Ursachen und Folgen von Naturgefahren in den Alpen
ein drohender Bergsturz in den Schweizer Alpen rückt alpine Naturgefahren wieder verstärkt in den Fokus der Medien
derartige Ereignisse im Hochgebirge werden durch den Klimawandel wahrscheinlicher
Forscher erläutern Prozesse, die hinter den Naturgefahren stecken und verweisen auf Unsicherheiten bei der Vorhersage
Die jüngsten Entwicklungen im Lötschental im Schweizer Kanton Wallis rücken alpine Naturgefahren wieder in den Fokus der Medien: An der Ostflanke des Kleinen Nesthorns droht ein großflächiger Bergsturz. Mehrere Millionen Kubikmeter Gestein sind in Bewegung und könnten in einem großen Sturzereignis abrutschen. Solche Bewegungen von Gestein werden als Massenbewegungen bezeichnet. Bislang haben zahlreiche kleinere Teilabgänge stattgefunden. Das abgebrochene Gestein lastet jedoch auf dem unteren Birchgletscher und verschieben ihn talwärts. Kommt es zu einem Abbruch des Gletschers, ändert sich die Dynamik des gesamten Prozesses: Das abgebrochene Gestein vermischt sich mit dem Wasser und Eis des Gletschers zu einem zähflüssigen Massestrom.
Professor mit Schwerpunkt Hochalpine Kryosphäre, Universität Innsbruck, und Bergführer IVBV, Österreich
Ursachen von Massenbewegungen
„Generell wird der Boden instabil, wenn die Materialkonfiguration oder die Geometrie nicht mehr passen. Die meisten Berggebiete sind entstanden beziehungsweise wachsen durch Plattentektonik und Faltung oder durch den Rückgang des Gewichtes der gesamten Erdkruste. Beispielsweise sorgen der Gletscherrückgang der letzten Eiszeit und auch der gegenwärtige Gletscherrückgang dafür, dass die Erdkruste leichter wird. Da die Kruste auf dem flüssigen Erdmantel schwimmt, geht sie wie ein Korken in die Höhe, wenn sie leichter wird. Die Erosion wirkt dem wiederum entgegen – langfristig und kurzfristig – und so halten sich die Gebirge im Gleichgewicht und wachsen nicht in unendliche Höhe.“
„Bezüglich der Prozesse und Faktoren muss man unterscheiden, ob man über das Hochgebirge – wie dem Kleinen Nesthorn – oder niedere Tallagen – wie Brienz oder Randa – spricht. Hoch oben, in der alpinen Kryosphäre (alle Formen von Eis, Schnee und Permafrost; Anm. d. Red.), öffnet der Rückgang des Eises die Oberfläche gegenüber Wind und Wetter. Das heißt, es besteht keine Isolation. Wasser und Wind können direkt eindringen und das Gestein erodieren – die Berge werden gleichzeitig auch steiler. Überall werden seit Langem zunehmende Geschwindigkeiten hangabwärts festgestellt. Zudem taut der Permafrost mit 0,1 Grad Celsius pro Dekade auf. In den Alpen liegt die Temperatur des Permafrosts vielerorts schon im Bereich von -3 bis -1 Grad Celsius, das heißt, er ist sehr warm. Zudem wird die Aktivschicht, also der Teil an der Oberfläche, der jedes Jahr auftaut, immer tiefer. Aus Laborversuchen weiß man, dass dies mit Stabilitätsverlusten von bis zu 80 Prozent einhergeht. Auftauen bedeutet aber auch, dass mehr flüssiges Wasser zur Verfügung steht – auch im Inneren des Berges – und das schmiert die Bewegung, getrieben von der Gravitation.“
Auswirkung von Massenbewegungen im Tal
„Wenn Felsmaterial abstürzt, fragmentiert es. Beim Aufschlagen auf einen Gletscher wird durch die kinetische Energie Eis zu flüssigem Wasser. Zusammen mit dem entstehenden Staub und der Bewegung ist das wie in einer Betonmischmaschine. Diese verflüssigte Masse gleitet dann einiges weiter talwärts, als wenn es nur eine Art Material wäre – also nur Felsen, Staub oder Eis. Weiterhin entfalten diese Gemische, in tieferen Lagen zum Teil auch noch mit Bäumen durchsetzt, eine sehr destruktive Kraft, wenn sie ins Tal donnern. Dazu kommen noch weitere Gefahren, wenn eine Sturzmasse auf ein Gewässer wie einen See trifft. Das erzeugt dann eine Flutwelle, die zu Katastrophen führt – wie es beispielsweise beim Bergsturz von Vajont im Jahr 1963 geschehen ist.“
„Wenn ein Bergsturz bis in den Talboden vordringt, blockiert er oft ein talnahes Gewässer. Da dieser Damm aber nicht von Ingenieuren ‚berechnet‘ werden kann, ist unklar, wie stabil diese natürliche errichtete Staumauer ist – und das Ausbruchrisiko ist zumeist unbekannt. Neben dem Ausbruchrisiko kann so ein aufgestauter See zu Überschwemmungen führen – wie beispielsweise beim Bergsturz von Randa 1990 wo ein Teil des Dorfes überschwemmt wurde.“
Risikobewertung in den Alpen
„Grundlage der Risikobewertung sind die geologischen und topographischen Bedingungen, sowie Ereigniskataster. Relativ neu und wegweisend ist der European Ground Motion Service (EGMS). Hier werden satellitenbasiert Bewegungen getrackt. Die Schweiz ist leider nicht Teil von Copernicus, das den EGMS unterhält. Aber in der Schweiz gibt es Alternativen, wie beispielsweise flächendeckendes Interferometric Synthetic Aperture Radar (InSAR) und eine Beispielhafte Zusammenarbeit zwischen Behörden, Privatwirtschaft und Forschung auf diesem Sektor.“
Implikationen für die mediale Berichterstattung
„Was wir heute im Hochgebirge erleben, ist zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte. Das heißt: Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht – eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen. Es gilt jeweils zu differenzieren, wenn man Klimaprojektionen, Wunschdenken zum Erreichen des XYZ-Szenarios mit aktuell Beobachteten Ereignissen und akuten Gefahrenlagen in Kontext setzen will. Diese Ereignisse finden zwar im Kontext des Klimawandels statt, sind aber jeweils nicht immer ursächlich direkt damit verbunden.“
„Allgemein sehe ich ein großes Defizit, diese doch sehr plakativen Berge und Gletscher und ihren rapid fortschreitenden Wandel in unserer Zeit im positiven Sinne für die Sensibilisierung einzusetzen. Die Berge haben hier als Anschauungsbeispiel viel mehr Potenzial als der Anstieg des Meeresspiegels – den werden wir im Detail noch lange nicht sehen.“
Leiter der Forschungsgruppe Alpine Fließgewässer und Naturgefahren, Institut für Wasserwesen, Universität der Bundeswehr, München
Ursachen von Massenbewegungen
„In alpinen Regionen entstehen Hang-Instabilitäten meist durch das Zusammenwirken mehrerer Prozesse. Neben tauendem Permafrost zählen Starkniederschläge, Gletscherschmelze, das rasche Abtauen von Schnee und Bergstürze zu den häufigsten Auslösern.“
„Wenn Schuttmassen mit Wasser, Eis oder Schmelzschnee durchsetzt sind, erhöht sich ihre Mobilität deutlich. Das Wasser wirkt wie ein Schmiermittel entlang interner Gleitflächen, wodurch sich Massen verflüssigen und mit hoher Energie talabwärts bewegen können – beispielsweise als Murgänge oder hyperkonzentrierte Strömungen. Solche Effekte werden in wissenschaftlichen Experimenten detailliert untersucht [1].“
„Ob ein Murgang entsteht, hängt nicht nur vom Auslöser, sondern auch vom verfügbaren Sediment ab. In vielen alpinen Gebieten ist ausreichend Material vorhanden – entscheidend ist dann die Wasserverfügbarkeit. Man spricht dann von einem transport-limitierten Murgang. In anderen Regionen, etwa British Columbia, muss sich das Material erst über längere Zeiträume ansammeln.“
Risikobewertung in den Alpen
