Welche Folgen hätte eine Flexibilisierung der CO2-Flottengrenzwerte für Pkw?
Europäische Kommission will CO2-Flottengrenzwerte für Pkw einmalig entschärfen
EU-Parlament stimmt am Donnerstag über den Verordnungsentwurf ab
Forscher: Einmalige Entschärfung dürfte spürbar mehr CO2-Emission verursachen und birgt Gefahr von weiteren Entschärfungen in der Zukunft
In den kommenden drei Jahren sollen Autohersteller den CO2-Flottengrenzwert für neue Fahrzeuge nicht jedes Jahr einhalten müssen, sondern lediglich einen Durchschnittswert für alle drei Jahre zusammen. Über einen entsprechenden Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission [I] wird das EU-Parlament am 08.05.2025 abstimmen [II]. Als Begründung gibt die Kommission an, mit diesem Entwurf Autoherstellern hohe Strafzahlungen wegen möglicher Überschreitung der CO2-Flottengrenzwerte im Jahr 2025 angesichts der schwierigen Wirtschaftslage zu ersparen. Vom Klimaziel rücke die Kommission dabei nicht ab, da die Hersteller, die 2025 ihren Flottengrenzwert nicht einhalten, bis 2027 mehr CO2 als geplant einsparen müssen, um den Durchschnitt für alle drei Jahre einzuhalten und die Strafzahlungen zu vermeiden.
Professor für Tourismus, School of Business and Economics, Linnaeus University, Kalmar, Schweden
„Der Verkehr ist aus Klimasicht der problematischste Sektor, weil es bislang nicht gelungen ist, Emissionen zu mindern. In Deutschland ist aus diesem Grund schon die Gesetzgebung zu Gunsten des Verkehrs verändert worden, die eigentlich allen Wirtschaftssektoren gleiche Emissionsminderungsziele vorschrieb. Ebenfalls wurde das europäische Ziel gekippt, Verbrennungsmotoren ab 2035 bei Neuzulassungen zu verbieten und mit dem Schlupfloch ‚CO2-freier Treibstoffe‘ ersetzt. Vor diesem Hintergrund bedeutet eine Änderung der Flottengrenzwerte für Pkw eine weitere Verwässerung der Emissionsminderungsziele im Verkehr. Da sich damit die europäische Flotte weiter in die falsche Richtung entwickelt – mehr Masse, mehr Volumen, höhere Motorisierung –, wird es unwahrscheinlicher, Klimaziele zu erreichen, vor allem auch, weil Hersteller keine klaren Entwicklungsvorgaben haben. Ich halte ein Szenario für wahrscheinlich, in der zum Ende der dreijährigen Periode plötzlich sehr dramatische Änderungen eintreten müssen und die Gesetzgebung dann aufgrund von Protesten in der Bevölkerung ausgesetzt wird.“
Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin
„Aus meiner Sicht ist der Hintergrund dieser Reform eindeutig und klar: Die europäische Politik wird auch weiterhin von der deutschen Autoindustrie bestimmt. Diese wird auch in den nächsten Jahren ihre Verbrennungsmotorenfahrzeuge weiter bauen und verkaufen wollen. Die deutschen Hersteller entwickeln ihr Profil mehr und mehr in Richtung Luxuskarossen mit aufwendigen Benzin- und Dieselmotoren, die vorwiegend für kleine internationale Nischenmärkte vorwiegend im arabischen Raum gedacht sind. Dafür ist wichtig, zumindest vorübergehend noch einen heimischen Referenzmarkt zu erhalten.“
„Die für die EU ursprünglich ab 2025 geltenden Grenzwerte können mit den bestehenden Filtertechniken nicht eingehalten werden. Die Einhaltung der Klimaziele und der Fortbestand der Verbrennungsmotorenfahrzeuge sind nicht kompatibel. Der taktische Kniff der EU-Kommission ist nun folgender: Wir bleiben bei der strengen Norm, rechnen aber erst am Schluss ab. Faktisch gibt man den Herstellern drei weitere Jahre Zeit.“
„Es ist anzunehmen, dass die Kommission dann 2027 die Ziele offiziell noch weiter verschieben wird, so dass – gerechnet ab heute – die Autobauer nochmals mindestens fünf Jahre Zeit haben, ihre Diesel- und Benzinmotoren weiter auch in Europa zu verkaufen. Diese Entscheidung ist auch industriepolitisch eine Katastrophe. Damit wird die Umstellung auf batterieelektrische Antriebe verzögert, die Trägheit der Fahrzeughersteller weiter unterstützt und wichtige Exportmärkte wie der in China und Nordamerika drohen komplett verloren zu gehen. Dies wird weitere Arbeitsplätze kosten.“
Leiter des Geschäftsfelds Energiewirtschaft, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
„Die CO₂-Flottengrenzwerte sind ein zentrales Instrument der EU zur Minderung der Emissionen im Straßenverkehr. Sie haben ein Angebot günstiger emissionsarmer Fahrzeuge geschaffen, insbesondere batterieelektrischer Pkw. Ohne die Flottengrenzwerte wäre der Marktanteil von E-Fahrzeugen heute deutlich niedriger. Für das Erreichen der Klimaziele im Verkehr sind die Flottengrenzwerte unverzichtbar, da sie verbindlich und technologieoffen sind und die Hersteller verpflichten, ein Angebot an attraktiven emissionsarmen Pkw bereitzustellen. Das ersetzt aber nicht den Bedarf an ergänzenden Maßnahmen wie Infrastruktur, Förderung und CO₂-Preise.“
Folgen einer einmaligen Flexibilisierung der CO2-Flottengrenzwerte
„Der Vorschlag der Mittelung über mehrere Jahre ist schlicht eine Aufweichung und Verschiebung des Ziels nach hinten und führt zu höheren Emissionen in den Neuzulassungen in Europa. Bei einer Mittelung über drei Jahre – von 2025 bis 2027 – wären die Emissionen der Neuwagenflotte um circa fünf bis sieben Gramm CO2 pro Kilometer höher als ohne diese Aufweichung und die Anteile der Elektrofahrzeuge an den Neuzulassungen vier bis sieben Prozentpunkte geringer [1].“
„Strafzahlungen der Hersteller aufgrund von Zielverfehlungen sind damit weniger wahrscheinlich. Allerdings hatten die Hersteller viele Jahre Zeit sich auf das Ziel im Jahr 2025 vorzubereiten und einige haben die Ziele bereits vorzeitig erzielt. In Deutschland würde das Aufweichen zu circa 0,3 bis 0,5 Megatonnen mehr Emissionen im Verkehr im Jahr 2025 und noch mehr in den Folgejahren bedeuten (eigene Schätzung auf Basis von [1]).“
„Politisch würde ein derartiges Entgegenkommen außerdem die Verlässlichkeit der Regulierung deutlich schwächen und das Vertrauen von Industrie und Investoren in langfristig stabile Rahmenbedingungen untergraben [2] und kann zu wiederholten Versuchen der Zielaufweichung in der Zukunft führen.“
Wie Klimaziele im Verkehrssektor überhaupt noch erreicht werden können
„Die Klimaziele im Verkehr für Deutschland können nur durch einen starken Mix mehrerer ehrgeiziger Klimaschutzmaßnahmen erreicht werden. Dies erfordert eine kohärente Mischung aus Ordnungsrecht wie dem Tempolimit, Infrastruktur- und Investitionsanreizen sowie Preissignalen und den Umbau klimaschädlicher Subventionen. Einzelne Maßnahmen reichen nicht mehr, nur eine starke und schnell umgesetzte Mischung ehrgeiziger Maßnahmen kann eine Erreichung der gesetzlichen Klimaschutzziele noch ermöglichen. Planungssicherheit, klare politische Kommunikation und Konsistenz der Politikmaßnahmen tragen weiterhin dazu bei, die Transformation effizient umzusetzen.“
Leiter der Arbeitsgruppe Städte: Datenwissenschaft und Nachhaltige Planung, Forschungsabteilung Klimaökonomie und Politik - MCC Berlin, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Berlin
