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10.03.2023

Neues Strommarkt-Design: Welches passt am besten zu Wind und Sonne?

     

  • EU-Kommission peilt Strommarktreform an
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  • Strommarktdesign soll Energiewende und niedrige Preise sichern
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  • Experten: Einbindung vieler kleiner Erzeuger, regionale Märkte und flexible Verbraucher sollten zentrale Punkte werden
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Der Strommarkt der Zukunft könnte viel regionaler und flexibler werden als heute. Derzeit wird in Deutschland auf einem Markt Strom für das ganze Land gehandelt, zu einem Preis. Jedoch sind Erneuerbare Energien wie Wind und Solarstrom geographisch sehr unterschiedlich verteilt. Regionale Märkte würden den Marktteilnehmern Anreize setzen, solche lokalen Unterschiede miteinzubeziehen, wodurch Geld für Netzausbau und den Umgang mit Netzengpässen gespart werden kann. Neben einer lokaleren Gliederung sollten die Strommärkte künftig auch Anreize für Anbieter von „Flexibilitäten“ bieten. Damit sind Anlagen gemeint, deren Verbrauch sich an das Stromdargebot aus Wind und Sonne anpassen kann und die damit letztlich den Strompreis senken könnten. So lassen sich die zentralen Punkte der unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern diskutierten Form einer zukünftigen Strommarkt-Struktur skizzieren, deren Diskussion kommende Woche mit der geplanten Veröffentlichung eines Vorschlags der EU-Kommission an Fahrt aufnehmen dürfte.

Während mehrere EU-Länder eigene Vorschläge für eine Strommarktreform eingebracht haben und die EU-Kommission bereits Ideen für eine Reform von Stakeholdern konsultieren ließ [I], hat die Bundesregierung erst am 20. Februar die „Plattform Klimaneutrales Stromsystem“ ins Leben gerufen [II]. Sie soll bis zum Sommer 2023 einen ersten Bericht mit Vorschlägen für eine Strommarktreform vorlegen, mindestens ein weiterer sollte folgen.

Welche Gründe eine Strommarktreform sinnvoll erscheinen lassen und welche Vorschläge mit welcher Wirkung in der Forschung diskutiert werden, haben wir daher vier Forscherinnen und Forscher gefragt, die seit längerem an diesem Thema arbeiten.

Übersicht

     

  • Hauke Hermann, Senior Researcher für Energie und Klimaschutz, Öko-Institut e.V., Berlin

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  • Dr. Martin Weibelzahl, Co-Fachbereichsleiter am Kern­kompetenz­zentrum Finanz-­ & Informations­management, Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik, Bayreuth

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  • Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin in der Abteilung „Energie, Verkehr und Umwelt“, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin

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  • Prof. Dr. Uwe Leprich, Dozent für Ökonomische/Wirtschaftspolitische Nachhaltigkeitsstrategien, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes

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Statements

Die folgenden Statements sind bewusst mit Blick auf langfristige Verwendbarkeit eingeholt und können auch in Zukunft zu diesem Thema Hintergrundinformationen bieten und zitiert werden.

Hauke Hermann

„Auslöser für die Diskussion über das Strommarktdesign war die aktuelle Energiekrise. Die grundlegendere Frage, welches Strommarktdesign die Transformation hin zu einem klimaneutralen Energiesystem unter Wahrung der weiteren energiepolitischen Ziele wie Versorgungssicherheit, Preisgünstigkeit, Verbraucherfreundlichkeit und Effizienz ermöglichen kann, stellt sich jedoch auch unabhängig von der aktuellen Krisenbewältigung. Bereits im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung daher das Strommarktdesign adressiert und nun die ‚Plattform Klimaneutrales Stromsystem‘ ins Leben gerufen. Sie soll ein Zielbild entwickeln und konkrete Vorschläge für ein neues Strommarktdesign machen und dabei Stakeholder aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft einbeziehen.“

Dr. Martin Weibelzahl

„Der menschenverursachte Klimawandel hat zu einem niemals dagewesenen Handlungsdruck geführt, unsere Welt zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft umzubauen. Unsere Städte und ländlichen Regionen verändern sich: Wir sehen tausende von kleinen Stromerzeugungsanlagen, die weit über unser Land verteilt sind. Wir sehen eine niemals zuvor dagewesene Abhängigkeit von Wetterbedingungen bei der Stromerzeugung. Wir sehen eine neue Bedeutung unseres Stromnetzes und den damit verbunden physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die den Stromtransport bestimmen. Und zuletzt sehen wir kleine und große Stromverbraucher, die ihre Stromnachfrage – sektorübergreifend – vermehrt nach den jeweiligen Witterungsbedingungen und damit nach der Verfügbarkeit CO2-armen Stroms ausrichten.“

„Wir leben somit in einer völlig anderen Welt als noch vor wenigen Jahrzenten. All diese Veränderungen führen zu einer enormen Komplexität zwischen Millionen von Akteuren und einer Vielzahl von Sektoren wie dem Strom-, Wärme- oder Mobilitätsbereich. Eine moderne Energiepolitik muss dieser Komplexität gerecht werden und diese verlässlich bewältigen. Dabei müssen zentrale Säulen wie Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und soziale Inklusion beachtet werden.“

„Wir haben im Zuge der Liberalisierung unserer Strommärkte gesehen, welche entscheidende Rolle marktliche Steuerungsmechanismen hierbei spielen können und müssen. Nun gilt es, bestehende Anreiz- und Steuerungsmechanismen der neuen Welt anzupassen und die zugehörige Transformation rasch zu beschleunigen. Eine Ende-zu-Ende-Digitalisierung spielt hier eine entscheidende Rolle, um einem hochgradig vernetzten, nachhaltigen Strommarkt echtes Leben einzuhauchen. Lassen wir unser bisheriges Marktdesign in seinen wohlverdienten ‚Ruhestand‘ gehen.“

Prof. Dr. Claudia Kemfert

„Eine Reform des Strommarktes ist deshalb notwendig, weil sich das Stromsystem ändert: Weg von konventionellen fossilen und atomaren hin zu mehr Erneuerbaren Energien. Dadurch nehmen die Anforderungen an mehr Flexibilität durch Angebot und Nachfrage zu, und damit auch die Anforderungen an flexible Preisgestaltung und Vermarktung.“

„Zum einen geht es darum, ausreichende Marktanreize und Förderungen für den weiteren Ausbau Erneuerbarer Energien inklusive aller Flexibilitätsoptionen zu haben, zum anderen darum, sicherzustellen, dass es einen diskriminierungsfreien Markt und Vermarktungsmodelle gibt, die ausreichende Kapazitäten und Liquidität sicherstellen. Aufgrund von mehr Erneuerbaren Energien im System ändern sich die Anforderungen durch Volatilitäten und Flexibilitäten. Versorgungssicherheit im gesamten Energiesystem wird daher mit verschiedenen Komponenten sichergestellt, die durch ein kluges Energie- und Lastmanagement, flexible Nachfragereaktionen und Speicherintegration abgedeckt werden.“

„Neben dem Energiesystem muss ebenso das Netzsystem angepasst werden, insbesondere die dezentralen Verteilnetze müssen an die Anforderungen durch verstärkte kleinteilige Anstiege der Stromnachfrage angepasst werden, die beispielsweise wegen der Zunahme von Elektromobilität oder Wärmepumpen auftreten.“

Prof. Dr. Uwe Leprich

„Der komplexe Stromsektor mit der Strombörse im Zentrum wurde in den 90er Jahren in einer Zeit gestaltet, in der fossile und nukleare Großkraftwerke mit unterschiedlich hohen Brennstoffkosten die Stromerzeugung sicherten. Dieses spezifische Design ist weder auf Erzeugungssysteme mit überwiegend dargebotsabhängigen Anlagen ohne Brennstoffkosten übertragbar (vor allem Wind- und Solaranlagen), noch gibt es eine Antwort auf die zentralen Herausforderungen der Zeit.“

„Diese Herausforderungen umfassen vor allem die Sektorkopplung – das heißt die immer engere Verzahnung des Strom- und des Wärmesektors vor Ort –, die Digitalisierung in Form der dynamischen Interaktion von flexiblen Erzeugern und Prosumenten, und die Dezentralisierung insbesondere durch den Siegeszug der Photovoltaik in Verbindung mit Batteriespeichern.“

„Es wäre geradezu vermessen, mit den Konzepten der 90er Jahre den Stromsektor des 21. Jahrhunderts zukunftsfähig gestalten zu wollen.“

