Medizin & Lebenswissenschaften

31. Januar 2022

Wieso kann sich Omikron so schnell verbreiten?

Die SARS-CoV-2-Variante Omikron, die im November 2021 als neue besorgniserregende Virusvariante (VOC) identifiziert wurde, hat sich in Europa innerhalb weniger Wochen rasant ausgebreitet und ist in den meisten EU-Ländern mittlerweile die vorherrschende Virusvariante. Omikron besitzt eine Vielzahl von Mutationen – vor allem im Spike-Protein –, die sie von vorangegangenen Varianten unterscheidet [1]. Doch welchen Fitnessvorteil hat Omikron im Vergleich zu Delta und anderen Virusvarianten?

Dieses Fact Sheet fasst die Eigenschaften der Virusvariante Omikron und die ersten Erkenntnisse zu seinem Fitnessvorteil zusammen.

Das Fact Sheet kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Übersicht

  • Fitnessvorteile von Omikron
  • Warum verläuft eine Omikron-Infektion milder?
  • Fazit
  • Literaturstellen, die zitiert wurden

Fitnessvorteile von Omikron

Starke Bindung an ACE2

  • Trotz zahlreicher Mutationen in der Rezeptorbindedomäne ist die Bindungsaffinität zwischen dem Omikron-Spike und dem ACE2-Rezeptor ähnlich stark oder sogar stärker als bei der Delta-Variante und deutlich stärker als bei der ursprünglichen Variante D614G [1].
  • Für fünf der 15 identifizierten Mutationen in der Rezeptorbindedomäne (G339D, N440K, S477N, T478K, N501Y) wurde bereits gezeigt, dass diese die Bindung an den ACE2-Rezeptor verstärken [2].
  • Die Mutation K417N schwächt wiederum die Bindung, wird aber vermutlich durch neu hinzugewonnene Mutationen (R493, S496 und R498) kompensiert [1][3].

Spaltrate des Spike-Proteins

  • Die Spaltung des Spike-Proteins ist wichtig für das Virus, um nach dem Binden an den Zelloberflächen-Rezeptor ACE2 anschließend mit der Zellmembran zu verschmelzen [5].
  • Omikron weist eine Gruppe von drei Mutationen (H655Y, N679K und P681H) in der Nähe der sogenannten S1/S2-Furin-Spaltstelle auf, die wahrscheinlich die Spaltung des Spike-Proteins und damit die Fusion mit Wirtszellen erleichtern und auch zu einer erhöhten Übertragbarkeit beitragen könnten [2].
  • Eine weitere Studie mit Pseudoviren in Zellkulturen bestätigt die Rolle der Mutation H655Y für die erhöhte Spaltungsrate des Spike-Proteins [4].
  • Biochemische Analysen mit Omikron-Pseudoviren und Omikronviren zeigen allerdings, dass die TMPRSS2-abhängige Spaltung des Spike-Proteins bei Omikron dennoch nicht so effizient zu sein scheint und Omikron eventuell auf eine andere Serinprotease zurückgreift als zum Beispiel Delta [6][7].

Eindringen in die Zelle auch über Endosomen

  • In Zellkultur mit menschlichen Atemwegszellen konnte gezeigt werden, dass Omikron nach ACE2-Bindung sowohl TMPRSS2-abhängig als auch -unabhängig in Zellen eindringen kann [3].
  • TMPRSS2 ist eine transmembrane Serinprotease, die das Spike-Protein spaltet und so den Eintritt bereits über die Zellmembran an der Oberfläche ermöglicht. Dieser Mechanismus wurde von den vorherigen SARS-CoV-2-Varianten bevorzugt, um Abwehrmechanismen in den Endosomen zu umgehen.
  • Allerdings scheint die Interaktion mit TMPRSS2 geschwächt zu sein, da Omikron Zellen mit hohem TMPRSS2 Anteil weniger effektiv infizieren kann als Delta und auch weniger TMPRSS2-gespaltenes Spike-Protein in biochemischen Analysen nachgewiesen werden [6][7][8].
  • Omikron besitzt damit die Fähigkeit über Endosomen in die Zellen eindringen zu können
  • In Endosomen befinden sich Interferon-induzierte Transmembran-Proteine (IFITMs), die antiviral wirken und zur frühen Virusbekämpfung beitragen [9].
  • Omikron scheint die Fähigkeit entwickelt zu haben, eine gewisse Resistenz gegenüber dieser endosomalen Abwehr entwickelt zu haben.
  • Dadurch kann Omikron jede ACE2-exprimierende Zelle in den oberen Atemwegen infizieren, anstatt nur Zellen, die sowohl ACE2 als auch TMPRSS2 auf ihrer Oberfläche tragen.

Immune Escape

  • Einige Mutationen führen zu einer Immunflucht, das heißt, dass das Virus durch einige bereits bestehende Antikörper, die nach einer vorangegangenen Infektion oder durch die bestehenden Impfungen in den Schleimhäuten der Atemwege gebildet wurden (vor allem IgA-Antikörper), deutlich schlechter neutralisiert werden kann [10][11].
  • Auch einige monoklonale Antikörper, die in Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt werden, können Omikron nicht neutralisieren und sollten gegen diese Variante nicht mehr eingesetzt werden, um schwere Verläufe abzuwenden [10][11].
  • Die Immunflucht der Variante führt zudem dazu, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit geimpfte oder genesene Personen infizieren kann als Delta. Die Omikron-Variante wird deshalb von mehr Personen übertragen und kann sich so schneller in der Population verbreiten als zum Beispiel Delta [12].

Erhöhte Transmission

  • Im Tierversuch mit Goldhamstern konnte gezeigt werden, dass die Mutation H655Y zu einer Überlegenheit gegenüber anderen Varianten führt, indem sie schneller von Tier zu Tier weitergegeben wurde [4].
  • Omikron schafft es sich innerhalb der ersten Infektionstage sehr schnell in den oberen Atemwegen zu vermehren, weshalb eine hohe Viruslast und eine Weitergabe der Infektion vermutlich früher stattfinden kann als bei Delta [7].
  • Zusammen mit der Immunflucht, schafft es Omikron nicht nur schnell hohe Virustiter in den oberen Atemwegen zu erreichen, sondern auch bereits immunisierte Menschen zu infizieren. Das begünstigt erneut die Weitergabe des Virus, weshalb Omikron einen Transmissionsvorteil gegenüber Delta hat [12].

Interferone zur Virusabwehr

  • Interferone werden bei einem Virusbefall einer Zelle gebildet und dienen als Botenstoffe, die benachbarte Zellen vor einer Infektion warnen, damit diese sich auf eine anstehende Infektion vorbereiten.
  • Die Wirksamkeit von Interferonen bei einem Omikron-Befall scheint sich von anderen SARS-CoV-2-Infektionen zu unterscheiden. Allerdings deuten erste Daten in unterschiedliche Richtungen:
    • Ein Forschungsteam aus Frankfurt konnte zeigen, dass unter ihren Laborbedingungen Omikron nur sehr bedingt Calu-3- und Caco-2-Zellen infizieren konnte. Diese Zellen bilden Interferone. Verozellen, die zum Beispiel keine Interferone mehr bilden können, konnte das Omikron-Virus vergleichbar gut infizieren wie Delta [13].
    • In einer weiteren Studie konnte das Forschungsteam ihre Ergebnisse vertiefen, indem sie zusätzliche zeigten, dass die Zugabe von Interferonen zur Zellkultur die Vervielfachung von Omikron einschränkte [14].
    • Eine andere Forschungsgruppe aus Gießen zeigte hingegen, dass Omikron unter ihren Laborbedingungen in Calu-3-Zellen die Bildung von Interferonen besser unterdrücken kann als Delta. Darüber hinaus konnten sie sogar eine erhöhte Resilienz von Omikron gegenüber Interferonen beobachten [15].
  • Die Rolle von Interferonen während einer Omikron-Infektion lässt sich derweil nicht abschließend klären.
  • Entweder ist Omikron weniger resistent gegen die Interferonabwehr der Zellen, weshalb Omikron-Infektionen im Mittel milder verlaufen.
  • Oder Omikron hat eine erhöhte Resistenz gegenüber Interferonen und dadurch einen Infektionsvorteil gerade zu Beginn der Infektion, wenn die erste Schutzschicht des Immunsystems – das angeboren Immunsystem – aktiv wird.
  • Studien an Organoiden aus menschlichen Zellen der oberen Atemwege zeigen, dass Omikron diese Zellen extrem gut infizieren und sich replizieren kann [16][7]. Darüber hinaus kann Omikron sich innerhalb der erste fünf Infektionstage schneller vermehren als historische Varianten wie Alpha oder Delta. Diese aktuellen Studien an Organoiden, die der natürlichen Situation in den Atemwegen ähnlicher sind, sprechen eher für eine erhöhte Resistenz gegenüber Interferonen.

Warum ist eine Omikron-Infektion milder?