„Der CO2-Flottengrenzwert ist das wichtigste Instrument des Klimaschutzes im Verkehrsbereich und erweist sich als effektiv. Das zeigt sich vor allem darin, dass Autohersteller Elektroautos vermehrt und verbilligt anbieten, um die Flottengrenzwerte zu erreichen.“
„Die Flexibilisierung bedeutet einen Mehrausstoß von circa fünf Gramm pro Kilometer mehr CO2 bei Neufahrzeugen, circa 30 Megatonnen CO2-Emissionen zusätzlich bis 2030 und etwa 5 Milliarden Euro an zusätzlichen Ölimporten aus zum Beispiel SaudiArabien, indirekt auch aus Russland und so weiter.“
„Ein Beibehalten der Grenzwerte für 2030 und des Phase-Out von fossil betriebenen Fahrzeugen im Jahr 2035 ist das zentrale Mittel für den Klimaschutz im Verkehrsbereich. Der Expertenbeirat Klimaschutz in der Mobilität schlägt darüber hinaus vor, einen Umweltbonus bei Neukauf für Elektrofahrzeuge mit einer CO2-Abgabe bei Neukauf von fossilen Fahrzeugen zu verbinden [3].“
„Es liegen keine Interessenkonflikte vor.“
„Ich war bis gestern (06.05.2025) Mitglied im Expertenbeirat Klimaschutz in der Mobilität des Verkehrsministers Volker Wissing und ich bin Mitglied des Nachhaltigkeitbeirats von Mercedes.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Weiterführende Recherchequellen
Europäischer Rat (2023): „Fit für 55“: Warum verschärft die EU die CO₂-Emissionsnormen für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge? Erklärtexte, Pressemitteilungen und Links zu weiteren Verordnungen.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] ICCT (2025): Public comments on the European Commission proposal to introduce a 3-year “averaging” provision for the CO2 standards regulation for new cars and vans. Kommentar des International Concil on Clean Transportation zum Verordnungsentwurf der EU-Kommission.
[2] Rogge KS et al. (2025): Mit Verbrennerausstieg in die Zukunft: Empfehlungen zur Stärkung der europäischen Automobilindustrie. Policy Brief erstellt im Rahmen des EU-Forschungsprojekts EMPOCI.
[3] Expertenbeirat Klimaschutz in der Mobilität EKM (2023): Den Hochlauf der Elektromobilität stärken: Instrumente zur Erreichung des 15-Millionen-Ziels. Policy Brief.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Europäische Kommission (01.04.2025): Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/631 zur Gewährung zusätzlicher Flexibilität bei der Berechnung der Einhaltung der CO2-Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen und neue leichte Nutzfahrzeuge durch die Hersteller für die Kalenderjahre 2025 bis 2027.
[II] Europäisches Parlament (2025): Tagesordnung für die Sitzung am 08.05.2025. Stand: 06.05.2025.
[III] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2020): Das System der CO2-Flottengrenzwerte für Pkw und leichter Nutzfahrzeuge. Stand 04.05.2020.
Prof. Dr. Stefan Gössling
Professor für Tourismus, School of Business and Economics, Linnaeus University, Kalmar, Schweden
Prof. Dr. Andreas Knie
Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin
Prof. Dr. Patrick Plötz
Leiter des Geschäftsfelds Energiewirtschaft, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es liegen keine Interessenkonflikte vor.“
Prof. Dr. Felix Creutzig
Leiter der Arbeitsgruppe Städte: Datenwissenschaft und Nachhaltige Planung, Forschungsabteilung Klimaökonomie und Politik - MCC Berlin, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Berlin
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich war bis gestern (06.05.2025) Mitglied im Expertenbeirat Klimaschutz in der Mobilität des Verkehrsministers Volker Wissing und ich bin Mitglied des Nachhaltigkeitbeirats von Mercedes.“