Hauke Hermann

„Aus der Perspektive des Öko-Instituts sind einige Bereiche besonders wichtig. Der Großhandelsmarkt für Strom (Spotmarkt) braucht Lokalisierungssignale. Aktuell gibt es in Deutschland nur eine nationale Preiszone. Es wäre vorteilhaft, diese in mehrere Preiszonen aufzuteilen. Diese Aufteilung wird gerade von den Übertragungsnetzbetreibern im sogenannten ‚Bidding Zone Review‘ geprüft und sollte von der Bundesregierung unterstützt werden.“

„Außerdem werden Investitionsanreize für die erneuerbare Stromerzeugung als auch für bedarfsgerecht einsetzbare Kapazitäten benötigt. Für die variablen Erneuerbare Energien wie Windenergie an Land und auf See und die Photovoltaik gibt es mit der einseitigen, gleitenden Marktprämie im Rahmen des EEGs eine gute Refinanzierungsgrundlage. Bei der Diskussion um die Weiterentwicklung geht es zum Beispiel um die Frage, ob bei zukünftig neu errichteten Anlagen in Zeiten hoher Erlöse im Strommarkt auch Rückzahlungen von den geförderten Anlagen fällig werden sollen. Solche Ansätze werden als zweiseitige Marktprämie, Contracts for Difference (CfDs) oder Korridormodelle bezeichnet. Denkbar wären auch Financial CfDs: Um Verzerrungen beim Kraftwerksdispatch zu vermeiden, werden hier die Zahlungen nicht über die konkrete Anlage, sondern über eine repräsentative Referenzanlage ermittelt.“

„Zur Schaffung ausreichender Investitionsanreize in einlastbare Kapazitäten ist zu diskutieren, ob mittelfristig die Entwicklung eines systematischen Investitionsrahmens über einen Kapazitätsmarkt erforderlich wird. Dieser sollte sich nicht nur auf einlastbare Kraftwerkskapazitäten beschränken, sondern es sollten gemeinsame Ausschreibungen durchgeführt werden, die technologieoffen und einheitlich Nachfrageflexibilität und Speicher integrieren. Weitere Details zu unseren Ansichten zum Strommarktdesign finden sich in unserer Stellungnahme [1].“

Dr. Martin Weibelzahl

„Ein zukunftsfähiges Strommarktdesign muss der steigenden Dezentralität Rechnung tragen. Ebenso muss ein zukunftsfähiges Strommarktdesign mit der steigenden Erzeugungsvolatilität umgehen können. Strom kann nicht zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort zu denselben Kosten und mit demselben CO2-Fußabdruck erzeugt werden.“

„Daher benötigen wir zeitlich und regional differenzierte ökonomische Anreize zur bestmöglichen Nutzung der jeweils lokal verfügbaren Erneuerbaren Energie. Entsprechende Anreize spielen auch eine entscheidende Rolle für den zielgerichteten Einsatz komplementärer Flexibilitätstechnologien wie Speicher und Nachfrageflexibilität. Diese Anreize können und müssen sowohl die kurzfristige Nachfrage und Erzeugung lenken als auch nachhaltige Investitionen lokal an den ‚richtigen‘ Stellen anreizen.“

„Kurzum: Ein zukunftsfähiges Strommarktdesign muss zeitlich sowie lokal differenzierte ökonomische Anreize für Flexibilitätstechnologien beinhalten, um eine möglichst vollumfängliche Nutzung erneuerbarer Stromerzeugung zu gewährleisten. So können Kosten des Gesamtsystems, entstehende CO2- Emissionen sowie unsere Abhängigkeit von fossilen Rohstoffimporten nachhaltig reduziert werden. In der Wissenschaft werden dabei verschiedene Modelle für ein zukunftsfähiges Strommarktdesign diskutiert, das solch regionale Anreize setzt.“

„Ausgehend von der aktuellen deutschen Einheitspreiszone verfolgt eines dieser Modelle die Unterteilung Deutschlands in mehrere kleinere Gebotszonen. Innerhalb solcher Gebotszonen bilden sich – in Abhängigkeit von Stromnachfrage, Stromangebot und verfügbaren Netzkapazitäten zwischen den Zonen – jeweils zonenspezifische Strompreise. Diese spiegeln die zugrunde liegende regionale Verfügbarkeit von Strom und damit dessen derzeitigen Wert wider.“

„Zonenspezifische Preise setzen entsprechende Investitionsanreize zum Ausbau erneuerbarer Stromerzeugungsanlagen und zugehöriger Flexibilitäten genau in den Gebotszonen, in denen diese aus Systemsicht besonders dringend benötigt werden.“

