Erblichkeit von Homosexualität
Über den Ursprung homosexuellen Verhaltens wird in Wissenschaft und Gesellschaft seit vielen Jahren diskutiert. Nun haben Forscher in der Fachzeitschrift „Science“ die bisher umfassendste Rasterfahndung im Erbgut vorgelegt, mit der sie – wie sie selber schreiben – der komplexen Rolle der „genetischen Architektur“ der sexuellen Neigung zum gleichen Geschlecht einen Schritt näherkommen wollen (siehe Primärquelle). Das wenig überraschende Ergebnis lautet: Anhand genetischer Daten fanden sich laut den Studienautoren „Hinweise darauf, dass das Sexualverhalten ein sehr komplexes Merkmal ist“ und es keine „eindimensionale Sexualität“ gäbe.
Forschungsgruppenleiter und Senior Scientist, Genome Biology Unit, European Molecular Biology Laboratory (EMBL), Heidelberg
„Diese Studie wurde mit aktuellsten Methoden der Hochdurchsatz-Genetik bei einer halben Million Freiwilligen durchgeführt.“
„Diese Studie zeigt deutlich, dass die Erblichkeit sexueller Orientierungen gering ist und man anhand des Erbguts einer Person diesbezüglich nichts ‚ablesen‘ kann. Es gibt kein einzelnes Gen, was die sexuelle Orientierung bestimmt – wie vor einiger Zeit fälschlicherweise in einigen Medien kolportiert. Diese Studie zeigt somit auch, dass sich das Erbgut nicht zur Diskriminierung von Menschen verschiedener Geschlechtsneigung eignet. Diese neue Studie könnte helfen, Vorurteile und Angst vor genetischer Diskriminierung im Zusammenhang mit sexueller Orientierung abzubauen. Menschen verschiedener sexueller Orientierung erhalten durch diese Studie zudem die Beruhigung, dass sie ihre Genomsequenz analysieren lassen können, ohne dass Gefahr besteht, dass dabei ihre Orientierung aufgedeckt werden könnte.“
„Grundsätzlich besteht bei dieser Art der Datenerhebung die Möglichkeit, dass sich Personen – trotz Anonymität – nicht trauen, ihre sexuelle Orientierung korrekt anzugeben; wodurch der Datensatz fehlerbehaftet sein könnte. Die Ergebnisse sind von der Arbeitsgruppe allerdings mit unabhängigen Daten überprüft worden, unter anderem, um diesem Risiko entgegen zu wirken. Daher sind die Studienergebnisse für mich vertrauenswürdig.“
„Öffentlichkeitsarbeit für peer-reviewed wissenschaftliche Studien zu betreiben ist per se immer eine gute Idee. Die sexuelle Orientierung stellt in vielen Ländern immer noch ein brisantes Thema dar. Die Präsentation der Ergebnisse in für Laien verständlicher Form auf einer leicht zugänglichen Plattform hilft daher nicht nur dabei die Studie der Allgemeinheit verständlicher zu machen, sondern könnte auch zusätzlich dabei helfen, Vorurteile abzubauen. Ich denke deshalb, dass diese Form der Präsentation der Ergebnisse eine gute Idee ist.“
Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn, und Professor für Genetische Medizin, Universität Bonn
„Diese groß angelegte internationale Studie erlaubt zum ersten Mal einen Einblick in die molekulargenetischen Ursachen homosexuellen Verhaltens. Die in der Vergangenheit zu diesem Thema veröffentlichten Studien basierten auf viel zu kleinen Datensätzen und erlaubten keine verlässlichen Aussagen. Mit der jetzigen Studie wird die Methode der genomweiten Assoziationsuntersuchung (GWAS) auf Datensätze von vielen tausend Proband*innen angewendet. Die Probanden haben als Teil der umfangreichen Untersuchung auch Fragen zu sexuellen Erfahrungen beantwortet, zum Beispiel im Rahmen der UK Biobank Studie. Die Ergebnisse der Studie können als ein Meilenstein der Erforschung biologischer Ursachen homosexuellen Verhaltens angesehen werden, auch wenn man erst am Anfang eines umfassenden Verständnisses steht. Eine wesentliche Limitation der Studie ist die relativ oberflächliche Erfassung der überaus komplexen Verhaltensdimension sexueller Orientierung. Diese Limitation wird von den Autoren der Studie diskutiert, der Fokus der Studie lag auf den großen Stichproben, da nur mit diesen bei einer genomweiten Betrachtung des genetischen Beitrags belastbare Ergebnisse erzielt werden können.“
„In der Studie konnte zunächst bestätigt werden – was auch schon aus Zwillingsstudien bekannt war – dass die Erblichkeit homosexuellen Verhaltens im Durchschnitt etwa 30 Prozent beträgt. Wichtig ist dabei, dass diesem Wert eine durchschnittliche Betrachtung über viele tausend Proband*innen zugrunde liegt, bei einer spezifischen Person mag der Beitrag auch größer oder kleiner sein. Durch die jetzt erfolgte Untersuchung der häufigen genetischen Varianten im menschlichen Genom kann man etwa die Hälfte des genetischen Beitrags erklären. Eine Voraussage homosexuellen Verhaltens ist nicht möglich, letztlich sind nicht-genetische Faktoren ja auch für den größeren Anteil verantwortlich.“
„Es konnte mit der Studie erstmals gezeigt werden, dass offensichtlich eine große Zahl von Genen eine Rolle spielt und sich damit homosexuelles Verhalten nicht von anderen Verhaltensmerkmalen, wie zum Beispiel Dimensionen der Persönlichkeit, unterscheidet. Interessanterweise sind die genetischen Faktoren, die zu männlicher und weiblicher Homosexualität beitragen, nur teilweise überlappend, an dieser Stelle gibt es wohl jeweils auch geschlechtsspezifische biologische Mechanismen.“
„Fünf Regionen im Genom konnten mit großer Sicherheit als beitragend identifiziert werden, bei zweien dieser Regionen hat man schon eine Idee über die biologischen Effekte. In einer Region sind Gene, die für das Riechen verantwortlich sind, lokalisiert, in der anderen Region, die auch ein erhöhtes Risiko für männlichen Haarausfall bewirkt, wird ein Zusammenhang mit dem Stoffwechsel von Geschlechtshormonen vermutet.“
„Die Autoren vermitteln den Inhalt der Studie auch in einer eigens erstellten Website. Die Inhalte werden dort für Laien verständlich dargestellt und auch ethische Fragen angesprochen. Offensichtlich haben sich die Autoren auch im Vorfeld der Veröffentlichung sehr ernsthaft mit LGBT-Gruppen (Abkürzung für sexuelle Orientierungen: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender; Anm. d. Red.) über die Vermittlung der Ergebnisse beraten – das ist sicher ein vorbildliches Vorgehen.“
Kommunikationsforscher, Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ), Jülich, und Editor der Fachzeitschrift „Public Understanding of Science“
„Die Erstellung einer für die interessierte Öffentlichkeit verständlichen Website begleitend zur Publikation der vermutlich sehr öffentlichkeitswirksamen Studie über die genetischen Ursachen nicht heterosexueller Orientierungen und Verhaltensweisen in ‚Science‘ halte ich für eine ziemlich gute Idee und Bereicherung der Wissenschaftskommunikation. Erstens gibt es einen Link, auf den Journalisten und Autoren von Beiträgen in Sozialen Medien interessierte Leser für weiterführende Informationen verweisen können. Zweitens erklären die Autoren der Studie auf der Website nicht nur sehr allgemeinverständlich Methodik und Ergebnisse der Studie, sondern stellen auch ihre eigene Interpretation der Ergebnisse und die Implikationen für die gesellschaftlichen Konflikte um nicht heterosexuelle Orientierungen dar.“
„Die Autoren sind sich im Klaren darüber, dass die Studie ein in vielen Ländern sensitives Thema berührt und sie als Wissenschaftler daher Gefahr laufen, zugunsten der einen oder anderen Position instrumentalisiert zu werden. Indem sie ihre Position leicht zugänglich klipp und klar darstellen, wird die Gefahr, dass ihnen Meinungen und Schlussfolgerungen in den Mund gelegt werden, reduziert. Und in den Sozialen Medien dürfte durch die einfache Verlinkung zur Website ihre eigene Stimme an Gewicht gewinnen.“
„Die allgemeinverständliche Darstellung einer Studie durch die Wissenschaftler selbst kann und soll selbstverständlich nicht die kritische Auseinandersetzung mit der Studie und ihre Verknüpfung mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verhindern. Insofern ist die populäre Darstellung durch Wissenschaftler kein Ersatz für Journalismus oder andere Formen gesellschaftlicher Kommunikation. Aber sie trägt zur Differenzierung bei: Was folgern die Forscher selbst aus den Ergebnissen ihrer Studie, und was sagen andere über die Studie?“
Wissenschaftssoziologin und Research Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI)
