Tiefe Hirnstimulation bei inkompletter Querschnittlähmung
Tiefe Hirnstimulation könnte das Gehen bei inkompletter Querschnittlähmung verbessern
bisherige Forschungsansätze zielten auf das Rückenmark ab, die Forschenden haben nun eine Schlüsselregion im Gehirn identifiziert
Experten betonen, dass die Einzelfallbeschreibungen von zwei Menschen nicht ausreichen, um einen möglichen Effekt zu bewerten
Ein bestimmtes Areal im Gehirn trägt vermutlich zur Verbesserung des Gehens bei inkomplett Querschnittgelähmten bei. Eine Forschungsgruppe aus Lausanne hat den lateralen Hypothalamus als potenzielle Gehirnregion in Maus-Experimenten identifiziert und daraus eine mögliche Behandlung für Menschen in zwei Einzelfällen abgeleitet. Ihre Ergebnisse sind im Fachjournal „Nature Medicine“ erschienen (siehe Primärquelle).
Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittgelähmte, Klinikum Bayreuth, und Lehrprofessor für das Fachgebiet „Orthopädie“ am Institut für Lehre und Forschung am Medizincampus Oberfranken, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Einordnung in die bisherige Forschung
„Der Forschungsansatz unterscheidet sich auch insofern von der bisherigen Forschung, da bisher das Rückenmark selbst Ziel der Therapie war.“
Ergebnisse in Mäusen
„Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse sind in jedem Fall spannend und beleuchten bisher nicht in diesen Details bekannte Mechanismen, die im Gehirn Rückenmarksverletzter stattfinden. Insbesondere beleuchtet die Forschung, wie das Gehirn an der Aktivierung von ‚kompensatorischen‘ Prozessen beteiligt ist. Die Autoren können darüber hinaus zeigen, dass es möglich ist, die Erholung von motorischen Funktionen in den von der Lähmung betroffenen Extremitäten zu beeinflussen, in dem geeignete Hirnareale entsprechend gereizt werden.“
Einzelfallberichte in Menschen
„Der Versuch an zwei menschlichen Probanden zeigt darüber hinaus, dass ein ähnlicher Prozess bei betroffenen Menschen möglich ist.“
„Aus meiner Sicht ist das Ergebnis sicherlich interessant, da es eine zusätzliche Möglichkeit bieten könnte, Menschen mit verbliebenen Restfunktionen zu besserer Mobilität zu verhelfen.“
„Ein Vergleich mit bisherigen Methoden ist aus meiner Sicht mit den Informationen nicht möglich.“
Schlussfolgerungen für die klinische Praxis
„Allerdings ist es definitiv noch zu früh, um Aussagen treffen zu können, wer von einem solchen – doch recht invasiven – Verfahren profitieren könnte. Insbesondere ist eine Nutzen-Risiko-Abschätzung jetzt sicherlich noch nicht möglich. Auch ist aus meiner Sicht nicht gesichert, dass ein solcher Effekt wirklich dauerhaft ist – auch wenn es in dem beobachteten Zeitraum danach aussieht.“
„Letztlich muss es immer darum gehen, dass die Patienten von der Behandlung einen klaren Nutzen im Alltag erwarten können, der bestehen bleibt. Sie sollen möglichst nicht den Rest ihres Lebens die meiste Zeit damit beschäftigt sein, einzelne Körperfunktionen zu trainieren oder von komplexer Technik abhängen, deren Langzeitstabilität unklar ist. Von BCI-Implantaten (Brain Computer Interface) ist bekannt, dass sie bei der Langzeitanwendung erhebliche Probleme machen können und im Verlauf nicht immer verlässlich funktionieren.“
Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie - Querschnittzentrum, Universitätsklinikum Heidelberg
Einordnung in die bisherige Forschung
„Klinisch routinemäßig anwendbare ‚Ansätze‘ sind die bekannte frühzeitige operative knöcherne Entlastung des Rückenmarks (gemäß aktueller Leitlinie innerhalb 24 Stunden nach Trauma) sowie die umfassende querschnittspezifische Erstbehandlung in Querschnittgelähmten-Zentren mit Schwerpunkt auf neurorehabilitativen Maßnahmen. Darüber hinaus gibt es bisher keinen Therapieansatz, der die Erholung nach Eintritt der Querschnittlähmung über die Spontanerholung hinaus nachweislich verbessert.“
„Der Ansatz von Cho et al. ist neu, da man den lateralen Hypothalamus bisher nicht als Kerngebiet im Gehirn, welcher die Gehfunktion maßgeblich beeinflussen kann, im Fokus hatte. Die Tiefe Hirnstimulation des Mittelhirns wird experimentell bereits untersucht [III], die Ergebnisse sind aber noch nicht veröffentlicht. Andere vergleichbare Ansätze beschäftigen sich mit der Vagusnerv-Stimulation [1]. Gemäß der vorgelegten Tierdaten ist der Ansatz prinzipiell sehr interessant und als mögliches Ziel für therapeutische Interventionen definitiv wert, weiterverfolgt zu werden. Es ist jedoch noch völlig unklar, was genau hinsichtlich der Gehfunktion angeregt wird und inwieweit dies nachhaltig Menschen mit inkompletter Querschnittlähmung alltagsrelevant weiterhilft.“
Ergebnisse in Mäusen
„Soweit ich das bei der wirklich beeindruckenden Fülle von veröffentlichten präklinischen Daten nachvollziehen kann, erscheint der laterale Hypothalamus als Zielregion plausibel, da er sowohl über Aktivitätsmarker als auch über gezielte Tracing-Methoden bestätigt wird.“
Einzelfallberichte in Menschen
„Auch die fMRI-Studie (funktionelle Magnetresonanztomographie, Verfahren zur Darstellung aktiver Gehirnareale; Anm. d. Red.) an gesunden Probanden weist darauf hin, dass das Kerngebiet eine Rolle bei der Bewegung spielt. Welchen tatsächlichen Einfluss die Stimulation dieser Gehirnregion auf die Gehfunktion Querschnittgelähmter hat, kann in diesem Stadium noch nicht abgeschätzt werden.“
Wissenschaftliche Praxis
„Bei einer derart invasiven Intervention ist es sicherlich sinnvoll, erste Nutzen-Risiko-Signale von einer möglichst kleinen Patientenpopulation zu erhalten. Allerdings würde man sich wünschen, dass die Studie entsprechend der initialen Beschreibung und festgelegten Versuchsgruppengröße abgeschlossen wird, bevor sie veröffentlicht wird [I]. So stellt sich schon die Frage: Warum wurde die Studie nicht zur Veröffentlichung eingereicht, nachdem die festgelegten drei Patienten eingeschlossen, behandelt und im Verlauf nachbeobachtet sind? Auch sollte man die präklinischen von den klinischen Arbeiten strikt trennen und bei Präsentation der klinischen Daten die strikten Vorgaben für die wissenschaftliche Kommunikation klinischer Studien beachten.“
Schlussfolgerungen für die klinische Praxis
„Die Methode ist ausschließlich für motorisch inkomplett Querschnittgelähmte geeignet, denn die Stimulation benötigt erhalten gebliebene spinale Nervenbahnen, um wirksam sein zu können. Inwieweit im vorliegenden Fall inkomplett Querschnittgelähmte ausgewählt wurden, die ganz besondere Kriterien aufweisen, lässt sich nicht nachvollziehen, da detaillierte Angaben zur neurologischen Dysfunktion (sensible und motorische Einschränkung) fehlen.“
„Es muss noch gezeigt werden, welche klinisch sinnvolle Effektgröße erzielt werden kann und wie viele Patienten für die Intervention in Frage kämen (Anwendungsbreite). Benötigt wird eine Studie mit vernünftiger Fallzahl und einem informativen und klinisch relevanten primären Endpunkt (vorher festgelegtes Ziel der Studie; Anm. d. Red.) mit Kontrollkohorte (Teilnehmende als Vergleich, die nicht mit der Tiefen Hirnstimulation behandelt werden; Anm. d. Red.), um Signifikanzen und Effektgrößen belegen zu können.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte. Ich bin im Safety Board einer Studie, die sich mit rückenmarknaher Stimulation beschäftigt, das ist aber etwas anderes. Eine Auflistung meiner Tätigkeiten finden Sie unter https://orcid.org/0000-0002-8328-8438.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Cho N et al. (2024): Hypothalamic deep brain stimulation augments walking after spinal cord injury. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-024-03306-x.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2019): Langlebige Gehirn-Maschine-Schnittstelle bei Querschnittsgelähmtem. Statements. Stand: 04.10.2019.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] National Library of Medicine: Targeted Plasticity Therapy for Upper Limb Rehabilitation in Spinal Cord Injuries. Webseite.
Webseite, auf welcher aktuelle Informationen zur laufenden klinischen Studie, die Vagusnerv-Stimulation bei Querschnittlähmung untersucht, zu finden sind.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] National Library of Medicine: Deep Brain Stimulation of the Lateral Hypothalamus to Augment Motor Function of Patients With Spinal Cord Injury (HoT-DBS). Webseite.
Webseite, auf welcher aktuelle Informationen zur laufenden klinischen Studie, die Tiefe Hirnstimulation im lateralen Hypothalamus untersucht, zu finden sind.
[II] Scheuber MI et al. (2024): Electrical stimulation of the cuneiform nucleus enhances the effects of rehabilitative training on locomotor recovery after incomplete spinal cord injury): Electrical stimulation of the cuneiform nucleus enhances the effects of rehabilitative training on locomotor recovery after incomplete spinal cord injury. Frontiers in Neuroscience. DOI: 10.3389/fnins.2024.1352742.
[III] National Library of Medicine: Deep Brain Stimulation in Patients With Incomplete Spinal Cord Injury for Improvement of Gait (DBS-SCI). Webseite.
Webseite, auf welcher aktuelle Informationen zur laufenden klinischen Studie, die Tiefe Hirnstimulation im Mittelhirn untersucht, zu finden sind.
Prof. Dr. Rainer Abel
Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittgelähmte, Klinikum Bayreuth, und Lehrprofessor für das Fachgebiet „Orthopädie“ am Institut für Lehre und Forschung am Medizincampus Oberfranken, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte. Ich bin im Safety Board einer Studie, die sich mit rückenmarknaher Stimulation beschäftigt, das ist aber etwas anderes. Eine Auflistung meiner Tätigkeiten finden Sie unter https://orcid.org/0000-0002-8328-8438.“
Prof. Dr. Norbert Weidner
Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie - Querschnittzentrum, Universitätsklinikum Heidelberg