„Allerdings gestaltet sich die konkrete Festlegung von Gebotszonen sowohl politisch als auch technisch herausfordernd. Selbst wenn eine bestimmte Anzahl an Zonen und deren Zonengrenzen zu einem bestimmten Zeitpunkt (gemessen an bestimmten Kriterien wie zum Beispiel Effizienz) ‚optimal‘ ist, so verändert sich die Energiewelt im Zuge der Elektrifizierung und des Ausbaues von Erneuerbaren Energien so schnell, dass die gewählte Zonierung schnell wieder überholt ist. Zudem sind in einer Welt mit einer hohen Produktionsvolatilität auch Netzengpässe untertags hochgradig volatil. All dies führt insbesondere bei privaten Investoren zu viel Unsicherheit. Diese Herausforderungen unterstreicht auch der aktuell von den europäischen Übertragungsnetzbetreibern durchgeführte ‚Bidding Zone Review‘ [2], in welchem eine Unterteilung Deutschlands in mehrere Gebotszonen intensiv und in einem sehr aufwändigen Prozess diskutiert werden.“

„Eine weitere Alternative zur deutschen Einheitspreiszone stellt ein Nodalpreissystem dar. Dabei werden für jeden Netzknoten, in Abhängigkeit netztechnischer Restriktionen, zu jedem Zeitpunkt individuelle Strompreise bestimmt. Übersteigt an einem Netzknoten beispielsweise die aktuelle Stromerzeugung die Stromnachfrage, so fallen in einem Nodalpreissystem die Strompreise an diesem Knoten, und reizen auf diese Weise entsprechende Flexibilitäten an. Preisunterschiede treten dabei nur temporär für die Dauer der Knappheit auf und bilden einen finanziellen Anreiz zur kurzfristigen Verschiebung des geplanten Stromverbrauchs, wodurch unsere Stromnetze weiter entlastet und Kosten für den Ausbau bestehender Netzinfrastruktur reduziert werden können. Nodalpreissysteme sind weltweit in verschiedenen Ländern wie beispielsweise in den USA bereits implementiert.“

„Neben diesen grundlegenden Reformmöglichkeiten der deutschen Einheitspreiszone werden in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik aktuell weitere ergänzende Ansätze zur Anreizung und Sicherung einer Flexibilisierung des Stromverbrauchs und -angebots erörtert. Dabei stehen im Mittelpunkt der aktuellen Diskussionen beispielsweise zeitvariable Netzentgelte sowie ein Abbau flexibilitätshemmender Regulatorik. Ebenso wird die Notwendigkeit von Kapazitätsmechanismen und Instrumenten zur Förderung des Ausbaus Erneuerbarer Energien – teils sehr kontrovers – erörtert.“

„Nicht zuletzt sei die flankierende und konsequente Digitalisierung unseres Stromsystems genannt, damit auch neue, oftmals kleine Akteure wie Elektrofahrzeuge oder Wärmepumpen erfolgreich in den Markt integriert werden können. Neben einem gezielten Einsatz von Sensorik werden dabei beispielsweise auch digitale Personen- und Maschinenidentitäten eine wichtige Rolle spielen. So ist im Strommarkt der Zukunft ein schneller Wechsel von Akteuren zwischen verschiedenen Marktrollen möglich – und ‚Smart Markets‘ werden Wirklichkeit.“

Prof. Dr. Claudia Kemfert

„In der Wissenschaft werden verschiede Konzepte analysiert, die Förderungen von Erneuerbaren Energien berücksichtigen, wie Vermarktungsoptionen sowie die Netzbepreisungen. Dabei stehen für Förderung und Vermarktung von Erneuerbaren Energien vor allem so genannte Carbon Contracts for Difference (CfD) im Fokus oder aber Power Purchase Agreements (PPA). CfDs können Investitionssicherheit schaffen und die Kosten für Endkunden minimieren. PPAs können das Preisniveau für Erzeuger von Ökostrom langfristig absichern, sodass auch der Endkunde klare Transparenz über die Preise hat und zudem 100 Prozent Ökostrom kaufen kann.“

„Im Rahmen der Netzregulierung werden so genannte Nodal Pricing Konzepte diskutiert, wo dynamische Netznutzungsgebühren die Kosten der Nutzung der Netze am Markt abbilden und so auch ein Engpassmanagement betrieben wird. Die Nodes sind dabei nicht Zonen, sondern Knotenpunkte, in denen je nach Kostensituation jeweils ein eigener Strompreis herrscht. Durch diese Preissignale werden Kosten und Nutzen der Netze transparent gemacht, was sowohl Entlastungen bringen kann als auch einen möglichen Netzzubau. Ein eventueller Nachteil ist, dass es zu wenig Wettbewerb in den Knotenpunkten gibt und so keine ausreichende Liquidität vorherrscht.“

Prof. Dr. Uwe Leprich

„Nach eigenem Bekunden will die EU-Kommission bei der jetzigen Reform das bestehende Design des Stromsektors nicht gänzlich ändern, sondern nur ergänzen.“

„Damit entfallen bereits einige der in der Wissenschaft seit Jahren diskutieren Reformansätze wie Knotenpreise, zellulare Konzepte oder Subsidiarität in Sachen Versorgungssicherheit.“

„Im Zentrum der Diskussion steht aktuell die Gestaltung eines Langfristmarktes, der die Finanzierung sowohl der Erneuerbaren Energien als auch der flankierenden Flexibilitätsoptionen erlaubt. Dieser Markt soll die Strombörse ergänzen, ohne sie zu ersetzen. Die wissenschaftlichen Ansätze reichen hier von Kapazitätsmechanismen über Differenzverträge, power purchase agreements (PPAs) bis hin zu Flex-Ausschreibungen durch die Netzbetreiber. Alle diese Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile, zum Teil können sie sich auch ergänzen. Wichtig wäre es meines Erachtens, dass die EU hier keinesfalls auf ein einziges Modell abstellt, sondern den Mitgliedstaaten mit ihren unterschiedlichen Akteuren und Erfahrungen die Möglichkeit bietet, darüber selbst entscheiden zu können.“

Hauke Hermann

„Im Rahmen der Energiekrise wurden Markteingriffe vorgeschlagen und teilweise auch durchgeführt, die eine Begrenzung der Strompreise zum Ziel hatten und die einen Einfluss auf die Koordinationsfunktion des Marktes haben. Es ging um die Entkopplung von Erdgas und Strompreisen, die konkret im ‚griechisches Modell‘ und im ‚spanischen Model‘ umgesetzt wurden. Diese Änderungen an den grundsätzlichen Markträumungsregeln bergen jedoch die Gefahr, die Allokationseffizienz des Großhandels zu reduzieren. Konkret bedeutet dies, dass Kraftwerke und Speicher nicht mehr optimal eingesetzt werden und die Exporte in die Nachbarländer steigen. Außerdem gehen Anreize fürs Energiesparen verloren.“

„Direkte Eingriffe in die Preisbildung an den Strommärkten sollten daher vermieden werden. Die Entlastung von Verbraucher*innen bei kurzfristigen Strompreissteigerungen sollte außerhalb des Marktdesigns durchgeführt werden. Solche Maßnahmen sollten zudem den sozialen Ausgleich fördern und Anreize zum Energiesparen bieten.“

Dr. Martin Weibelzahl

„Von unterschiedlichen Akteuren wurde in den letzten Monaten teils heftig eine Abschaffung des Merit-Order-Prinzips gefordert. Gemäß dem Prinzip der Merit-Order setzt das Kraftwerk mit den höchsten Grenzkosten, das aktuell zur Deckung der Nachfrage benötigt wird, den Preis für alle Stromproduzenten und -konsumenten.“

„Was zunächst nach einem sonderbaren Mechanismus klingt, folgt beim genaueren Hinsehen einer zentralen ökonomischen Logik. Hierzu muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass kein Kraftwerk zu einem Strompreis bereit ist zu produzieren, der unter seinen Grenzkosten liegt. Somit muss das teuerste, derzeit aktive Kraftwerk immer zu seinen Grenzkosten entlohnt werden. Stellen wir uns nun fiktiv vor, es gäbe zwei unterschiedliche Marktpreise zu einem Zeitpunkt. Dann hätten Marktakteure so lange einen Anreiz, Strom zum günstigeren Preis zu kaufen und zum teureren Preis zu verkaufen, bis sich beide Preise angeglichen haben. Daher kann es im Gleichgewicht nur einen Preis geben, nämlich den Preis, der vom Grenzkraftwerk bestimmt wird. Dieser Preis spiegelt aktuelle Verfügbarkeiten und Knappheiten adäquat wider und sorgt für eine kostengünstige Versorgung mit Strom.“

