Kritik an Studie zum baldigen Kollaps des Golfstroms
Studie: Golfstrom könnte schon in wenigen Jahren zusammenbrechen
Forschung zur Stabilität Golfstroms im Klimawandel schwierig, da Datenerhebung nicht weit genug zurückreichen und das System sehr komplex ist
befragte Forschende kritisch: Methodik interessant und solide, aber Schlussfolgerungen absolut unhaltbar
Der Golfstrom könnte bereits Mitte dieses Jahrhunderts kollabieren, möglicherweise schon deutlich früher. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, die am 25.07.2023 im Fachjournal „Nature Communications“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Die Arbeit widerspricht damit fundamental dem 6. Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC, demzufolge das nordatlantische Zirkulationssystem nicht im 21. Jahrhundert zusammenbricht [I]. Die vom SMC befragten Expertinnen und Experten äußern sich (in Teilen) sehr kritisch und beschreiben die Schlussfolgerungen des Studienteams als nicht haltbar.
Leiter der Future Labs Künstliche Intelligenz im Anthropozän, Forschungsabteilung Komplexitätsforschung, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam, und Professor für Erdsystemmodellierung, Technische Universität München
„Im Detail ist die statistische Analyse selbst korrekt, allerdings werden sehr stark vereinfachende Annahmen bezüglich der mechanistischen Beschreibung der meridionalen Umwälzzirkulation im Atlantik (AMOC) (Atlantic meridional overturning circulation; Anm. d. Red.) selbst getroffen – eine einfache Sattel-Knoten-Bifurkation, die der Komplexität der AMOC sicher nicht Rechnung trägt(wenn ein dynamisches System bei langsamer Veränderung eines Parameters – hier der Temperatur – plötzlich qualitativ sein Verhalten ändert, spricht man von einer Bifurkation; Anm. d. Red.). Unsere eigenen Analysen zeigen, dass die Details der Annahmen große Auswirkungen auf den Zeitpunkt des Kippens haben. Die entsprechenden Unsicherheiten werden von den Autoren der aktuellen Studie nicht ausreichend quantifiziert.“
„Es ist bereits bekannt, dass die AMOC langsamer geworden ist – zumindest im vergangenen Jahrhundert, aber wahrscheinlich schon über einen deutlich längeren Zeitraum. Die Ergebnisse einer meiner eigenen Studien [1] zeigen, dass diese Verlangsamung mit einem Stabilitätsverlust einhergeht. Unter der (vernünftigen) Annahme, dass die AMOC zwei alternative stabile Zustände hat, bedeutet das, dass die AMOC sich ihrem Tipping Point genähert hat. Eine quantitative Aussage – etwa ‚wie nah?‘ oder ‚Wann ist der Kipppunkt erreicht?‘ – habe ich in meinem Paper bewusst nicht gemacht, da die Unsicherheiten in den mechanistischen Annahmen und in den zu Grunde liegenden Daten für eine solche Extrapolation viel zu groß sind.“
Auf die Frage, inwiefern es überhaupt möglich ist, die Veränderung eines so komplexen Systems über einen einzelnen Parameter zu simulieren und daraus eine so weitreichende Aussage abzuleiten:
„Das sehe ich auch sehr problematisch. Die mechanistische Annahme, dass sich die AMOC durch eine einfache eindimensionale Sattel-Knoten-Bifurkation beschreiben lässt, ist eine zu grobe Vereinfachung. Unsere Analysen zeigen zudem große Veränderungen im Kippzeitpunkt, wenn man die Regressionsmethoden leicht ändert. Das heißt, der Zeitpunkt ist auch aus dieser Perspektive nicht robust.“