  • Infektionen mit Omikron verlaufen klinisch in der Regel milder und führen deutlich weniger zu Krankenhauseinweisungen oder Tod [17][18].
  • Einige Studien an Organoiden aus Zellen der oberen Atemwege oder der Aleovaren haben gezeigt, dass Omikron sehr effektiv Zellen der oberen Atemwege, allerdings nicht sonderlich erfolgreich die tiefen Lungengewebe infizieren kann [6][7].
  • Vermutlich liegt das daran, dass Omikron das Eindringen in Zellen über Endosomen bevorzugt, weil die Interaktion mit TMPRSS2, wodurch das Spike-Protein gespalten und die Fusion mit der Zellmembran ermöglicht wird, nicht mehr so gut zu funktionieren scheint. Die Zellen der Lunge sind mit TMPRSS2 angereichert, das könnte eine Barriere für das Virus darstellen.
  • Ein weiterer Mechanismus, der die Delta-Variante so pathogen gemacht hat, ist die Bildung von Synzytien. Dabei handelt es sich um das Verschmelzen von benachbarten Zellen zu mehrkernigen Riesenzellen, die eine Vermehrung des Virus begünstigen. Diese entstehen, wenn SARS-CoV-2 mit der Zellmembran an der Oberfläche verschmilzt und Spike und ACE2-Rezeptoren benachbarter Zellen verklebt. Auch dafür ist auch die Spaltung des Spike-Proteins durch TMPRSS2 nötig und Omikron scheint nicht in der Lage zu sein, Synzytien zu bilden [6].

Fazit

  • Omikron kann sehr effizient an den Rezeptor ACE2 binden.
  • Omikron kann sehr effizient in Zellen der oberen Atemwege eindringen und das auch unabhängig von TMPRSS2.
  • Omikron verwendet bevorzugt Endosomen, um in Zellen einzudringen.
  • Omikron schafft es innerhalb der ersten Tage der Infektion höhere Virustiter zu erlangen.
  • Omikron kann aufgrund seiner Immunflucht auch geimpfte und genese Personen infizieren.
  • Die schnelle Reproduktionsrate und die Fähigkeit immunisierte Personen zu infizieren ermöglicht Omikron einen Transmissionsvorteil gegenüber historischen Varianten.
  • Eine Infektion mit Omikron führt seltener zu schweren Erkrankungen und Krankenhausaufnahmen, da das Spike-Protein von Omikron weniger effizient vom TMPRSS2 gespalten wird, welches aber nötig ist für das Eindringen in Zellen der tiefen Atemwege und für die Bildung von Synzytien.
  • Die Impfungen senken bei geimpften Personen weiterhin das Auftreten schwerer Krankheitsverläufen weiterhin drastisch, weil die zelluläre Immunantwort (T-Zellen) das Virus nach dem Eindringen in infizierte Körperzellen effektiv erkennt und eliminiert.

Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Mannar D et al. (2022): SARS-CoV-2 Omicron variant: Antibody evasion and cryo-EM structure of spike protein–ACE2 complex. Science. DOI: 10.1126/science.abn7760.

[2] Viana R et al. (2022): Rapid epidemic expansion of the SARS-CoV-2 Omicron variant in southern Africa. Nature. DOI: 10.1038/s41586-022-04411-y.

[4] Escalera A et al. (2022): Mutations in SARS-CoV-2 variants of concern link to increased spike cleavage and virus transmission. Cell Host & Microbe. DOI: 10.1016/j.chom.2022.01.006.

[5] Peacock TP et al. (2021): The furin cleavage site in the SARS-CoV-2 spike protein is required for transmission in ferrets. Nature Microbiology. DOI: 10.1038/s41564-021-00908-w.

[6] Meng B et al. (2022): SARS-CoV-2 Omicron spike mediated immune escape and tropism shift. bioRxiv. DOI: 10.1101/2021.12.17.473248.

[7] Lamers MM et al. (2022): SARS-CoV-2 Omicron efficiently infects human airway, but not alveolar epithelium. bioRxiv. DOI: 10.1101/2022.01.19.476898.

[9] Winstone H et al. (2021): The polybasic cleavage site in the SARS-CoV-2 spike modulates viral sensitivity to Type I interferon and IFITM2. Journal of Virology. DOI:10.1128/JVI.02422-20.

[10] Dejnirattisai W et al. (2022): SARS-CoV-2 Omicron-B.1.1.529 leads to widespread escape from neutralizing antibody responses. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2021.12.046.

[11] Wilhelm A et al. (2021): Reduced Neutralization of SARS-CoV-2 Omicron Variant by Vaccine Sera and Monoclonal Antibodies. medRxiv. DOI: 10.1101/2021.12.07.21267432.

[14] Bojkova D et al. (2022): SARS-CoV-2 Omicron variant virus isolates are highly sensitive to interferon treatment. bioRxiv. DOI: 10.1101/2022.01.20.477067.

[15] Shalamova L et al. (2022): Omicron variant of SARS-CoV-2 exhibits an increased resilience
to the antiviral type I interferon response.
medRxiv. DOI: 10.1101/2022.01.20.476754.

[18] Lewnard JA et al. (2022): Clinical outcomes among patients infected with Omicron (B.1.1.529) SARS-CoV-2 variant in southern California. medRxiv. DOI: 10.1101/2022.01.11.22269045.