„Das Merit-Order-Prinzip abzuschaffen, wäre daher ein fataler Fehler. Vielmehr müssen Preissignale auf Basis des Merit-Order-Prinzips sowohl zeitlich als auch örtlich hinreichend differenziert ausgestaltet und Vertrauen in die auf diese Weise entstehenden Preise (wieder) hergestellt werden. Für den Fall regional differenzierter Preise gäbe es dann mehrere lokale, gekoppelte Merit-Orders, welche die zeitlich und räumlich verfügbaren Technologien umfassen.“

„Damit diese lokalen und zeitvariablen Preissignale ihre volle Wirkung entfalten können, gilt es, verzerrende Umlagen und Abgaben abzubauen. Auch hier benötigen Unternehmen Planungssicherheit. Nachträgliche und schrittweise Anpassungen der marktlichen Spielregeln schaffen ansonsten Unsicherheiten mit investitionshemmender Wirkung und sollten daher nur in absoluten Ausnahmefällen eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund sollten unnötige regulatorische Risiken wo immer möglich minimiert werden.“

Prof. Dr. Claudia Kemfert

„Die Vorschläge aus Europa sehen vor, dass vor allem Contracts for Difference (CfDs) die einzig erlaubten staatlichen Direkthilfen für die Energieproduktion sein sollen. Und sie sollen neben Erneuerbaren Energien auch Atomkraft fördern dürfen. Gerade letzteres ist kritisch zu sehen, da Atomkraft nicht erneuerbar, zu teuer und risikoreich ist. Zudem muss aufgepasst werden, dass durch die Fokussierung auf CfDs nicht die Vermarktung Erneuerbarer Energien mittels Power Purchase Agreements behindert wird. Erneuerbare Anlagen sollten auch am Terminmarkt teilnehmen können. Zudem müssen die mit der Anlage verbundenen Speicher weiterhin rentabel bleiben und die Wirtschaftlichkeit insbesondere von Photovoltaik-Anlagen darf nicht leiden. So würde vor allem die Systemfreundlichkeit leiden, die aber in einem Stromsystem mit mehr Erneuerbaren Energien besonders wichtig ist.“

„Eine weitere Gefahr besteht in der starken Fragmentierung. Die nationalen Systeme müssen gut aufeinander abgestimmt werden. Der Vorschlag der virtuellen Drehkreuze für den grenzüberschreitenden Stromtransport kann Anreize für einen verstärkten Stromhandel geben. Bei der Umgestaltung der Kosten für den Netzausbau ist Obacht geboten, da eine Transparenz der Kosten für Netzausbau und -betrieb sehr wichtig ist.“

Prof. Dr. Uwe Leprich

„Sämtliche Entwicklungen – technische, ökonomische, politische – legen es nahe, das Design des Stromsektors grundlegend neu zu denken. Wann wenn nicht jetzt vor dem Hintergrund des aus den Fugen geratenen Börsenmarktes und dem europaweiten Aufbruch in die Erneuerbaren Energien sollte die EU-Kommission den Mut haben, einen großen Wurf auf den Weg zu bringen und das angestaubte Liberalisierungskonzept der 90er Jahre rundzuerneuern?“

„Da die EU-Kommission jedoch absehbar nicht den Mut für einen großen Wurf aufbringen wird, sollte in jedem Fall vermieden werden, die Strombörse als sogenannten ‚Energy Only Market‘ als Grundlage zur Finanzierung der Erneuerbaren Energien und der sie ergänzenden Flexibilitätsoptionen zu definieren und darauf zu hoffen, dass genügend investiert würde. Dies hat die Börse noch nie geleistet, und sie wird dies auch in Zukunft nicht leisten können. Das heißt im Klartext, dass die Türen weit aufgemacht werden sollten für belastbare Finanzierungsmodelle der künftigen Hard- und Software des Stromsektors. Die Strombörse würde dadurch zu einem Kurzfristmarkt geschrumpft, in dem sich die anderweitig bereits finanziell abgesicherten Anlagen noch ein ‚Zubrot‘ verdienen können.“

„Darüber hinaus sollte dauerhaft vermieden werden, dass durch hohe Erdgas- oder Steinkohlepreise exorbitant hohe Gewinne bei den inframarginalen Erzeugern (Atom, Braunkohle, Erneuerbare) anfallen. Das erfordert eine zügige Umstellung der Vergütung sämtlicher inframarginaler Erzeuger auf Differenzverträge, die die tatsächlichen Kosten dieser Anlagen abbilden.“

Dr. Martin Weibelzahl

„Wenn es uns gelingt, mehr Erneuerbare Energien nutzbar zu machen, so ist der größte Teil unserer Stromerzeugung mit Grenzkosten von annähernd Null verbunden. Dazu ist es allerdings notwendig, dass Strompreise die richtigen Steuerungssignale senden können.“

„Zeitlich und lokal differenzierte Strompreise setzen beispielsweise einen Anreiz zum freiwilligen Verschieben des geplanten Stromverbrauchs von Zeiten besonders hoher zu Zeiten niedriger Nachfrage. Dasselbe gilt für regionale Nachfrageverschiebungen von beispielsweise energieintensiven Rechenzentren. All dies wirkt – nicht nur für flexible Verbraucher – zusätzlich preissenkend. Da durch entsprechende Flexibilitätstechnologien ebenso unsere Netzinfrastruktur entlastet wird, lassen sich Kosten sowohl für den Netzausbau als auch für kurative Eingriffe (Redispatch) zur Behebung von Netzengpässen einsparen. Dies würde sich über verringerte Netzentgelte ebenfalls positiv auf die Stromrechnung von Privathaushalten und Unternehmen in Deutschland auswirken. Flexibilitäten spielen neben Erneuerbaren Energien damit eine entscheidende Rolle zur Senkung unserer Strompreise.“

„Das Zusammenspiel aus einem hohen Anteil an Erneuerbaren Energien im Strommix und einem auf die Volatilität der Stromerzeugung zugeschnittenen Strommarktdesign, welches die benötigte Flexibilität zeitlich und räumlich anreizt, kann somit die Stromkosten für Privathaushalte und Unternehmen spürbar und nachhaltig reduzieren.“

Prof. Dr. Uwe Leprich

„Sämtliche Modelle, die sich vom grenzkostenorientierten Börsenmarkt lösen und auf die Refinanzierung der Vollkosten abstellen, leisten einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung von ‚Zufalls‘-Gewinnen. Dies entlastet die Strompreise der Verbraucher von ungerechtfertigten Kostenkomponenten, ist aber kein Garant für per se niedrige Strompreise.“

„Wenn man von den Netzentgelten und den staatlichen Steuern und Abgaben absieht, die in der aktuellen Reformdiskussion ausgeklammert bleiben, sind insbesondere die Vollkosten der Flexibilitätsoptionen der unsichere Posten für den künftigen Strompreis. Es wäre in jedem Fall hilfreich, die benötigten Optionen wettbewerblich zu ermitteln, um die Kosten unter Konkurrenzdruck zu bringen. Wie hoch aber die Vollkosten von Gasturbinen, Batteriespeichern oder Lastverlagerungsoptionen künftig sein werden, lässt sich zurzeit nicht wirklich absehen.“

Hauke Hermann

„Auch die Bundesregierung hat angekündigt, dass die Plattform Klimaneutrales Stromsystem bereits im Sommer einen ersten Zwischenbericht und im Winter einen weiteren Bericht vorlegen soll. Die Frage des zukünftigen Strommarktsystems ist komplex. Daher ist es wichtig, sich ausreichend Zeit zu nehmen, gleichzeitig ist es vor dem Hintergrund der anstehenden Transformation wichtig für Investitionen schnell Planungssicherheit herzustellen.“

Dr. Martin Weibelzahl

„Die Uhr tickt. Zur erfolgreichen Eindämmung der zerstörerischen Folgen des Klimawandels bleiben uns nur noch wenige Jahre. Daher ist klar, dass wir jetzt handeln müssen. Verlässliche politische Entscheidungen sind das Fundament, auf dem Unternehmen und Haushalte ihre nachhaltigen Investitionen bauen. Genau wie auf jeder anderen ‚Baustelle‘ lässt sich ohne ein Fundament auch keine nachhaltige Energiewelt errichten. Vor diesem Hintergrund müssen rasch die zentralen Designentscheidungen für unseren zukünftigen Strommarkt getroffen werden, damit Haushalte und Unternehmen mit ihren ‚Bauarbeiten‘ beginnen können.“

„Eine Verschiebung politischer Entscheidungen in die kommenden Jahre wäre daher fatal. Mit Blick auf unsere energieintensive Industrie droht ansonsten ein Rück- anstelle eines benötigten Ausbaus und damit ein dramatisches Scheitern der Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Und auf Seiten der Privathaushalte drohen Chancen einer energiegerechteren Zukunft ungenutzt zu bleiben.“

„Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Energiewende einen niemals dagewesenen Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft erfordert. Dieser muss in Deutschland und Europa mit höchster Priorität vorangetrieben werden. Neben der Ausgestaltung, Planung und Umsetzung eines neuen Strommarktdesigns sowie begleitender Transformationsprozesse sollten wir unmittelbar durch den Abbau veralteter, flexibilitätshemmender Regulierung einen Beitrag zur ökonomisch und ökologisch effizienteren Integration Erneuerbarer Energien leisten. Diese wichtigen Schritte müssen wir direkt gehen. Wir haben das ‚Schuhwerk‘, um gemeinsam das Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft sicher zu erreichen.“

Prof. Dr. Claudia Kemfert

„Der Zeitplan für die Reform ist ambitioniert. Ich teile die Einschätzung der Bundesregierung, dass man nichts übers Knie brechen sollte, sondern in Ruhe die Vor- und Nachteile analysieren und entscheiden muss. Nächstes Jahr wäre ein realistischer Zeitrahmen.“

Prof. Dr. Uwe Leprich

„Erfahrungsgemäß mahlen die Reformmühlen im Stromsektor besonders langsam, da mächtige Akteure viel zu verlieren haben und die Lobbys gut aufgestellt sind.“

„Insofern ist es gut und richtig, dass die EU-Kommission die dramatischen Entwicklungen des letzten Jahres zum Anlass genommen hat, das Thema Reform des Stromsektors – mitunter auch zur Reform des ‚Strommarkt“-Designs“ sprachlich verzwergt – anzupacken.“

„Es hätte dem europäischen Diskussionsprozess allerdings gut getan, wenn der deutsche Wirtschaftsminister bereits die Blaupause für einen zukunftsfähigen Stromsektor in der Schublade hätte, der den drei großen Ds – Dekarbonisierung, Dezentralisierung und Digitalisierung – Rechnung trägt. Dies ist in den letzten Jahren leider versäumt worden, insofern kann man von der jetzigen Reformrunde wohl nicht allzu viel erwarten.“

„Wenn man die bundesdeutschen Klimaziele und die ehrgeizigen Ziele des Ausbaus Erneuerbarer Energien jedoch ernst nimmt, müssen spätestens zur Mitte des Jahrzehnts die Weichen für einen grundlegend reformierten Strom-Wärme-Sektor gestellt sein, der auf der Grundlage zahlreicher wissenschaftlicher Studien und Erkenntnisse deutlich dezentraler gestaltet werden sollte.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Hauke Hermann: Das Öko-Institut leistet wissenschaftliche Unterstützung für die Arbeiten in der Plattform Klimaneutrales Stromsystem als Teil eines breit aufgestellten Konsortiums, bestehend aus Guidehouse, Consentec, Fraunhofer ISI, Neon, Öko-Institut sowie r2b.Hauke Hermann unterstützt Dr. Felix Chr. Matthes. Der ist Mitglied der Expertenkommission für den Monitoringprozess der Energiewende. Das BMWK hatte die Expertenkommission gebeten, eine Analyse zur aktuellen Situation am Strommarkt und zur Weiterentwicklung des Strommarktdesigns vor dem Hintergrund der Energiewende zu erstellen. Diese Analyse wurde auf der Auftaktsitzung der Plattform Klimaneutrales Stromsystem vorgestellt.

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Löschel A et al. (2023): Stellungnahme zum Strommarktdesign und desssen Weiterentwicklungsmöglichkeiten.

[2] European Network of Transmission System Operators for Electricity ENTSO-E (o.J.): Bidding Zone Review. Informationsseite der Europäischen Strom-Übertragungsnetzbetreiber über Zuschnitt der Stromhandelsgebiete und deren Reform.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Europäische Kommission (2023): Strommarkt – Reform der Gestaltung des EU-Strommarkts.

[II] Bundeministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023): Plattform Klimaneutrales Stromsystem – im Dialog für ein neues Marktdesign.