Zuwachs an jungen SARS-CoV-2-Infizierten und Tests unter Reiserückkehrern
Unter den auf SARS-CoV-2 positiv Getesteten befinden sich zunehmend junge Menschen. Ihr Anteil an den Gesamtinfektionen steigt seit zwei Wochen stärker als der höherer Altersgruppen. Der Situationsbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) vom 18. August 2020 zeigt diese Entwicklung erstmals klar in neuen Grafiken und Auswertungen (siehe Primärquelle), wie auch eigene Auswertungen des SMC deutlich machen [I]. Schon vor einigen Wochen gab es vermehrt Schlagzeilen in deutschen und internationalen Medien, dass nun vor allem Jüngere von COVID-19 betroffen seien; allerdings sieht man erst seit Kalenderwoche 32 – aktuell läuft die 34. – einen echten Anstieg bei den 10- bis 30-Jährigen in Relation zu höheren Altersgruppen. Das RKI weist im Zuge der Dynamik unter den jüngeren Kindern vor allem auf Familienurlaube hin, bei 20 bis 25-Jährigen auf Vergnügungsurlaube.
Der Hinweis auf die verschiedenen Urlaube als mögliche Erklärung für die Dynamik geht im Situationsbericht einher mit einem wachsenden Anteil an positiven Tests mit einem wahrscheinlichen Infektionsort im Ausland, deren Anteil das RKI mit 39 Prozent beziffert. Diese hängen wahrscheinlich vor allem mit den PCR-Tests an Flughäfen und Landesgrenzen unter Reiserückkehrern zusammen. Einen starken Zuwachs der Testzahlen in den vergangenen zwei Wochen zeigt sich auch im Situationsbericht vom 19. August eindrücklich mit über 875.000 Tests in der vergangenen Kalenderwoche [II].
Wir haben Expertinnen und Experten befragt, wie sie die Dynamik in den jüngeren Altersgruppen erklären und was das für die weitere Ausbreitung von SARS-CoV-2 bedeutet.
Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden
„Die aktuelle Dynamik ist klar ersichtlich: Die Infektionszahlen nehmen jeden Tag zu und wir sind derzeit wieder auf einem Stand von Mai. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Teststrategie heute eine andere ist, wir testen beispielsweise im größeren Stil auch Reiserückkehrer aus den Sommerferien. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir in den aktuellen Ergebnissen mehr Infektionen bei jungen Erwachsenen aber auch Kindern registrieren. Diese werden jetzt systematisch getestet, wenn sie gerade aus dem Familienurlaub aus Risikogebieten zurückkommen. Diese Gruppe gab es so im Mai nicht, sie ist nicht getestet worden und tauchte daher auch nicht in den Daten auf. Daher ist die aktuelle Entwicklung auch nicht gleichzusetzen mit der Aussage, dass die jungen Altersgruppen nun doch ein höheres Risiko hätten zu erkranken als die älteren. Das hängt einfach von sehr vielen äußeren Faktoren, wie der Teststrategie, aber auch von dem Testumfeld ab. Beispielsweise ist der Anteil der Kinder an den positiven Tests in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern insgesamt immer noch sehr gering, was beispielsweise auch mit traditionell anderen Urlaubszielen im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen oder Bayern zusammenhängen kann. Ich glaube die Schulöffnung in einzelnen Bundesländer wie NRW, Berlin, Hamburg oder auch Hessen spielen bei dem aktuellen Anstieg der Fälle in den jüngeren Altersgruppen keine große Rolle und sollte daher auch nicht überschätzt werden.“
„Die Zunahme der positiven Tests unter den Jungen hängt damit aus meiner Sicht – und da stimme ich sehr mit der Einschätzung des RKI überein – hauptsächlich mit den Tests der Reiserückkehrern zusammen. Wie bereits das RKI beobachtet hat und wie es auch andere Länder erfasst haben, spielen außerdem Feiern im privaten und öffentlichen Umfeld eine große Rolle bei der Weiterverbreitung. Wenn sich viele Menschen unbesorgt treffen und ungeschützt austauschen, dann kann da immer auch jemand dabei sein, der ohne wesentliche Symptome infiziert ist. Ich glaube, man muss sich davor hüten zu glauben, nur weil die Sonne scheint wäre jetzt alles ganz entspannt, und es gäbe kein Ansteckungsrisiko.“