„Kurz- bis mittelfristige Einschätzungen zur Hangstabilität basieren auf Geländemodellen, Fernerkundung, Ereignisanalysen und geotechnischen Berechnungen. Punktuelle Frühwarnsysteme mit Sensorik liefern wichtige Informationen, sind aber nicht flächendeckend einsetzbar. Gebirgsregionen sind deutlich weniger dicht mit Niederschlags- und Abflussmessstellen ausgestattet als Flachlandgebiete. Konvektive Starkregenereignisse sind zudem extrem lokal. Ein Tal kann massiv betroffen sein, während das Nachbartal verschont bleibt. Solche Ereignisse sind aktuell kaum vorhersagbar.“
Risikoanpassungen
„Technische Schutzbauten wie Wildbachsperren, Steinschlagnetze oder Rückhaltebecken sind zentrale Instrumente im alpinen Raum. Sie sind besonders effektiv, wenn die Gefahrenquelle gut bekannt und räumlich eingegrenzt ist. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland beruhen viele Schutzmaßnahmen auf klaren normativen Vorgaben. Mit der neuen ÖNORM B 4800 wurde 2025 erstmals eine umfassende Wildbachschutz-Norm etabliert. Deutschland verfügt zudem über ein engmaschiges Pegelmessnetz mit 15-minütiger Datenerfassung – eine oft unterschätzte staatliche Leistung.“
„Neben institutionellen Maßnahmen ist auch Eigenvorsorge entscheidend. Nach § 5 Abs. 2 WHG ist jede Person verpflichtet, bei Hochwassergefährdung selbst Schutzmaßnahmen zu treffen. Portale wie Hochwasser.Info.Bayern unterstützen durch Verhaltenstipps, Karten und individuelle Risikoaufklärung.“
Implikationen für die mediale Berichterstattung
„Der Klimawandel verschärft bestehende Unsicherheiten. Der letzte IPCC-Bericht (Weltklimarat Intergovernmental Panel on Climate Change; Anm. d. Red.) bestätigt eindeutig, dass Gebirgsregionen besonders stark vom Klimawandel betroffen sind. Häufigere Starkregen, instabilerer Permafrost und veränderte Vegetationszyklen erhöhen das Risiko. Bestehende Gefahrenkarten müssen deshalb dynamisch aktualisiert und mit Unsicherheiten transparent kommuniziert werden.“
„Wichtig ist die Unterscheidung zwischen punktuellen Extremereignissen und langfristig erhöhtem Risiko durch Klimaveränderung. Gefahrenkarten zeigen, wo etwas passieren kann – nicht, wann es passiert. Ein häufiger Fehler ist, punktuelle Schäden als generelles Versagen von Schutzmaßnahmen zu deuten. Dabei verhindern diese oft größere Katastrophen. Unsicherheiten in Szenarien sind kein Zeichen von Unwissen, sondern Ausdruck komplexer Naturprozesse. Die mediale Aufmerksamkeit sollte auch auf laufende Forschungs- und Anpassungsprojekte gelenkt werden. Programme wie das EU-Projekt AdaptNow entwickeln länderübergreifend konkrete Strategien für alpine Gemeinden im Umgang mit dem Klimawandel.“
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Weiterführende Recherchequellen
In diesem LinkedIn-Post geht Prof. Dr. Christian Huggel von der Universität Zürich auf die aktuellen Entwicklungen im Lötschental und die Thematik von alpinen Naturgefahren ein. Stand : 23.05.2025.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Baselt I et al. (2022): Deposition morphology in large-scale laboratory stony debris flows. Geomorphology. DOI: 10.1016/j.geomorph.2021.107992.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Sartori M et al. (2003): Kinematics of the 1991 Randa rockslides (Valais, Switzerland). Natural Hazards and Earth System Science. DOI: 10.5194/nhess-3-423-2003.
[II] Jacquemart M et al (2024): Detecting the impact of climate change on alpine mass movements in observational records from the European Alps. Earth-Science Reviews. DOI: 10.1016/j.earscirev.2024.104886.
Prof. Dr. Jan Beutel
Professor mit Schwerpunkt Hochalpine Kryosphäre, Universität Innsbruck, und Bergführer IVBV, Österreich
Dr. Ivo Baselt
Leiter der Forschungsgruppe Alpine Fließgewässer und Naturgefahren, Institut für Wasserwesen, Universität der Bundeswehr, München