wissenschaftlicher Sicht dringend geboten.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Morawska L & Milton DK (2020): It is Time to Address Airborne Transmission of COVID-19. Clinical Infectious Diseases, ciaa939. DOI: 10.1093/cid/ciaa939.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] New York Times (04.07.2020): 239 Experts With One Big Claim: The Coronavirus Is Airborne.
[II] RKI (26.06.2020): SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19).
Prof. Dr. Isabella Eckerle
Leiterin der Forschungsgruppe emerging viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten, Universität Genf, Schweiz
Prof. Dr. Clemens Wendtner
Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing