Vorschlag für erweiterte Definition und Diagnose von Übergewicht über den BMI hinaus
internationale Kommission schlägt Methode zur präziseren Definition von Übergewicht vor
Übergewicht wird bisher nur über den BMI bestimmt und diese Methode seit längerer Zeit kritisiert
unabhängige Forschende sind sich uneinig über Mehrwert in der Definitions- und Diagnose-Erweiterung für die Behandlung von adipösen Menschen
Eine internationale Kommission von Fachleuten stellt einen neuen Ansatz zur Definition und Diagnose von Übergewicht vor. Sie streben damit eine umfassendere und nuanciertere Betrachtung von Übergewicht über den bisher gängigen Body Mass Index (BMI) hinaus an. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachjournal „The Lancet Diabetes & Endocrinology“ (siehe Primärquelle).
Stellvertretender Standortdirektor, Deutsches Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ), Standort Ulm, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) Ulm, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie sowie des Endokrinologischen Forschungslabors, Universitätsklinikum Ulm und Koordinator der AWMF S3-Leitlinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes und Jugendalter“
Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission
„Bislang hatten wir Schwierigkeiten, Adipositas bei Kindern als Krankheit zu definieren. Es wurde vielfach behauptet, dass sich die Adipositas wieder verwächst, was allerdings wissenschaftlich falsch ist.“
„Mit diesem neuen Ansatz wird Adipositas bei Kindern und Jugendlichen nur dann als Krankheit definiert, wenn eine objektive Störung einer Organfunktion oder eine deutliche Einschränkung der Alltagsaktivitäten vorliegt. Dies wird helfen, zumindest für diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen, eine adäquate Therapie zu ermöglichen.“
„Dieser neue Ansatz der Definition ‚Klinische Adipositas‘ bei Kindern und Jugendlichen kann ein großer Meilenstein für eine bessere Versorgung der Betroffenen sein, wenn dieser in der Praxis umgesetzt wird.“
„Die AWMF S3-Leitlinie ‚Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter‘ wird aktuell überarbeitet [II]. Das Ziel ist es, diese neue Definition darin zu aufzunehmen.“
Relevanz für die Diagnose und klinische Studien
„Aktuell werden bereits klinische Studien durchgeführt, die Aspekte der neuen Definition für Klinische Adipositas beinhalten. Wir sind Studienzentrum für die Studie ‚Tirzepatid bei Jugendlichen mit Adipositas und gewichtsbedingten Komorbiditäten (SURMOUNT-ADOLESCENTS-2)‘ gesponsert durch das Pharmaunternehmen Eli Lilly and Company, in die wir nur Jugendliche rekrutieren können, die bereits Folgeerkrankungen und damit eine klinische Adipositas haben.“
„Zukünftig wird das Einschlusskriterium ‚Klinische Adipositas‘ zu bedeutsameren Ergebnissen führen, da nur Kinder und Jugendliche mit einer echten Krankheit eingeschlossen werden.“
„Ganz wichtig ist dabei, dass dadurch in Deutschland eine Kostenerstattung für Medikamente zur Adipositas-Therapie im Kindes- und Jugendalter durch die gesetzlichen Krankenkassen möglich werden wird. Dies ist bis heute aufgrund des ‚Lifestyle Paragraphen‘ (34 Abs. 1 Satz 7 SGB V) [1] nicht möglich.“
Leitung der pädiatrischen Adipositas- und Lipidambulanz, Klinik für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission
„Bei dem Papier handelt es sich nicht um ein klassisches Wissens-Papier, sondern um ein Konsensus-Statement einer internationalen Expert·innenkommission. Diese hinterfragt kritisch die Definition von Adipositas und erweitert den Krankheitsbegriff, indem sie die Auswirkung auf die unterschiedlichen Organsysteme und auf den gesamten Menschen in seinen Eigenschaften in Anlehnung der internationalen ICF-Kriterien (International Classification of Functioning, Disability and Health; Anm. d. Red.) gezielt in den Blick nimmt.“
„Wenn man ausschließlich auf den BMI schaut, dann haben auch Sportler·innen mit viel Muskelmasse einen hohen BMI. Auf der anderen Seite gibt es seit einigen Jahren schon den Begriff der ‚healthy obesity‘, also Menschen, die zwar übergewichtig aber noch nicht krank sind. Eine reine Definition von Adipositas über den BMI kann also sehr ungenau sein und Menschen mit einbeziehen, die nicht an Adipositas leiden. Andererseits können Menschen mit Übergewicht bereits krank sein, wenn ihr Fettgewebe beispielsweise Entzündungsstoffe freisetzt.“
„Die Kommission unterbreitet mit dem Papier Vorschläge für eine zusätzliche Messung, die auch in Hausarztpraxen möglich ist, um eine Adipositas besser bestimmen zu können. Beispielsweise kann der Bauchumfang gemessen werden. Daraus kann man die ‚waist-to-height-ratio‘ berechnen. Wenn das mehr als 0,5 beträgt, dann besteht der Hinweis auf vermehrtes Bauchfett.“
Relevanz der Stellungnahme für Leitlinien
„Die S3-Erwachsenenleitlinie zu Adipositas ist BMI-zentriert, weil zu dem Zeitpunkt der Erstellung noch weniger Evidenz vorlag und die Bewertung für S3-Leitlinien nach besonderen Kriterien erfolgt. Es ist aber möglich, dass die neuere Evidenz des Konsensus-Statement bei den kommenden Aktualisierungen in Betracht gezogen wird.“
„Dieses Papier hat aber insbesondere den Effekt, dass der Krankheitsbegriff für Adipositas genauer definiert und erweitert wurde. Dabei werden die Auswirkungen der Adipositas auf die unterschiedlichen Organsysteme betrachtet (wie zum Beispiel Leber, Skelettsystem), aber auch die Auswirkungen auf die Lebensumstände der Betroffenen, also Teilhabe oder Alltagsfunktionen. Außerdem wird eine ‚subklinische Adipositas‘ ohne Organbeteiligung oder Alltagseinschränkungen definiert, die nur beobachtet werden soll. Obwohl eine differenzierte Betrachtung – gerade bei Kindern und Jugendlichen – grundsätzlich wünschenswert ist, dürfen daraus keine Einschränkungen der Behandlungsindikation abgeleitet werden. Zwar ist Adipositas auch in Deutschland mittlerweile als chronische Erkrankung anerkannt, aber Medikamente zur Gewichtsabnahme werden immer noch nicht bezahlt, weil sie als Life-Style-Medikamente bewertet werden.“
Relevanz für die Durchführung klinischer Studien
„Auch auf die Durchführung klinischer Studien kann die Stellungnahme möglicherweise Einfluss haben. Wenn die Auswirkungen der Adipositas auf die unterschiedlichen Organsysteme und die Alltagsfunktionen noch mehr bereits bei den Einschluss-Kriterien berücksichtigt werden, kann das ein Schritt Richtung individualisierter Behandlung sein.“
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderendokrinologie und -diabetologie an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln, Private Universität Witten/Herdecke gGmbH
Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission
„Der Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission ist begrenzt. Es werden neue Begriffe eingeführt, die alte Begriffe wie ‚metabolic healthy obese‘ ersetzen. Der Mehrwert wäre nur dann gegeben, wenn weltweit nur diese Definition verwendet wird. Dies ist aber aus folgenden Gründen nicht zu erwarten:“
„Erstens: Die Bestimmung des BMIs (Gewicht und Körpergröße) ist exakt und gut reproduzierbar. Dies ist zum Beispiel für Bauchumfangsmessungen oder Körperfettmessungen nicht gegeben. Vergleichende Bauchumfangsmessungen durch verschiedene Untersucher geben unterschiedliche Ergebnisse (Auf welcher Höhe wird der Bauchumfangsmessungen exakt gemessen?). Körperfettbestimmung durch Bioimpedanzanalysen (Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) dient der Bestimmung der Körperzusammensetzung von Menschen und anderen Lebewesen; Anm. d. Red.) hängen vom Trinkverhalten und der Tageszeit ab, die exakte DEXA-Methode (Dual-Energy X-Ray Absorptiometry: medizintechnisches Verfahren zur Bestimmung der Knochendichte, Fett- und Muskelmasse; Anm. d. Red.) oder indirekte Kalorimetrie zur exakten Körperfettmessungen ist im Alltag viel zu aufwändig.“
„Zweitens: Im jetzigen Vorschlag fehlen viele Hinweise auf psychologische Komorbiditäten. So kann ein übergewichtiger fitter Mensch sehr durch Hänseleien, beispielsweise im Kindes- und Jugendalter, unter dem Übergewicht leiden. Nach der vorgeschlagenen Definition würde man aber keine Therapie bei ihm durchführen können, da er nicht ‚krank‘ ist.“
„Drittens: Die Kostenträger werden Behandlungsmaßnahmen für das Übergewicht nach der vorgeschlagenen Definition nur noch übernehmen, wenn eine Folgeerkrankung vorliegt. Es ist aber sicher effektiver, das Übergewicht zu behandeln, bevor Folgeerkrankungen auftreten, die teilweise irreversibel sind, wie zum Beispiel Koronare Herzkrankheit. Nach unserer und weltweiter Erfahrung sprechen übergewichtige oder nur gerade so adipöse Kinder und Jugendliche sehr viel besser auf eine Lebensstilintervention an als extrem adipöse Kinder und Jugendliche.“
„Viertens: Das Problem der Falschklassifikation eines trainierten Menschen, der aufgrund seiner Muskelmassen nach seinem BMI als ‚übergewichtig‘ bezeichnet werden würde, stellt sich im Alltag nicht. Diese Person wird sich kaum zwecks Diagnostik oder Therapie aufgrund seines Gewichts im Gesundheitssystem vorstellen. Die Diskussion über dem BMI ist somit größtenteils akademischer Natur.“
„Fünftens: Schon heute klassifiziert kein Therapeut in der Adipositas-Szene jemand nur aufgrund seines BMI als adipös. Die Körperfettverteilung wird immer mitberücksichtigt.“
Relevanz der Stellungnahme für Leitlinien
„Eine Überarbeitung ist nicht notwendig. Auch nach dieser Leitlinie erfolgt die Diagnostik und Therapie nicht nur nach dem BMI, sondern auch nach den Folgeerscheinungen der Adipositas. Man würde nur Begrifflichkeiten austauschen. Eine medikamentöse Therapie der Adipositas würde beispielsweise bei einem übergewichtigen Jugendlichen ohne Risikofaktoren oder Erkrankungen nach dieser Leitlinie im Kindes- und Jugendalter nicht mit Medikamenten behandelt werden.“
Relevanz für die Durchführung klinischer Studien
„Der BMI als objektiver Parameter wird in jeder Studie bleiben. Schon heute werde in jeder qualitativ hochwertigen Studie nicht nur der BMI, sondern auch Begleiterkrankungen und Körperfettverteilung miterfasst. Populationsstudien werden niemals aufgrund der großen Zahl an Studienteilnehmern von einer Definition abhängig nur vom BMI abweichen können, da die Erfassung der Komorbidität oder der Körperfettverteilung bei sehr großen Patientenzahlen bei nur begrenztem Mehrwert sehr aufwändig wäre.“
Fazit
„Zusammengefasst, die somatisch medizinische gängige Praxis wird in diesem Vorschlag gut beschrieben und nur mit neuen Namen belegt, was jedoch dazu führen wird, dass noch weniger Menschen mit Übergewicht als bisher eine Therapie von den Krankenkassen bezahlt bekommen wird. Unabhängig von der Definition von dieser Expertenkommission werden adipöse Menschen – auch wenn sie fit und gesund sind und nach der neuen Definition nicht als adipös bezeichnet werden würden – weiter von unserer Gesellschaft diffamiert werden. Die Anzahl adipöser Menschen in Statistiken wird sinken (das wird die Gesundheitspolitik freuen, die dann sagen kann, wir haben das Übergewichtsproblem erfolgreich angegangen), jedoch nicht das Problem des Übergewichts in unserer Gesellschaft lösen. Dies sehe ich als großen Kritikpunkt, indem ein adipöser Mensch ohne medizinische Folgeerkrankungen nicht mehr als adipös bezeichnet werden kann, neben der nicht genügender Würdigung der psychologischen Komorbidität. Somit wird diese neue Definition den Problemen adipöser Menschen in ihrem Alltag nicht gerecht.“
Leiterin des Bereichs Gender Medicine, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Klinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien, Österreich
Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission und Bestimmung Adipositas
„Dass der BMI kein idealer Parameter zur Definition von Adipositas als Krankheit ist, wissen wir schon sehr lange. Deshalb wurden bisher auch zusätzlich der Bauchumfang oder die WHR (waist-hip ratio, Taille-Hüft-Verhältnis; Anm. d. Red.) oder zuletzt die waist-to-height-ratio herangezogen und bei der Phänotypisierung von PatientInnen beziehungsweise auch Kohorten verwendet. Der Körper-Rundlichkeits-Wert (body roundness) gilt als neuer wichtiger Risikomarker. Trotzdem wurde meist nur der BMI verwendet, insofern macht die Empfehlung Sinn. Der BMI ist sehr einfach zu bestimmen und bei einem Wert von über 35 kg/m2 besteht wohl in den überwiegenden Fällen zu viel Fettmasse, bei über 40 fast immer. Deswegen geht auch die Kommission davon aus, dass bei über 40 Obesity, also zu viel Fettmasse, vorliegt. Das Problem, ob Adipositas eine Krankheit ist oder nicht, ist schon seit langem auch unter ExpertInnen ein Disput und viele ÄrztInnen waren froh, dass die WHO Adipositas als Krankheit anerkannt hat, weil dadurch meiner Meinung nach viel Diskriminierung und falsche Schuldzuweisung wegfallen. Es ist dadurch auch leichter für Behandelnde für die Erstattung von teuren sehr wirksamen Medikamenten zu kämpfen, die sich der Großteil der Betroffenen nicht leisten kann. Andererseits liegen natürlich auch Fälle vor, in denen der BMI überinterpretiert oder auch unterschätzt wird. Beispielsweise kann bei sehr muskulösen Männern der BMI als adipös fehlklassifizieren werden, während bei postmenopausalen Frauen der BMI oft die tatsächlich direkt gemessene Fettmasse unterschätzt. Eine direkte Messung der Körperfettmasse (BIA, DEXA, und weitere) ist immer vorzuziehen beziehungsweise ansonsten zumindest der Bauchumfang als weiterer wichtiger Parameter in die Klassifikation miteinzubeziehen. Dabei dürfen auch geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Fettverteilung und Fettmasse nicht unberücksichtigt bleiben, ebenso wie gewisse ethnische Unterschiede.“
„Andererseits können Menschen als krank eingestuft werden, die außer einem hohen BMI beziehungsweise eventuell auch einer hohen Fettmasse keine Krankheit und keine Organfunktions-Einschränkungen aufweisen und körperlich fit sind (preclinical obesity neu definiert). Sicher ist für mich, dass Fitness meist wichtiger als Fatness ist.“
„Der Begriff ‚clinical obesity‘ versucht nun die Adipositas als systemische chronische Krankheit davon abzugrenzen, mit Auffälligkeiten im Labor oder bei Organfunktionen, Adipositas-bezogenen Krankheiten (wie Typ-2-Diabetes) oder mit Einschränkungen im täglichen Leben. Ich selbst bezweifle allerdings die metabolisch und auch sonst gesundheitlich unbedenkliche ‚healthy obesity‘, die wie gesagt nur bei regelmäßiger Bewegung (Ausdauer- und Krafttraining) und körperlicher Fitness vorliegen kann. Die meisten Verlaufsuntersuchungen zeigen, dass diese beim Großteil in eine krankhafte Form übergeht, wenn nicht eine Intervention beziehungsweise Gewichtsabnahme rechtzeitig erfolgt. Für Präventionsmaßnahmen wäre es also sehr wichtig, auch bei Adipositas ohne Krankheitssymptome anzusetzen.“
Relevanz der Stellungnahme für Leitlinien
„Ich war in den Leitlinien-Prozess nicht involviert, aber prinzipiell ist die Diskussion über den BMI als Kriterium eine sehr alte. Eine direkte Bestimmung der Fettmasse wäre zu empfehlen beziehungsweise in jedem Fall die zusätzliche Berücksichtigung von anthropometrischen Parametern wie oben besprochen.“
Relevanz für die Durchführung klinischer Studien
„Es ist wichtig möglichst gut Cluster von PatientInnen mit unterschiedlichen Charakteristika/Phänotypen zu erkennen und in Studien herauszufinden, welche Gruppe von welchen Maßnahmen besonders profitiert und wer besonders für bestimmte Komplikationen gefährdet ist; also analog zu den neuen Subtypen bei Typ-2-Diabetes, die sich aber im Laufe der Zeit auch ändern können, sodass auch hier dynamische Modelle wichtig wären.“
„Personalisierte Medizin beziehungsweise personalisierte Prävention ist das Motto der Zukunft, auch bei Adipositas –, egal ob noch ‚gesund‘ oder bereits mit gesundheitlichen Problemen.“
Leiter der Abteilung Molekulare Epidemiologie, Deutsches Institut für Ernährungsforschung (DIfE), Potsdam-Rehbrücke
Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission
„Generell ist der Versuch der Kommission, Adipositas als Krankheit aus klinischer Sicht neu zu definieren, hilfreich. Die Diagnose ‚klinische Adipositas‘ erfordert neben dem Vorliegen eines erhöhten Körperfettanteils den Nachweis einer durch die Adipositas bedingten eingeschränkten Organ- oder Gewebefunktion oder einer durch die Adipositas bedingten erheblichen Einschränkung der Alltagsaktivitäten. Bislang wird Adipositas von der WHO und vielen nationalen Fachgesellschaften in der Regel allein über den BMI als Krankheit definiert, was sowohl zu Fehleinschätzungen des Körperfetts führen kann als auch keine Aussage über den individuellen Gesundheitszustand zulässt.“
„Der Ansatz, Menschen mit Adipositas zu stratifizieren, ist nicht unbedingt neu. So gibt es bereits seit längerem Diskussionen und Ansätze zur Unterscheidung zwischen metabolisch gesunder und metabolisch kranker Adipositas. Der neue Ansatz zur Diagnose einer ‚klinischen Adipositas‘ geht hier jedoch über solche Definitionen hinaus und umfasst neben Stoffwechselveränderungen ein breiteres Spektrum von Veränderungen der Organ- beziehungsweise Gewebefunktion bis hin zu Einschränkungen der Alltagsaktivitäten. Die neue Definition folgt damit deutlicher dem klinischen Ansatz einer Definition eines Krankheitszustandes – über Auswirkungen auf die Funktion von Organen und Geweben. Sowohl die bisherige Definition der Adipositas als Krankheit über den BMI als auch die Versuche der Stratifizierung über metabolische Gesundheit orientierten sich stärker an der Bedeutung der Adipositas als Risikofaktor für andere Krankheiten, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Adipositas als eigenständige Krankheit.“
Limitationen des Vorschlags
„Die Kommission diskutiert eine Reihe von Einschränkungen und weiteren Forschungsbedarf, die im Zusammenhang mit der Etablierung der Krankheit ‚klinische Adipositas‘ von Bedeutung sind. So umfasst die Gruppe der Erkrankten eine sehr heterogene Gruppe sowohl hinsichtlich des Grades der Adipositas als auch hinsichtlich der Folgen. Ein ‚Staging‘ wäre aber für eine gezielte Therapie sinnvoll beziehungsweise notwendig.“
„Es gibt weitere Unklarheiten, die für die Umsetzung des Konzeptes relevant sind: Zum einen sollte die Bestimmung der Adipositas nicht allein auf dem BMI beruhen, sondern durch mindestens eine weitere Messung bestätigt werden. Dies kann entweder durch die direkte Bestimmung des Körperfetts (DEXA) oder durch andere anthropometrische Messungen, wie zum Beispiel Taillenumfang oder Taille-Hüft-Quotient (WHR) erfolgen. Kritisch ist hierbei, dass unterschiedliche Messungen unterschiedliche Personengruppen als adipös identifizieren und somit die Diagnosestellung davon abhängt, welche Messung durchgeführt wird. Für den Taillenumfang gilt, dass aufgrund der hohen Korrelation des Taillenumfangs mit dem BMI der absolut überwiegende Anteil der Personen mit einem BMI größer/gleich 30 kg/m² auch das Kriterium des Taillenumfangs (größer 102 Zentimeter für Männer und mehr als 88 Zentimeter für Frauen gemäß Anhang zum Bericht) erfüllt. Der Taille-Hüfte-Quotient (WHR) korreliert dagegen geringer mit dem BMI. Es ist davon auszugehen, dass die WHR zu einem erheblich geringeren Anteil sowie teilweise andere Personen als adipös im Sinne des Berichts klassifiziert als der Taillenumfang. Zur Verdeutlichung: Die Übereinstimmung zwischen WHR und Taillenumfang liegt in unserer EPIC-Potsdam-Studie bei etwa 70 Prozent. Hierbei handelt es sich um nicht publizierte Daten. Die Autoren weisen zwar auf Lücken und weiteren Forschungsbedarf hin, öffnen aber momentan die Tür für große Variabilität in der Diagnostik.“
„In der erwachsenen Bevölkerung der USA haben weniger als 50 Prozent der Personen mit einem BMI größer/gleich 30 kg/m² eine metabolisch gesunde Adipositas, wenn das metabolische Syndrom als Definition verwendet wird [2]. Nur zehn Prozent haben keine der Komponenten des Syndroms (erhöhter Blutzucker, niedriges HDL-Cholesterin, hohe Triglyzeride, hoher Blutdruck). Diese Parameter sind auch Bestandteil der neuen Definition der ‚klinischen Adipositas‘ – hinzu kommen jedoch eine Reihe weiterer Befunde an verschiedenen Organen sowie Einschränkungen im täglichen Leben. Die Prävalenz der ‚klinischen Adipositas‘ bei Personen mit einem BMI größer/gleich 30 kg/m² ist momentan unbekannt. Da die Definition jedoch sehr weit gefasst ist und einige Diagnosekriterien mit hoher Prävalenz bei Personen mit einem BMI größer/gleich 30 kg/m² erfüllt sind (vor allem auch Hypertonie), könnte ein sehr großer Teil der Personen mit einem BMI größer/gleich 30 kg/m² zumindest eines der Diagnosekriterien der ‚klinischen Adipositas‘ erfüllen. Inwieweit dann eine Unterscheidung zwischen ‚klinischer‘ und ‚prä-klinischer‘ Adipositas in der Praxis noch sinnvoll ist, bleibt daher wohl abzuwarten.“
Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, Technische Universität München (TUM) und Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft
Mehrwert des Ansatzes der Lancet-Kommission
„Die Schwächen des BMI, wie zum Beispiel keine Unterscheidung zwischen Fett- und fettfreier Körpermasse, keine Berücksichtigung des Fettverteilungsmusters, sind seit langem bekannt und waren und sind Gegenstand fortlaufender Diskussionen. Damit eng verbunden ist die lange kontrovers diskutierte Frage, ob beziehungsweise ab wann Adipositas als eigenständige Krankheit betrachtet werden kann.“
„Ziel der Arbeit dieser Kommission war es offensichtlich, zu dieser zentralen Frage einen neuen Beitrag zu leisten. Die Lancet-Kommission, die – wie bei diesem Journal üblich – angelsächsisch dominiert war, arbeitete dabei nach dem Delphi-Verfahren, das heißt, es gibt Diskussionen und Abstimmungen zu spezifischen Fragen. Als ein zentrales Ergebnis wendet sich die Kommission gegen die Auffassung, die Krankheit Adipositas vom Vorliegen der wichtigsten Komorbiditäten abhängig zu machen. Sie versucht stattdessen, davon unabhängige Kriterien für eine genuine Krankheit Adipositas zu definieren.“
„Für Adipositas als Krankheit wird der neue Begriff einer ‚klinischen Adipositas‘ vorgeschlagen. Diese wird im Wesentlichen über zwei Kriterien definiert: das Vorliegen Adipositas-spezifischer Organdysfunktionen und/oder Einschränkungen der täglichen Aktivitäten. Für diese beiden Hauptkriterien werden zahlreiche, meist eher unscharfe organbezogene Kriterien genannt. Liegen diese beide Hauptkriterien nicht vor, wird von präklinischer Adipositas ohne Krankheitswert gesprochen. Erst ab einem BMI von 40 geht die Kommission davon aus, dass allein wegen des deutlich erhöhten BMIs eine klinische und damit behandlungsbedürftige Adipositas vorliegt. Dies ist schwer nachvollziehbar und eher verwirrend, sodass sich diese angeblich neue Definition kaum durchsetzen wird. Unbestritten bleibt dabei, dass Adipositas einen relevanten Risikofaktor für eine Vielzahl von ansonsten eigenständigen Krankheiten wie beispielsweise Typ-2-Diabetes darstellt.“
Relevanz der Stellungnahme für Leitlinien
„Die neue S3-Leitlinie ‚Prävention und Therapie der Adipositas‘ definiert zwar den Begriff Adipositas über den BMI, macht aber deutlich, dass dieser allein keinen Behandlungsanlass darstellt, sondern weitere diagnostische Kriterien erforderlich sind, ganz im Einklang mit der WHO und anderen Leitlinien, wie zuletzt einem Positionspapier der Europäischen Adipositas-Gesellschaft [3]. Aber auch die Lancet-Kommission nennt den BMI als erste Screening-Maßnahme. Die damit ausgelöste Diagnostik soll medizinische, funktionelle und psychologische Störungen erfassen, bevor eine Entscheidung über die Sinnhaftigkeit und Art einer Behandlung getroffen wird. Hierbei wird es aber dann schwierig, weil es keine harten, durch Studien belegbaren Kriterien gibt. Frühere Versuche, hierfür Entscheidungswege zu definieren, wie zum Beispiel das Edmonton Obesity Staging System (EOSS), haben sich nicht durchgesetzt, weil sie aufwendig und unscharf sind. Die Empfehlungen des Papiers der Lancet-Kommission dürften in der praktischen Medizin schwer umsetzbar sein. Mit Recht wird dort darauf hingewiesen, dass eine Überbehandlung vermieden werden soll. Wenn aber erst ab einem BMI von 40 kg/m² eine klare Behandlungsindikation gesehen wird, droht eher eine Unterversorgung für diejenigen Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 40 kg/m², bei denen wegen unscharfer Kriterien eine Behandlung möglicherweise unterbleibt. Es ist aber zu befürchten, dass wir weiter mit den aktuellen Unsicherheiten leben müssen und die Indikation für eine gewichtssenkende Behandlung individuell und auch in Abhängigkeit von Begleit- und Folgekrankheiten getroffen werden muss. Diese Stellungnahme hilft daher bei der zentralen Frage nicht weiter und könnte eher die restriktive Haltung, zum Beispiel der Kostenträger, gegenüber einer Adipositastherapie verstärken.“
Relevanz für die Durchführung klinischer Studien
„Wegen der Heterogenität des klinischen Phänotyps Adipositas ist es bei klinischen Studien – auch zur Prüfung von Medikamenten – schon lange üblich, die Probanden nach BMI-Kategorie beziehungsweise nach Komorbiditäten zu stratifizieren. Ob nun diese Arbeit der Lancet-Kommission zu einer neuen Klassifikation der Adipositas führt, bleibt abzuwarten, ist aber derzeit nicht zwingend erkennbar. Die bisherigen klinischen Studien zeigen überzeugend, dass sich unter einer beabsichtigten Gewichtsabnahme begleitende Risikofaktoren und Komorbiditäten bessern und damit auch die Lebensqualität und Lebenserwartung. Dies wird für die Bewertung von Therapieeffekten, egal bei welcher Art von Intervention, neben der Berücksichtigung unerwünschter Effekte auch in Zukunft entscheidend sein.“
„Für diese Thematik bestehen keine Interessenkonflikte.“
„Interessenkonflikte zu diesem Statement bestehen nicht.“
„Ich habe in den vergangenen fünf Jahren Honorare für Vorträge von Novartis, Amarin, Böhringer, Lilly und Novo Nordisk erhalten.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe in den letzten Jahren Vortragshonorare von Novo Nordisk Deutschland und von der Oviva Deutschland GmbH erhalten. Ich bin außerdem Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Rubino F et al. (2025): Definition and diagnostic criteria of clinical obesity. The Lancet Diabetes & Endocrinology. DOI:10.1016/S2213-8587(24)00316-4.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Bundesamt für Justiz: Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) § 34 Ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel.
[2] Schulze MB (2019): Metabolic health in normal-weight and obese individuals. Diabetologia. DOI: 10.1007/s00125-018-4787-8.
[3] Busetto L et al. (2024): A new framework for the diagnosis, staging and management of obesity in adults. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-024-03095-3.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V. (2024): S3-Leitlinie Adipositas - Prävention und Therapie.
Prof. Dr. Martin Wabitsch
Stellvertretender Standortdirektor, Deutsches Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ), Standort Ulm, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) Ulm, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie sowie des Endokrinologischen Forschungslabors, Universitätsklinikum Ulm und Koordinator der AWMF S3-Leitlinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes und Jugendalter“
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Für diese Thematik bestehen keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Susanna Wiegand
Leitung der pädiatrischen Adipositas- und Lipidambulanz, Klinik für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Thomas Reinehr
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderendokrinologie und -diabetologie an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln, Private Universität Witten/Herdecke gGmbH
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Interessenkonflikte zu diesem Statement bestehen nicht.“
Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer
Leiterin des Bereichs Gender Medicine, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Klinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien, Österreich
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe in den vergangenen fünf Jahren Honorare für Vorträge von Novartis, Amarin, Böhringer, Lilly und Novo Nordisk erhalten.“
Prof. Dr. Matthias Schulze
Leiter der Abteilung Molekulare Epidemiologie, Deutsches Institut für Ernährungsforschung (DIfE), Potsdam-Rehbrücke
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Hans Hauner
Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, Technische Universität München (TUM) und Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe in den letzten Jahren Vortragshonorare von Novo Nordisk Deutschland und von der Oviva Deutschland GmbH erhalten. Ich bin außerdem Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft.“