6000 vorzeitige Todesfälle durch Stickstoffdioxid
Das Bundesumweltamt UBA hat am 08.03.2018 seine Studie „Quantifizierung von umweltbedingten Krankheitslasten aufgrund der Stickstoffdioxid-Exposition in Deutschland“ auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Zentrale Aussagen daraus sind:
Vizedirektor Schweizerisches Tropen- und Public Health Institut Basel, (Swiss TPH), Schweiz
„Die Hochrechnungen des Bundesumweltamtes beruhen auf derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Grundlagen und etablierten Methoden. Die Gesundheitsfolgenabschätzungen wurden zudem ergänzt mit Informationen aus neusten Studien. Die Hochrechnungen sind konservativ – das heißt: die Folgen werden unterschätzt. Allerdings ist diese Vorsicht angemessen, da die Abgrenzung der Stickoxid-Schäden von jenen des Feinstaubes schwierig ist. Man geht von der groben Schätzung aus, dass bis zu zwei Drittel der den Stickoxiden zugeordneten Schäden auf die Wirkungen dieser stark oxidativen Gase zurückgeführt werden können. Der Rest ist Folge des gesamten Gemisches aller Schadstoffe.“
„Die Studie erlaubt, die Gesundheitsproblematik der Luftverschmutzung objektiv zu gewichten und die Diskussion zu versachlichen: Stickoxide schädigen ohne Zweifel die Gesundheit; sie sind auch ein Vorläufer der Feinstaub- und Ozonbelastungen, die ebenfalls schädlich sind. Die den Stickoxiden zugeteilten Folgen betragen aber nur etwa einen Zehntel der Gesamtschäden der heutigen Luftverschmutzung.“
„Verglichen mit den Folgen des Feinstaubes – insbesondere des Dieselrußes – sind die Stickoxide somit ein gesundheitliches Randproblem. In Deutschland wurde Diesel jahrelang staatlich gefördert, obwohl seit Jahrzehnten bekannt ist, dass der Ruß die Gesundheit gefährdet. Andere Länder haben dem Gesundheitsschutz höhere Priorität gegeben und deshalb auf die Dieselförderung verzichtet.“
„Wer nun die sofortige Kehrtwende fordert und die staatlich geförderten Rußschleudern von Deutschen Straßen verbannen will, muss bedenken, dass diese Gebrauchtwagen in den globalen Osten und Süden exportiert werden. In der Diskussion über den Betrugsskandal sollten neue Machenschaften der Industrie und die globale Sicht einfließen. Zum Beispiel handelte eine deutsche Automobilindustrie mit dem Iran vor kurzem die Bedingung aus, neue (!) Dieselfahrzeuge ohne Partikelfilter – krankmachende Ladenhüter also – exportieren zu können. In den nächsten 20 Jahren werden diese deutschen Rußschleudern im Iran einen vielfach größeren Gesundheitsschaden hinterlassen als die für Fahrverbote vorgesehene Fahrzeugflotte in deutschen Städten je anrichten könnte. Aus gesundheitlicher Sicht ist es inakzeptabel, dass der Westen Luftverschmutzung in den globalen Süden auslagert.“
„Die Nabelschau in der Luftreinhaltepolitik muss global gültigen technologischen Standards weichen. Es ist unangebracht, die gesundheitlichen Folgen vergangener Fehlentscheide oder veraltete gesundheitsbelastende Technologien ins Ausland zu exportieren – es sei denn, der Betrugs-Skandal soll durch neue Skandale abgelöst werden.“
Professor of Environmental Epidemiology, Institute for Risk Assessment Sciences, Universität Utrecht, Niederlande
„Der Bericht verwendet grundsätzlich eine Methodik, die dem neuesten Stand der Technik entspricht. Das die Quantifizierung der Krankheitslast durch die Stickstoffdioxid-Belastung hauptsächlich auf kardiovaskuläre Todesfälle beschränkt wurde, steht jedoch im Kontrast zu anderen Evaluationen wie beispielsweise der integrierten Wissenschaftsbewertung der Environment Protection Agency der USA im Jahr 2016. Das Endergebnis stellt daher wahrscheinlich eine Unterschätzung der Krankheitslast dar. Im Vergleich dazu schätzt die Europäische Umweltagentur EEA in ihrem jüngsten Luftqualitätsbericht [1] die Gesamtzahl der auf Stickstoffdioxid zurückzuführenden vorzeitigen Todesfälle für Deutschland auf 44.960, ausgehend von dem auch im UBA-Bericht verwendeten niedrigen Schwellenwert von 10 µg/m3.“
„Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der EEA-Bericht der Ansicht ist, dass diese Berechnung der Gesamtzahl eine Überschätzung von bis zu 30 Prozent bedeuten kann, da die Auswirkungen von Feinstaub (PM 2,5) zum Teil doppelt erfasst werden. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass die EEA eine relativ hohe Schätzung des relativen Risikos aus einem WHO-Bericht von 2013 verwendet hat, die von neueren Studien nicht mehr unterstützt wird.“
„Meine grobe Vermutung ist, dass man unter Berücksichtigung von Doppelzählungen und neuesten Studienergebnissen die EEA-Schätzung für 2017 noch um rund 50 bis 60 Prozent reduzieren könnte. Leider wurde eine neue Schätzung des relativen Risikos noch nicht in zitierfähiger Form veröffentlicht. Dennoch denke ich, dass der der Unterschied zwischen 6.000 vorzeitigen Todesfällen im UBA-Bericht und 45.000 im EEA-Bericht kann nicht mit diesen Vorbehalten erklärt werden kann.“
„Es ist üblich, Schätzungen der Krankheitslast sowohl als vorzeitige Todesfälle als auch in Form statistisch verlorener Lebensjahre zu präsentieren, obwohl die verlorenen Lebensjahre die sinnvollere Kennzahl sind. Dies liegt daran, dass (vorzeitige) Todesfälle, die auf Stickstoffdioxid zurückzuführen sind, nicht quantifiziert werden können. Mit der gleichen Anzahl von verlorenen Lebensjahren kann die Zahl der Todesfälle, zu denen Stickstoffdioxid beigetragen hat, variieren. Das gilt ebenso für Rauchen, Ernährung, Bewegungsmangel usw. Und zwar von einer niedrigen Zahl im unwahrscheinlichen Fall, dass Stickstoffdioxid mehr kardiovaskuläre Todesfälle nur unter den ganz jungen Menschen verursachen würde (die viele Lebensjahre zu verlieren haben), bis zu einer viel höheren Zahl im wahrscheinlichen Fall, dass Stickstoffdioxid zu einer gewissen Verkürzung des Lebens für uns alle beiträgt.“
„Ich kenne zwar die genauen Daten für Deutschland nicht, aber die Verbesserung der Luftqualität zwischen 2007 und 2014 ist langsam verlaufen, und die Veränderungen in den drei vergangenen Jahren dürften gering gewesen sein – zumindest kleiner als die Unsicherheit in Bezug auf die zugeschriebene Sterblichkeitslast, die ich eben skizziert habe."
„Der Bericht unterstützt die Notwendigkeit, Stickstoffdioxid und die damit verbundenen verkehrsbedingten Luftschadstoffen zu senken. Der Bericht zeigt auch eine überproportionale Belastung anhand von drei Fallstudien von Innenstadtbereichen, in denen hohe Stickstoffdioxid-Konzentrationen vor allem durch den starken Verkehr entstehen. Ich kann für Deutschland nicht wirklich beurteilen, welche lokalen, regionalen und überregionalen Maßnahmen zur Verringerung der Stickstoffdioxid-Belastung der Bevölkerung am effektivsten wären."
„Fahrverbote und Umweltzonen sind wahrscheinlich geeignet, die höchsten Konzentrationen in stark frequentierten Innenstädten zu senken, aber solche Maßnahmen sollten nicht zu einer Verlagerung der Verschmutzung in Gebiete führen, die zuvor sauberer waren."
Senior Scientist, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH (UFZ), Leipzig
„Wie verschiedene epidemiologische Studien zeigen, stellt die Stickstoffdioxid-Belastung der Außenluft im Verhältnis zu anderen Gesundheitsrisiken ein kleines, aber reales Risiko dar. Die Anzahl vorzeitiger Todesfälle in der Gesamtbevölkerung ist dabei wenig geeignet, die Größe dieses Risikos zu beurteilen, da nichts über den wirklichen Verlust an Lebenszeit ausgesagt wird. Wesentlich aussagekräftiger ist daher die im Durchschnitt je Einwohner verlorene Lebenszeit."
„Die vorgestellte Metastudie weist für die am stärksten beeinflussten kardiovaskulären Erkrankungen einen mittleren Lebenszeitverlust im Jahr 2014 von circa acht Stunden aus. Für alle betrachteten Erkrankungen liegt er in der Summe bei circa 19 Stunden. Da Stickstoffdioxid-Belastungen nicht überall gleich verteilt sind, vor allem aber, weil zum Beipspiel Vorerkrankungen und individuelle Unterschiede in der Empfindlichkeit eine Rolle spielen, sind viele Bürger nahezu nicht, einzelne Gruppen aber stärker betroffen."