„Ich halte es für absolut sinnvoll die Reiserückkehrer aus Risikogebieten, bei denen wir annehmen, dass sie ein Risiko für den Eintrag der Infektion auch in andere Bevölkerungsgruppen darstellen, großzügig zu testen, auch wenn man damit natürlich eine ungewöhnliche oder eine bisher nicht beobachtete Verteilung der prozentualen Häufigkeiten erhält. Meiner Meinung nach sollte man auch überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre bei diesen Menschen systematisch einen zweiten Test durchzuführen. Nur weil ein Test am Flughafen negativ ausgefallen ist, heißt es nicht, dass dieser in drei, vier Tagen nicht trotzdem positiv ausfallen könnte. Dieses negative Testergebnis ist kein Freibrief.“
„Das Bild darüber, inwiefern Kinder durch eine SARS-CoV-2-Infektion gefährdet sind und insbesondere inwiefern sie auch relevant zur Übertragung des Virus beitragen, fügt sich mit jeder Studie wie bei einem riesigen Puzzle nach und nach zusammen. Und das Puzzle ist noch lange nicht fertig. Hier in Dresden und in Sachsen beobachten wir ganz niedrige Infektionszahlen bei Kindern in Schulen und Kindergärten. Wenn wir in Sachsen eine Studie machen, dann bin ich fest davon überzeugt, dass das für unsere Region mit einer wirklich im Grunde extrem niedrigen Inzidenz von Fallzahlen relevante und aussagekräftige Ergebnisse liefert. Diese können dann in unserer Region oder einer anderen Region mit gleichermaßen niedrigen Fallzahlen für die Schulpolitik hilfreich sein. Allerdings können diese Studienergebnisse selbstverständlich nicht einfach so übertragen werden auf eine Situation irgendwo in Nordrhein-Westfalen oder Bayern, wo es möglicherweise gerade 100 oder 150 Neuerkrankungen pro Einhunderttausend Einwohner pro Tag gibt.“
„Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die Kinder keine extrem große Rolle in der Verbreitung des Virus spielen. Aber bei mutmaßlich insgesamt stark steigenden Fallzahlen im Herbst, werden wir auch Infektionen in Schulen und Kindergärten und Kindertagesstätten haben. Da muss sehr genau überlegt werden, wie wir damit umgehen. Eine wesentliche Herausforderung wird dabei sein, sinnvolle Konzepte zu entwickeln, um großräumige Schul- oder Kita-Schließungen zu verhindern.“
„Die enorme Herausforderung im Herbst wird sein: Wie unterscheidet man die große Zahl von Kindern mit Infekten, die sie sonst auch immer im Herbst haben, von denen, die wirklich eine SARS-CoV-2-Infektion haben? Es wird keinen Kindergarten oder keine Grundschule geben, die ein Kind mit Symptomen einer Atemwegsinfektion einfach so zulassen werden. Man wird die Kinder entweder relativ großzügig zu Hause lassen müssen oder aber die Testkapazitäten erweitern und auch viele Kinder testen, nur um nachweisen zu können, dass es sich dabei nicht um eine SARS-CoV-2-Infektion handelt. Das wird die ohnehin in den Herbst- und Wintermonaten überbeanspruchten Kinderarztpraxen überfordern. Hier brauchen wir Konzepte, zum Beispiel für Corona-Ambulanzen, und wir brauchen zusätzliche Testkapazitäten, aber die werden wir tatsächlich brauchen, damit nicht das ganze System wieder zum Erliegen kommt.“
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg
„Die Fälle, die wir zu Beginn der Epidemie berichtet bekommen haben, repräsentierten nur die absolute Spitze des Eisbergs. Die Menschen mit starken Symptomen waren primär Ältere. Viele junge Patienten hingegen zeigten nur geringe oder auch keine Krankheitszeichen. Deshalb wurden sie anfangs oft übersehen, da nur getestet wurde, wer Symptome und direkten Kontakt zu einer Person mit nachgewiesener Infektion hatte. Zusätzlich wurden durch die Schulschließungen Kinder und Jugendliche geschützt. Daher ist es logisch, dass wir, wenn wir jetzt mehr und unabhängig von Symptomen testen, auch mehr Junge unter den Infizierten beobachten. Gleichzeitig mehren sich die Berichte über zunehmend verändertes Verhalten bezüglich der AHA-Regeln (Kampagne des Bundesministeriums für Gesundheit zur Eindämmung der Coronavirusverbreitung, AHA steht für Abstand, Hygiene, Alltagsmaske; Anm. d. Red.).“
„Zwei wichtige Punkte sind zu bedenken: Je weiter sich das Virus bei jungen Menschen verbreitet, desto stärker und diverser kann es sich in der Gesellschaft verbreiten. Junge Menschen haben in der Regel einerseits mehr soziale Kontakte, an die sie das Virus weitergeben können, als ältere. Andererseits bemerken sie eine Infektion angesichts ausbleibender Symptome häufig nicht und isolieren sich daher auch nicht. Stecken sich mehr Menschen an, steigt auch die Zahl der schweren Krankheitsverläufe. Je weniger Symptome Infizierte zeigen, desto weniger Überblick haben wir darüber, wer wirklich infiziert ist. Maßnahmen können dadurch weniger zielgerichtet eingesetzt werden, Einschätzungen der aktuellen Lage sind weniger realistisch.“
„Es ist davon auszugehen, dass die Infektionszahlen in den kommenden Tagen und Wochen vermutlich weiter ansteigen werden – und dass das durchschnittliche Alter der Infizierten weiter sinken wird. Faktoren hierfür sind unter anderem vermutlich Urlaubsreisen und die Öffnungen der Schulen. Dadurch werden künftig verstärkt auch junge Menschen betroffen sein, die bisher intensiv geschützt und aus dem Infektionsgeschehen herausgehalten worden sind. Sie werden jetzt vermehrt exponiert. Der Altersdurchschnitt wird dadurch noch deutlich nach unten gehen.“
„Da der Schulunterricht für Kinder jedoch sehr wichtig ist, sollte unser Hauptaugenmerk auf einer sicheren Gestaltung dessen liegen. An dieser Stelle könnte der Einsatz von regelmäßigen Tests gesellschaftlich sinnvoller sein als zum Ermöglichen von Fußballspielen vor Publikum.“
Leiter des Bereichs Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg
„Der Anstieg in der Altersgruppe unter 20 Jahren beziehungsweise die Verschiebung des Altersdurchschnitts ist bedenklich, besonders in Hinsicht auf den bevorstehenden Beginn des Schuljahrs und des Semesters. Falls die Übertragung in dieser Altersgruppe stattfindet, muss man unpopuläre Maßnahmen ergreifen, die zur Einhaltung von mehr ‚sozialer Distanz‘ führen.“
„Familienurlaube als einzige Erklärung reichen für den Trend als Erklärung nicht aus, Infektionen werden auch in den Peer Groups weitergegeben. Im Hinblick auf das Schuljahr ist das keine gute Entwicklung.“
Auf die Frage, inwiefern die aktuelle Dynamik mit vermehrten Tests unter Reiserückkehrern erklärbar ist:
„Das Testen von Kontaktpersonen und Reiserückkehrern findet selbstverständlich vermehrt eben dort Infektionen, aber diese kommen offensichtlich auch häufiger vor als in der gesamten Bevölkerung. Die Fallzahlen werden nach dem Ende der Urlaubszeit nur fallen, wenn sich das Verhalten ändert.“
Auf die Frage, welche Risikoumgebungen sich derzeit herauskristallisieren, in denen gehäuft Ansteckungen stattfinden:
„Selbstverständlich bei Reiserückkehrern, zusätzlich bei privaten Feiern – häufig entstehen kleinere Cluster aus einer Kombination dieser beiden Faktoren.“
„Ich habe keine ‚conflicts of interest‘.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Robert Koch-Institut (2020): Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19). Stand: 18.08.2020.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Science Media Center (2020): SMC Corona Tagesreport. Stand 19.08.2020.
[II] Robert Koch-Institut (2020): Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19). V.a. Tabelle 5, Seite 12. Stand: 19.08.2020.
Prof. Dr. Reinhard Berner
Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden
Prof. Dr. Ralf Reintjes
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg
Prof. Dr. Bernd Salzberger
Leiter des Bereichs Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg