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27.07.2021

Welche Inzidenz können wir uns zukünftig erlauben? Ausblick auf die nahende COVID-19-Welle

Auch wenn die Gesamtinzidenz für Deutschland noch relativ niedrig liegt, sind hierzulande wieder exponentielle Wachstumsraten von rund 50 Prozent pro Woche erreicht. Schreibt sich das fort, müssten wir im September mit einer bundesweiten Inzidenz von 700 rechnen [siehe Corona-Report des SMC der vergangenen Woche I]. Vor allem jüngere Personen im Alter von 15 bis 29 Jahren infizieren sich derzeit mit SARS-CoV-2, allerdings steigen auch die Fallzahlen in den oberen Altersklassen. Eine Inzidenz von 15 entspricht aber aufgrund der gestiegenen Impfquote nicht mehr einer Inzidenz von 15 vorheriger Wellen. Zusätzlich zur Inzidenz soll deshalb nun auch – wie schon länger von Forschenden diskutiert [II] – die COVID-19-Situation in den Krankenhäusern als Indikator helfen, das aktuelle Infektionsgeschehen abzuschätzen [III].

Aber welche Grenzen sollen zukünftig gelten, um dem Virus durch zusätzliche Maßnahmen Einhalt zu gebieten, falls das Gesundheitssystem zu überlasten droht? 200 sei die neue 50, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vergangene Woche. In seine Beratung zu dieser Einschätzung sind auch Modellierungen zur Situation auf den Intensivstationen unter verschiedenen Bedingungen eingeflossen. Auf diese ist der zuständige Wissenschaftler Andreas Schuppert im Press Briefing weiter eingegangen. Außerdem hat das Robert Koch-Institut eine eigene Modellierung veröffentlicht [IV], um die sich aufbauende Welle und ihre Effekte abzuschätzen.

Steigt die Inzidenz ohne Maßnahmen jetzt ungebremst oder gibt es durch die aktuelle Impfquote schon eine natürliche, regionale Verlangsamung des Wachstums? Solche Effekte könnte man aus den Zahlen des Vereinigten Königreichs ableiten, das in den vergangenen Wochen als eine Art Glaskugel für die hiesige Situation gedient hat. In einigen Regionen, in denen die Infektionszahlen – durch die Delta-Variante und Lockerungen getrieben – früh angezogen haben, lässt sich erzeit erkennen, dass sich das Wachstum abschwächt und sich die Inzidenz auf einem Niveau einzupendeln scheint.

Gibt es weitere Länder, von denen wir lernen können? Versorgungsforscherinnen und -forscher haben sich aktuell die Zahlen zu Infektionsgeschehen, Hospitalisierungen und Sterblichkeit in weiteren europäischen Staaten angeschaut. Ihre Schlüsse hat Gesundheitssystemforscher Reinhard Busse im Press Briefing präsentiert.

Diese Fragen – und Ihre – beantworteten drei Experten in einem 50-minütigen virtuellen Press Briefing.

Experten auf dem Podium

     

  • Prof. Dr. Christian Althaus
    Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie, Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern, Schweiz
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  • Prof. Dr. Reinhard Busse
    Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, TU Berlin, und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies, Mitglied des Fachbeirates des Bundesgesundheitsministeriums
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  • Prof. Dr. Andreas Schuppert
    Arbeitsgruppenleiter am Institute for Computational Biomedicine und Direktor des Joint Research Center for Computational Biomedicine, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), Aachen
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Abschluss-Statements aus dem Press Briefing

Das SMC hat die Experten am Ende des Press Briefings um kurze Zusammenfassungen gebeten, die wir Ihnen nachfolgend als Statements zur Verfügung stellen möchten.

Prof. Dr. Andreas Schuppert

Arbeitsgruppenleiter am Institute for Computational Biomedicine und Direktor des Joint Research Center for Computational Biomedicine, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), Aachen

„Wir haben natürlich aus den vergangenen Wellen gelernt. Allerdings, wie Herr Busse ja schon gesagt hat, unsere Datenlage ist immer noch bei Weitem nicht so, wie sie eigentlich sein sollte. Wir wären klug beraten, die Sommermonate jetzt zu nutzen, in denen ich auch nicht mit großen Anstiegen rechne, um uns für den Herbst vorzubereiten und wirklich belastbare Daten kontinuierlich zu erfassen. So können wir dann auch rechtzeitig Maßnahmen ergreifen beziehungsweise warnen. Das wäre ein großer Wunsch.“

Prof. Dr. Reinhard Busse

Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, TU Berlin, und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies, Mitglied des Fachbeirates des Bundesgesundheitsministeriums

„Ich mache mir um das Gesundheitssystem am wenigsten Sorge – Das wird viele überraschen. Aber ich war ja von Anfang an relativ entspannt und habe zum Beispiel gesagt, dass wir dieses extra COVID-Krankenhaus in der Messe gar nicht gebraucht hätten. Das Gesundheitssystem ist glaube ich nicht der Punkt, sondern wir müssen uns wirklich überlegen – da sind unsere Daten noch zu schwach –, ob Richtung Long COVID auch hinsichtlich der Kinder, noch etwas passiert. Deswegen ist selbstverständlich jede vermiedene Infektion jenseits der Belastung oder Nicht- Belastung des Gesundheitssystems wichtig. Ich habe zwar keine schulpflichtigen Kinder, aber mache mir schon Sorgen. Also hier im Nordosten beginnt jetzt schon wieder die Schule und ich zumindest habe nicht mitbekommen, dass in den Schulen fieberhaft Lüftungsanlagen und so weiter eingebaut worden sind. Als Bürger denke ich, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass wir wieder den Sommer wie vergangenes Jahr ein bisschen verschlafen.“

Prof. Dr. Christian Althaus

Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie, Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern, Schweiz

„In meinen Augen ist es sehr wichtig, dass man jetzt die Diskussion führt, die man eben im vergangenen Sommer nicht geführt hat, weil man dachte, das Problem sei bereits gelöst. Auch heute gibt es wieder diese Stimmen und man muss schon damit rechnen, dass es in den meisten oder in allen europäischen Ländern auch in diesem Winter nochmal zu einer starken Belastung kommen wird und zu einer relativ hohen Anzahl Todesfälle. Das wird machbar sein mit relativ milden Maßnahmen, aber man muss sich sehr gut überlegen, was man zu welchem Zeitpunkt machen möchte, um einerseits die Gesundheit und das Spitalwesen zu schützen, aber auch die gesellschaftlichen Freiheiten, dass man den Unterricht der Kinder sicher garantieren kann, ohne dass das Virus gerade extrem schnell durch die Schulen rast. Diese Diskussion muss man jetzt führen und dann bin ich eigentlich zuversichtlich, dass man dieses Jahr viel besser vorbereitet in den Herbst gehen kann.“

Video-Mitschnitt & Transkript

Ein Transkript finden Sie hier.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] SMC Corona Report (22.07.2021): Die aktuelle Lage.

[II] Science Media Center (20.04.2021): Aktuelle Belastung des Gesundheitssystems und künftige Beurteilung der Situation durch neue Indikatoren. Press Briefing. Stand: 20.04.2021.

[III] Science Media Centern (13.07.2021): Neuer Richtwert für das Pandemiegeschehen. Rapid Reaction. Stand: 13.07.2021.

[IV] Robert Koch-Institut (22.07.2021): Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22.