„Die Webseite zur GWAS-Studie zu nicht-heterosexuellem Verhalten ist ein außerordentliches Beispiel für Wissenschaftskommunikation, um die erzielten fachwissenschaftlichen Ergebnisse aus der Wissenschaft heraus für ein breiteres Publikum zu erläutern. Die Webseite kontextualisiert die Entstehungsbedingungen der in der Spitzenzeitschrift ‚Science‘ veröffentlichten Studie, gibt Auskunft über die Autor*innen, fasst die Kernergebnisse so allgemeinverständlich wie möglich zusammen und macht selbst die blinden Flecke transparent. Dies geschieht zum einen über ein Erklärvideo, zum anderen über einen gut strukturierten Text für weiteren Informationsbedarf, beides unterstützt von ‚Sense of Science‘ (campaigning charity, UK). Damit gelingt dem Autor*innen-Team, allzu reißerischen Darstellungen beziehungsweise medialen Vereinnahmungen vorzubeugen, in dem im Material wie in der Studie klar zum Ausdruck gebracht wird, dass es nicht ein einziges Gen für sexuelle Orientierungen gibt (‚Schwulen-Gen‘ oder ähnliches), sondern die Zusammenhänge sehr viel komplexer sind. Insofern vermittelt die Webseite einen guten Eindruck darüber, wie Wissenschaft funktioniert.“
„So wünschenswert solch informativen Darstellungen zu aktueller Forschung auch sind, so kann eine begleitende Webseite sicher nicht zur regulären Leitlinie für jede wissenschaftliche Veröffentlichung werden. Zum einen müssen für einen solchen Auftritt auch die nötigen personellen und finanziellen Ressourcen vorhanden sein. Zum anderen stößt nicht jedes Thema auf außerwissenschaftliches Interesse. Insbesondere aber wenn (politisierbare) Studien in wissenschaftlichen Zeitschriften, wie hier, hinter der Bezahlschranke und eben nicht Open Access veröffentlicht sind, leistet solch eine öffentlich zugängliche Webseite eine wichtige Informationsquelle für alle. Um als Best-Practice-Beispiel gelten zu können, fehlt auf der GWAS-Webseite jedoch noch eine wichtige Komponente: Die Webseite folgt dem (eigentlich längst überholten) linearen Modell der Wissenschaftskommunikation, Wissenschaft spricht zur Gesellschaft. Zwar sind die Kontaktdaten der Autor*innen angegeben (samt Twitter-Profile), aber es wäre wünschenswert, wenn für einen Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit auch interaktive Elemente in die Webseite integriert wären. Rückmeldungen der Leser*innen und sich betroffen fühlender Personen fänden dann einen Raum – beispielsweise in einem moderierten Diskussionsforum –, sodass somit nicht nur die öffentliche Resonanz auf Wissenschaft befördert, sondern eventuell auch die Forschung weiter befruchtet werden könnte. Statt reine Informationsvermittlung (Kommunikationsaspekt) stünde dann vielmehr die Aneignung und Kritik (Wissensaspekt) im Vordergrund einer zukunftsweisenden Form der Wissenschaftskommunikation – analog zur Idee von Citizen Science (Wissenschaft unter Beteiligung von Laien; Anm. d. Red.). Ein instruktives Beispiel dazu liefert die Analyse von Straub zum astrophysikalischen Projekt Galaxy Zoo [1].“
: „Keine.“
: „Keine.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Ganna A et al. (2019): Large-scale GWAS reveals insights into the genetic architecture of same-sex sexual behavior. Nature; 365, eaat7693. DOI: 10.1126/science.aat7693.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Straub, MCP (2016): Giving Citizen Scientists a Chance: A Study of Volunteer-led Scientific Discovery. Citizen Science: Theory and Practice; 1 (1): 5. DOI: 10.5334/cstp.40.
Dr. Jan Korbel
Forschungsgruppenleiter und Senior Scientist, Genome Biology Unit, European Molecular Biology Laboratory (EMBL), Heidelberg
Prof. Dr. Markus Nöthen
Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn, und Professor für Genetische Medizin, Universität Bonn
Prof. Dr. Hans Peter Peters
Kommunikationsforscher, Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ), Jülich, und Editor der Fachzeitschrift „Public Understanding of Science“
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
: „Keine.“
Dr. Martina Franzen
Wissenschaftssoziologin und Research Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI)
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
: „Keine.“