„Ein ganz wichtiger Punkt – zusätzlich zu den Unsicherheiten durch die vereinfachten methodischen und mechanistischen Annahmen –, der von den Autoren der aktuellen Studie ignoriert wird sind die Unsicherheiten in den zu Grunde liegenden Daten der Oberflächentemperaturen des Wassers. Wenn wir andere, ‚genauso gute‘ Datensätze nutzen, reicht die mit der hier angewandten Methode geschätzte Kippzeit etwa vom Jahr 2050 bis zum Jahr 3000. Zudem haben diese Daten intrinsische Unsicherheiten, die nicht berücksichtigt werden. Die räumliche Abdeckung der Daten erfolgt durch Interpolation und die Fehler ändern sich mit der Dichte verfügbarer Messdaten. Die Datendichte hat sich allerdings seit 1870 um Größenordnungen geändert.“
„Wenn man all diese Unsicherheiten mit einbezieht, bleibt das qualitative Statement, dass die AMOC langsamer geworden ist – mindestens bekannt seit 2015 [2] beziehungsweise 2018 [3] – und an Stabilität verloren hat – bekannt seit 2021 [1]. Die Effekte der Unsicherheiten haben wir in einer eigenen Studie 2023 beschrieben [4]. Alles darüber hinaus halte ich ehrlich gesagt für Spekulation.“
Auf die Frage, inwiefern die aktuelle Studie die bereits vorher kontroverse Debatte um die Stabilität der AMOC weiter befeuern könnte:
„In der Tat wird das kontrovers diskutiert. Es gibt beispielsweise eine Arbeit [5] aus dem Jahr 2022, in der gezeigt wird, dass die beobachtete Verlangsamung wahrscheinlich noch mit der natürlichen Variabilität der AMOC vereinbar ist, also statistisch ein anthropogener Fingerabdruck nicht bewiesen ist.“
Auf die Frage, inwiefern die Einschränkung in der aktuellen Studie mit der Methodik belegbar ist, demzufolge das Kippen ‚nur‘ Teile des Golfstroms betreffen könnte:
„Es gibt eine andere Studie [6], an der ein Autor der aktuellen Studie beteiligt war, basierend auf Modellsimulationen, in der ein partielles Kippen der AMOC auftaucht. Die aktuelle Studie passt damit inhaltlich nicht zusammen, da ein simples Modell zu Grunde gelegt wird, das nur ein globales Kippereignis erlaubt. Zudem erlaubt die Methode gar nicht, dass das System nicht kippen könnte – wendet man die Methode der Autoren auf ein System an, das gar nicht kippen kann, ergibt sich trotzdem ein Kippzeitpunkt.“
„Ich finde nicht, dass die Schlussfolgerung der Studie – und damit mögliche Überschriften in den Berichten darüber – ‚AMOC kippt in 2057‘ mit der Datengrundlage und Modellqualität gerechtfertigt ist und habe eher Sorge, dass die Studie längerfristig nach hinten losgehen wird. Die Autoren haben sich hiermit zu weit aus dem Fenster gelehnt und die relevanten Unsicherheiten nicht genug berücksichtigt. Diese Unsicherheiten sind so groß, dass man auf Grundlage der Analyse historischer Daten keine Aussage zum Zeitpunkt des Kippens treffen kann.“
„Insbesondere der Satz im begleitenden Pressetext von Nature, ein Kollaps der AMOC ‚led to mean Northern hemisphere temperature fluctuations of 10 - 15 degrees celsius within a decade‘ ist schlicht falsch. Dabei hat Peter Ditlevsen, einer der beiden Forschenden dieser Arbeit, viel zu den sogenannten Dansgaard-Oeschger-Ereignissen (abrupte Klimaschwankungen während der vergangenen Kaltzeit, die mit Änderungen der AMOC einhergingen; Anm. d. Red.) des bislang letzten Glazials gearbeitet, die mit AMOC-Schwankungen in Verbindung gebracht werden. Bei den extremsten dieser Ereignisse gab es tatsächlich Schwankungen bis zu 15 Grad innerhalb einiger Jahrzehnte, allerdings lokal in Grönland und ganz sicher nicht als Mittelwert der nördlichen Hemisphäre. Das ist ein riesiger Unterschied. Zudem sind die Modellabschätzungen zu den Folgen eines AMOC-Kollapses unter aktuellen Klimabedingungen – also nicht während eines Glazials – eher in der Größenordnung von maximal acht Grad in den ganz hohen nördlichen Breiten. In Mitteleuropa sind es eher zwei bis fünf Grad Abkühlung, mit höheren Werten weiter im Norden. Es würde nach unserem aktuellen Verständnis auch sicherlich 50 Jahre dauern, eher länger, bis sich die Auswirkungen zeigen.“
Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem, Max-Planck-Institut für Meteorologie, Hamburg
„Die aktuelle Arbeit liefert keinen Grund, an der Bewertung des 6. IPCC-Sachstandsberichts irgendetwas zu ändern: 'Es besteht mittleres Vertrauen darin, dass es vor 2100 nicht zu einem abrupten Zusammenbruch kommen wird.' Die in der nun erscheinenden Studie so zuversichtlich vorgetragene Aussage, es werde im 21. Jahrhundert zum Kollaps der AMOC kommen, steht auf tönernen Füßen.“
„Die Mathematik in der Arbeit wird fachkundig ausgeführt, aber der Ausgangspunkt ist höchst zweifelhaft: Die essenzielle Gleichung – in der Studie mit ‚(1)‘ gekennzeichnet – beruht darauf, dass die vereinfachten Modelle, die die Bifurkation – also den AMOC-Kollaps – darstellen, auch richtig sind(wenn ein dynamisches System bei langsamer Veränderung eines Parameters – hier der Temperatur – plötzlich qualitativ sein Verhalten ändert, spricht man von einer Bifurkation; Anm. d. Red.). Aber die umfassenderen Modelle zeigen ebendiese Bifurkation nicht. Insofern entspricht die Arbeit nicht dem auf Seite 2 formulierten selbstauferlegten Anspruch ‚The strategy is to infer the evolution of the AMOC solely on observedchanges in mean, variance and autocorrelation.‘ Die Interpretation verlässt sich in enormem Ausmaß darauf, dass das theoretische Verständnis der Autoren korrekt ist, und daran sind riesige Zweifel angebracht.“
„Hinzuzufügen ist noch, dass es erhebliche Zweifel daran gibt, ob man Messungen der Oberflächentemperatur einfach als AMOC-Stellvertreterdaten benutzen kann. Auch hier geht die Arbeit völlig unzureichend auf die Ungewissheiten ein.“
„Es wäre wichtig, dass in Berichten über diese Studie auf jeden Fall klar wird, in welchen wesentlichen Aspekten diese Arbeit die wissenschaftliche Ungewissheit nichtmit einbezieht."
Professorin, Leiterin Klimamodellierung, Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN), Universität Hamburg
„Die aktuelle Studie kann ein fachlicher Beitrag zur Diskussion über mathematische Modelle von Klimavariationen sein. Die rein statistische Untersuchung zur AMOC fokussiert ausschließlich auf Oberflächentemperaturen im Nordatlantik. Damit wird die Studie der Komplexität des Klimasystems in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Hinsichtlich der Bezugnahme auf aktuelle Modellsimulationen und umfangreiche Messungen hält die Studie außerdem nicht, was sie verspricht.“
„Mich persönlich überrascht, welche weitreichenden Folgerungen aus der rein mathematischen Analyse für realistisch zu erwartende Entwicklungen der Nordatlantik-Zirkulation abgeleitet werden. Aus meiner Sicht sind die Ergebnisse der Studie für die tatsächliche zukünftige Entwicklung der AMOC nicht aussagekräftig. Ein abrupter Zusammenbruch der AMOC ist nach wie vor – wie im 6. IPCC-Sachstandsbericht beschrieben – in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.“
„Eine solche rein mathematische Analyse, die die physikalische Perspektive ausblendet, braucht es zur Dramatisierung nicht. Wir sehen aktuell bereits eine ganze Reihe von Ereignissen, die auch Auswirkungen des anthropogenen, also des menschengemachten Klimawandels sind. Diese Auswirkungen geben Anlass genug zum Handeln. Klar ist, dass die Treibhausgasemissionen drastisch reduziert werden müssen – je früher, desto besser. Jetzt zu handeln, macht den Unterschied zwischen 1,5 oder 2 oder 3 Grad Erderwärmung, mit einschneidenden Konsequenzen für uns alle.“
Leiter der Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, und Assoziierter Professor in der Arbeitsgruppe Paläoklimadynamik, Fachbereich Physik des Klimasystems, Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM), Universität Bremen
„Die aktuelle Studie ist super interessant. Ich finde, dass man eine neue methodische Sichtweise bekommt – Stichworte Ornstein-Uhlenbeck-Prozesse und Bifurkationstheorie und so weiter – und die Autoren sind im Bereich statistische Auswertungen bekannt. Die Methodik in Bezug auf die statistische Methode und Bifurkations-Analyse ist sehr ausgereift, nachvollziehbar und auch sehr interessant.“
„Die AMOC allerdings allein aus der Oberflächentemperatur in einer Region zu rekonstruieren, ist in meinen Augen etwas problematisch. Methodisch gäbe es hier noch andere Ansätze, die zum Teil schon publiziert sind [8]. Hier wäre es in meinen Augen besser gewesen, kritischer zu sein. Zudem geht man bei der Methode von einem zeitlich konstanten Fingerabdruck aus.“
„Ich halte die Aussage im begleitenden Pressetext von Nature für nahezu ausgeschlossen, wonach ein Kollaps der AMOC ‚led to mean Northern hemisphere temperature fluctuations of 10 - 15 degrees celsius within a decade‘. Solche starken Temperaturänderungen werden in keinem Szenario durch Zirkulationsmodelle prognostiziert.“
„Meine Befürchtung ist, dass die aktuelle Studie an manchen Stellen nicht sorgfältig genug ist. Aber eine inhaltliche Kontroverse sorgt sicherlich für bessere Forschung“
„In der Tat zeigen die Klimamodelle keinen kompletten Zusammenbruch, jedoch eine Abschwächung der AMOC. Selbst wenn man interaktive Eisschilde in Grönland berücksichtigt, gibt es keinen kompletten Zusammenbruch, sogar eher eine teilweise Erholung [7].“
„Erstaunlich ist es, dass ein Vergleich mit Beobachtungen der AMOC und anderen indirekten Methoden fehlen. Zum Beispiel sieht man nicht die Abschwächungsphase in den 1970er Jahren, die mit einer Abkühlung einhergingen. Eine Simulation findet man zum Beispiel in Abbildung 5e in [9].“
Auf die Frage, inwiefern die Einschränkung in der aktuellen Studie mit der Methodik belegbar ist, demzufolge das Kippen ‚nur‘ Teile des Golfstroms betreffen könnte:
„In meinen Augen nutzen die Autoren dabei eine verwirrende Formulierung. Auch hier ist man im Grunde schon weiter. Es gibt auch regionale Änderungen der Zirkulation. Die Formulierung interpretiere ich so, dass man hier etwas zurückrudern möchte. Eventuell haben die Gutachter das so angeregt.“
„Die Folgen einer AMOC-Abschwächung auf das Klima in Europa sind in anderen Studien beschrieben worden – etwa eine relative Abkühlung oder die Änderung des Niederschlags. Es gibt hier allerdings auch noch Forschungsbedarf.“
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ozeanographie, Instituts für Umweltphysik (IUP), Universität Bremen, und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ozeanographie, MARUM - Zentrum für Marine Umweltwissenschaften
„Kippelemente und Kipppunkte lassen sich mathematisch beschreiben. Hierbei zeigt sich, dass Systeme, die sich ihrem Kipppunkt nähern, ihr Verhalten ändern.Insbesondere vergrößern sich sowohl die Varianz des Systems (vereinfacht gesagt: Wie sehr schwankt die Stärke des Systems um seinen Mittelwert?) als auch seine Autokorrelation (vereinfacht gesagt: Wie sehr beeinflusst die Stärke des Systems in einem Jahr die Stärke im darauffolgenden Jahr?). Aus den Messungen der Veränderungen in Varianz und Autokorrelation lassen sich daher frühzeitig Warnsignale ableiten, die auf ein Kippen der AMOC hindeuten können – das heißt, auf einen mehr oder weniger unaufhaltsamen Übergang der AMOC von ihrer jetzigen Fließstärke zu einer deutlich geringeren Fließstärke.”
„Die Schwierigkeit liegt in der Wahl der Beobachtungsdaten. Die AMOC ist ein komplexes System aus Oberflächen- und Tiefenströmungen, welches sich nicht einfach direkt messen lässt. Zwar sind seit Anfang der 2000er-Jahre an verschiedenen Stellen im Atlantik Messinstrumente installiert worden – zum Beispiel das RAPID- und das OSNAP-Projekt – mit welchen die AMOC und die für die AMOC wichtige Tiefenwasserbildung direkt gemessen werden können. De daraus resultierenden Zeitreihen sind aber zu kurz, um Aussagen über die Stabilität der AMOC treffen zu können. Deshalb nutzen die Autoren der Studie einen sogenannten ‚AMOC Index‘ oder auch ‚AMOC Proxy‘. Das heißt, sie nutzen andere Beobachtungsdaten aus welchen näherungsweise – daher der Name Proxy im Sinne von ‚Stellvertreter‘ – der Zustand der AMOC abgeleitet werden kann. Für die AMOC hat sich hier die Messung der Meeres(oberfächen)temperaturen im subpolaren Nordatlantik im Vergleich zum restlichen Planeten bewährt. Diese Daten deuten zwar darauf hin, dass sich die AMOC in den vergangen 70 Jahren abgeschwächt hat [3]. Sie sind aber noch nicht ausreichend perfektioniert und getestet, um zuverlässige Aussagen über die Zukunft der AMOC machen zu können.“
„Die Frage ob und – wenn ja – wann die AMOC ihren Kipppunkt erreichen könnte, wird schon seit Jahrzehnten diskutiert.Paläodaten aus Eisbohrkernen und Ozeansedimentkernen deuten darauf hin, dass die AMOC zu früheren Zeitpunkten in der Erdgeschichte deutlich schwächer war als heutzutage und dass der Nordatlantik und die anliegenden Landmassen dementsprechend deutlich kälter waren.Auch zeigen sowohl einfache mathematische als auch komplexe Klimamodelle, dass die AMOC zusammenbrechen kann.“
„Zukunftssimulationen von Klimamodellen zeigen allesamt eine Abschwächung der AMOC über den Verlauf des 21. Jahrhundert, wobei das Ausmaß der Abschwächung auch von der Menge der zukünftigen Kohlenstoffdioxidemissionen abhängt und bis zum Jahre 2100 bei etwa 30 bis 45 Prozent liegt. Es gibt nur sehr, sehr wenige Modelle, die einen Zusammenbruch der AMOC vor 2100 simulieren. Deshalb sind wir relativ sicher, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gering ist. Allerdings wissen wir ebenso, dass die Modelle nicht in der Lage sind, die AMOC perfekt zu modellieren und es gibt Anzeichen dafür, dass die meisten Modelle die Stabilität der AMOC überschätzen. Die Untersuchung der Stabilität der AMOC anhand von Beobachtungsdaten ist daher sehr wichtig.“
„Es ist möglich, dass die AMOC mehrere Kipppunkte hat – wobei ein Kipppunkt den Übergang von einem stabilen Zustand in einen anderen stabilen Zustand bezeichnet, der vom ersten deutlich verschieden ist. Das heißt, es könnte sein, dass ein Überschreiten des ersten Kipppunktes nicht zu einem kompletten Zusammenbruch der AMOC führt, sondern dass sich das System auf einem – im Vergleich zu heute – schwächeren Niveau stabilisiert.“
„Die Folgen einer deutlichen Abschwächung der AMOC können wir zum heutigen Zeitpunkt nur abschätzen.So wissen wir zum Beispiel, dass ein Zusammenbruch der AMOC den Meeresspiegelanstieg an der Ostküste der USA um bis zu mehrere Dezimeter verstärken könnte und die Temperaturen in und um den Nordatlantik um mehrere Grad fallen könnten. Auch wurde ein Zusammenhang zwischen einer AMOC-Abschwächung und stärkeren sowie häufiger vorkommenden Winterstürmen in Großbritannien gefunden. Eine Studie aus dem Jahr 2016 hat herausgefunden [10], dass Hitzewellen in Europa ebenfalls durch eine schwächere AMOC begünstigt werden könnten. Dieser – im Vergleich zu der Abkühlung bei einem kompletten Zusammenbruch – etwas paradox wirkende Zusammenhang kommt daher, dass die mit der schwächeren AMOC auftretende Abkühlung im Nordatlantik ein atmosphärisches Zirkulationsmuster begünstigt, welches heiße Luft vom Süden nach Europa leitet, wodurch es dort zeitweise deutlich heißer werden kann.Aber die AMOC beeinflusst nicht nur Europa und die USA, sondern auch die Äquatorregion und scheint insbesondere Einfluss auf die Niederschlagswahrscheinlichkeit und -menge in Teilen Afrikas und Asiens zu haben. Damit gibt es eine große Zahl von Menschen, die von einer schwächeren AMOC beeinflusst würden. Im Großen und Ganzen gibt es aber noch einigen Forschungsbedarf, um den Einfluss einer AMOC-Abschwächung auf globaler und lokaler Ebene besser zu quantifizieren.“