„Trotzdem ist der Feinstaub in der Atemluft mit einem deutlich höheren Lebenszeitverlust verbunden, so dass es sinnvoll scheint, bei beschränkten Mitteln und Möglichkeiten das Hauptaugenmerk auf die Reduzierung der Feinstaubbelastung und danach auf Stickstoffdioxid zu richten."
„Unabhängig davon, dass die Grenzwerte in anderen Regionen wesentlich höher sind (zum Beispiel in den USA ca. 100 µg/m³ als zulässiger Jahresmittelwert) und dass die Belastung seit den Neunzigerjahren und die damit verbundenen Risiken für Gesundheit und Umwelt in Deutschland deutlich gesunken sind, nimmt zurzeit die Belastung nur noch langsam ab. Zudem besteht auch bei Konzentrationen unterhalb des Grenzwertes von 40 µg ein abschätzbares Gesundheitsrisiko. Deshalb ist es sinnvoll, mittel- und langfristig die Emission von Stickstoffdioxid weiter zu reduzieren, selbst wenn die Belastung nie auf null gesenkt werden kann, schon weil nicht nur Dieselfahrzeuge eine Quelle von Stickstoffdioxid sind."
Arbeitsgruppenleiterin Umweltepidemiologie von Lunge, Gehirn und Hautalterung, Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gGmbH (IUF), Düsseldorf
„Die Angabe von vorzeitigen Todesfällen und verlorenen Lebensjahren sind beide sinnvoll und werden in der Regel auch gemeinsam angegeben. Die Kritik an solchen Analysen ist, dass man in solchen Studien nicht für die Rolle anderer Risikofaktoren adjustieren kann, das heißt, man hat keine Informationen zu anderen Faktoren, die vielleicht einen stärken Einfluss auf den vorzeitigen Tod hatten als Stickstoffdioxid aus dem Straßenverkehr, zum Beispiel Rauchen, Übergewicht oder andere Lebensstilfaktoren."
„Hinzu kommt, dass es schön gewesen wäre, wenn man nicht nur den Zusammenhang mit Stickstoffdioxid zeigen würde, sondern auch mit anderen Luftschadstoffen wie Feinstaub oder Ruß, die ja auch Bestandteil des Diesel sind und in der Regel hoch mit Stickstoffdioxid korrelieren, damit man die Ergebnisse besser hätte einschätzen können."
„Ich bin der Meinung, dass ein generelles Fahrverbot nicht unbedingt den gewünschten Erfolg bringen wird, da viele Autofahrer dann auf einen Benziner umsteigen werden und somit die Konzentrationen von Feinstaub (wie wir es vor einigen Jahren schon mal hatten) erneut steigen werden. Ich denke, Subventionen um die Dieselfahrzeuge nachzurüsten und eine Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs wären sinnvoller und wären ein positiveres Signal."
Ich war an der Deutschen NOx Studie in keiner Weise beteiligt.
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Schneider V et al. (2018): Quantifizierung von umweltbedingten Kranheitslasten aufgrund der Stickstoffdioxid-Exposition in Deutschland.
Weiterführende Recherchequellen
Hintergründe zu den verwendeten unterschiedlichen Gesundheitsmaßen (vorzeitige Todesfälle oder verlorene Lebensjahre) liefert unser Fact Sheet "Verlorene Lebenszeit als Maßeinheit für Gesundheit – vorzeitige Todesfälle, verlorene Lebensjahre oder doch etwas anderes?“
Hintergründe zu Stickstoffdioxid liefert unser Fact Sheet "Luftverschmutzung durch Stickstoffdioxid“
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] EEA Report (2017): Air quality in Europe - 2017 report.
Prof. Dr. Nino Künzli
Vizedirektor Schweizerisches Tropen- und Public Health Institut Basel, (Swiss TPH), Schweiz
Prof. Dr. Bert Brunekreef
Professor of Environmental Epidemiology, Institute for Risk Assessment Sciences, Universität Utrecht, Niederlande
Dr. Ulrich Franck
Senior Scientist, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH (UFZ), Leipzig
Dr. Tamara Schikowski
Arbeitsgruppenleiterin Umweltepidemiologie von Lunge, Gehirn und Hautalterung, Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gGmbH (IUF), Düsseldorf