„Es ist bei einer möglichen Berichterstattung zu dieser Studie zum einen sehr wichtig, dass zwischen Golfstrom und AMOC – welches auch ‚Golfstromsystem‘ genannt wird; also AMOC ist zwar gleich Golfstromsystem, aber AMOC steht nicht für dem Golfstrom – unterschieden wird. Der Golfstrom ist eine windgetriebene Strömung, welche an der Ostküste der USA entlangfließt, sich bei etwa 40 Grad nördlicher Breite von dieser löst und Richtung Atlantikmitte fließt, ab da spricht man dann vom Nordatlantikstrom. Das Golfstromsystem – in der Bedeutung von AMOC – bezeichnet den nordwärts gerichteten Transport von warmen, salzhaltigem Oberflächenströmungen und die südwärts gerichtete Rückströmung in der Tiefe und erstreckt sich über die gesamte Länge des Atlantiks. Golfstrom und Golfstromsystem überschneiden sich zwar, sind aber nicht identisch.
„Zusammengefasst ist es wichtig zu verstehen, dass die Studie nicht zeigt, dass die AMOC im Jahr 2050 zusammenbricht. Sie deutet aber darauf hin – so wie eine weitere Studie [1] von Niklas Boers, der mehrere AMOC-Indizes untersuchte –, dass die AMOC bereits einen Teil ihrer Stabilität verloren haben könnte. Dies sollten wir als ernstzunehmende Botschaft verstehen, das System weiter zu untersuchen, und unsere Treibhausgasemissionen zu reduzieren, welche die Hauptursache für den anthropogenen Klimawandel sind.“
„Die Autoren der aktuellen Studie haben eine Methode entwickelt, mit welcher der Kipppunkt der AMOC bestimmt werden kann, sobald wir ausreichend gute Messdaten für die Schwankungen der AMOC auch auf kürzeren Zeitskalen haben. Aktuell beruhen diese Daten aber noch auf indirekten Messmethoden, welche noch nicht ausreichend perfektioniert und getestet wurden, als dass gesicherte Aussagen über die Zukunft der AMOC getroffen werden könnten. Deshalb ist es wichtig, dass wir die AMOC weiterhin direkt messen, idealerweise an mehreren Stellen im Atlantik. Außerdem müssen wir weiterhin daran forschen, wie wir bessere Proxy-/Stellvertreter-Daten für die historische Entwicklung der AMOC entwickeln können, da wir nicht in die Vergangenheit zurückreisen und zusätzliche direkte Beobachtungen machen können. Tatsächlich arbeiten Wissenschaftler, darunter auch ich, derzeit an der Beantwortung dieser Fragen, zum Beispiel im Rahmen des EPOC-Projekts (Explaining and Predicting the Ocean Conveyor), das von der Europäischen Union finanziert wird.“
Leiter des Forschungsbereiches Erdsystemanalyse, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam, und Professor für Physik der Ozeane, Institut für Physik und Astronomie, Universität Potsdam
„Die Studie reiht sich in frühere Studien ein, die sich mit etwas anderen Methoden und Datensätzen mit der Frage der frühen Warnsignale befasst haben.“
„Die neue Arbeit kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Es besteht immer noch große Unsicherheit darüber, wo der Kipppunkt der AMOC liegt. Aber die neue Studie ergänzt Evidenz dafür, dass er viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten.“
„Wie immer in der Wissenschaft liefert eine einzelne Studie nur begrenzte Beweise, aber wenn mehrere Ansätze zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen, muss dies sehr ernst genommen werden – vor allem, wenn es sich um ein Risiko handelt, das wir mit 99,9-prozentiger Sicherheit ausschließen wollen. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt nun, dass wir nicht einmal ausschließen können, dass wir bereits in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten einen Kipppunkt überschreiten.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Ditlevsen P et al. (2023): Warning of a forthcoming collapse of the Atlantic meridional overturning circulation. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-023-39810-w.
Weiterführende Recherchequellen
Deutsches Klima-Konsortium (2017): Zukunft der Golfstromzirkulation.
Science Media Center (2018): Schmelzwasser aus Grönland mögliche Gefahr für den Golfstrom. Research in Context. Stand: 12.03.2018.
Science Media Center (2018): Abschwächung des Golfstroms führt möglicherweise zu Erwärmung statt zu Abkühlung. Research in Context. Stand: 18.07.2018.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Boers N (2021): Observation-based early-warning signals for a collapse of the Atlantic Meridional Overturning Circulation. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-021-01097-4.
[2] Rahmstorf S et al. (2015): Exceptional twentieth-century slowdown in Atlantic Ocean overturning circulation. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/nclimate2554.
[3] Caesar L et al. (2018): Observed fingerprint of a weakening Atlantic Ocean overturning circulation. Nature. DOI: s41586-018-0006-5.
[4] Ben-Yami M et al. (2023): Uncertainties in critical slowing down indicators of observation-based fingerprints of the Atlantic Overturning Circulation. Arxiv. DOI: 10.48550/arXiv.2303.06448.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
[5] Latif M et al. (2022): Natural variability has dominated Atlantic Meridional Overturning Circulation since 1900. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-022-01342-4.
[6] Lohmann J et al. (2021): Risk of tipping the overturning circulation due to increasing rates of ice melt. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.2017989118.
[7] Ackermann L et al. (2020): AMOC Recovery in a Multicentennial Scenario Using a Coupled Atmosphere-Ocean-Ice Sheet Model. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1029/2019GL086810.
[8] Dima M et al.(2010): Evidence for Two Distinct Modes of Large-Scale Ocean Circulation Changes over the Last Century. Journal of Climate. DOI: 10.1175/2009JCLI2867.1.
[9] Ionita M et al. (2016): Linkages between atmospheric blocking, sea ice export through Fram Strait and the Atlantic Meridional Overturning Circulation. Scientific Reports. DOI: 10.1038/srep32881.
[10] Duchez A et al. (2016): Drivers of exceptionally cold North Atlantic Ocean temperatures and their link to the 2015 European heat wave. Environmental Research Letters. DOI: 10.1088/1748-9326/11/7/074004.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] IPCC (2021): Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Summary for Policymakers.
Prof. Dr. Niklas Boers
Leiter der Future Labs Künstliche Intelligenz im Anthropozän, Forschungsabteilung Komplexitätsforschung, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam, und Professor für Erdsystemmodellierung, Technische Universität München
Prof. Dr. Jochem Marotzke
Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem, Max-Planck-Institut für Meteorologie, Hamburg
Prof. Dr. Johanna Baehr
Professorin, Leiterin Klimamodellierung, Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN), Universität Hamburg
Prof. Dr. Gerrit Lohmann
Leiter der Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, und Assoziierter Professor in der Arbeitsgruppe Paläoklimadynamik, Fachbereich Physik des Klimasystems, Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM), Universität Bremen
Dr. Levke Caesar
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ozeanographie, Instituts für Umweltphysik (IUP), Universität Bremen, und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ozeanographie, MARUM - Zentrum für Marine Umweltwissenschaften
Prof. Dr. Stefan Rahmstorf
Leiter des Forschungsbereiches Erdsystemanalyse, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam, und Professor für Physik der Ozeane, Institut für Physik und Astronomie, Universität Potsdam