Studie zur deutschen Überwachungsgesamtrechnung vorgelegt
Überwachungsgesamtrechnung soll erstmals systematisch Befugnisse von Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden evaluieren
erster Befund gibt einen Überblick, kritisiert aber schlechte Verfügbarkeit von Daten
Forschende betonen Bedeutung der Studie, fordern aber eine bessere Datenerfassung durch die Behörden
Die Landschaft der Sicherheitsgesetze in Deutschland ist schwierig zu überblicken und deren Ausgestaltung zum großen Teil Ländersache. So gab es bislang keine eindeutige Übersicht zu den Überwachungsbefugnissen, die manche Gesetze mit sich bringen. Auf politischer Ebene wurde daher seit Längerem über eine sogenannte Überwachungsgesamtrechnung diskutiert. Eine über 200-seitige Pilotstudie dazu ist nun vergangenen Freitag veröffentlicht worden [I].
Research Director, cyberintelligence.institute, Frankfurt am Main
Qualität der Überwachungsgesamtrechnung
„Die Ergebnisse der Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR) zeigen, weshalb sie notwendig ist: Weil man sich bislang seitens der Sicherheitsbehörden nicht hierum gekümmert hat. Da deutlich geworden ist, dass die Datenlage nach wie vor unklar ist, wird ebenso deutlich, dass vernünftige verfassungsmäßige Interessenabwägungen bei der Schaffung und Anwendung neuer Gesetze nur auf dem Papier stattgefunden haben. Das ist bedauerlich, da der Schutz höchster verfassungsrechtlicher Güter auf diese Weise auf ein Feigenblatt reduziert wird. Das Ergebnis am Ende ist somit nicht überraschend, denn schon bislang gab es keine valide Datengrundlage zur Beurteilung der nationalen Überwachungsintensität. Dennoch sollte uns das Ergebnis zu denken geben: Wie können wir verfassungsrechtlich belastbar neue digitale Überwachungsmaßnahmen einführen, wenn wir weder ihre Effektivität noch Intensität angemessen beurteilen können?“
Wichtigste Aspekte
„Bislang wurde angenommen und auch in der öffentlichen Debatte kommuniziert, dass durch die ÜGR viele der aktuellen verfassungsrechtlichen Probleme in Deutschland zum Thema digitale Überwachung gelöst werden können. Dass dem nicht so ist, ist nun mehr als deutlich geworden. Dass die unzureichende Datengrundlage ein Problem ist, induziert politischen und gesetzgeberischen Handlungsbedarf, die Maßnahmendokumentation zu verbessern. Insgesamt wird man deshalb feststellen müssen, dass das Projekt Überwachungsgesamtrechnung nicht nur hinter seinen Zielen zurückgeblieben, sondern vielmehr gescheitert ist, da es kein funktionsfähiges Instrument darstellt, um die Gesamt-Überwachungsbelastung messbar zu machen.“
Mangelhafte Datengrundlage zu Überwachungsmaßnahmen
Auf die Frage, wie die Kritik an der schlechten Datengrundlage einzuordnen ist:
„Der Kritik ist zuzustimmen und sie ist absolut berechtigt. Es kann nicht sein, dass wir in einem Rechtsstaat zunehmend Überwachungsinstrumente einführen, ohne dass wir ihre Intensität auf einer fundierten Grundlage beurteilen können. Noch frappierender jedoch ist, dass diese Praxis von sicherheitsbehördlicher Seite offensichtlich bereits seit Jahren als Best Practice etabliert ist. Auf diese Weise wird nicht nur die Aussagekraft des eigentlichen Berichts entwertet, sondern gleichermaßen gezeigt, dass sogar die Sicherheitsbehörden selbst bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen im Dunkeln tappen. Gerade für eingriffsintensive Instrumente der Online-Überwachung ist dies ein absolutes No-Go.“
Lehren aus dem Bericht
„Wenn wir unsere digitalen Grundrechte wirklich ernst nehmen, müssen wir die digitale staatliche Überwachung in Deutschland komplett neu aufstellen. Maßnahmen müssen registriert und dokumentiert und zumindest innerbehördlich transparent gemacht werden. Davon sind wir zurzeit noch weit entfernt. Und das ist kein Hexenwerk oder technisch hochkomplex – vor allem geht es hier um einfache digitale Dokumentationsvorgänge. Gleichzeitig sollten wir jetzt noch kritischer als zuvor sein, soweit es um die Einführung neuer Überwachungsgesetze geht. Bislang wurde die Effektivität kaum hinterfragt, und das kann nun für die Zukunft erst recht kein gangbarer Weg mehr sein.“
Qualifikationsprofessor für Öffentliches Recht und das Recht der Digitalisierung, Philipps-Universität Marburg
Wichtigste Aspekte
„Die Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR) zielt in ihrem Kern darauf, eine holistischere und stärker evidenzbasierte Diskussion sicherheitsrechtlicher Befugnisse des Staates wenn nicht zu ermöglichen, so doch zumindest anzustoßen. Die Studienautoren betonen die Notwendigkeit, staatliche Überwachungsmaßnahmen nicht nur in ihren Auswirkungen auf einzelne betroffene Bürger:innen zu bewerten, sondern gesamtgesellschaftliche Auswirkungen staatlicher Überwachung im Sinne demokratischer Kontrolle stärker in den Blick zu nehmen. Damit ist die Pilotstudie ein wichtiger Ansatz hin zu einer Ergänzung der gerichtlichen Kontrolle einzelner Überwachungsmaßnahmen. Diese kann eine ganzheitliche Erfassung staatlicher Überwachung methodisch und aus Kapazitätsgründen nicht leisten und ist nach ihrem rechtlichen Programm in erster Linie auf die individuellen Auswirkungen auf beschwerdeführende Personen beschränkt. Das Hauptverdienst der Studie liegt meines Erachtens darin, innerhalb der rechtlichen Diskussion auf diese Begrenzung des ‚normalen‘ juristischen Umgangs mit staatlichen Überwachungsmaßnahmen hinzuweisen und zugleich deutlich zu machen, wie wenig gesicherte Daten und Methoden für eine ganzheitliche, den politischen Prozess adäquat informierende Erfassung staatlicher Überwachung bisher vorhanden sind.“
Mangelhafte Datengrundlage zu Überwachungsmaßnahmen
„Die ÜGR ist gerade dadurch aussagekräftig, dass sie die Grenzen und die Schwierigkeiten belastbarer Gesamterfassung staatlicher Überwachungstätigkeit schonungslos offenlegt. Sie zeigt auf, dass innerhalb der staatlichen Behörden eine strukturierte Erfassung der eigenen Überwachungsaktivitäten praktisch nicht stattfindet und wir als politische Community eigentlich in Überwachungsfragen nicht so recht wissen, was wir tun. Die empirischen Einzelerkenntnisse der Studie sind daher nicht deren Kernertrag, sondern die Erkenntnis über unser frappierendes Unwissen im Überwachungsbereich. Dazu, ob dieses Unwissen innerhalb der Behörden bewusst aufrechterhalten wird, um sich in Überwachungsfragen einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit (Parlament, Presse und Rundfunk, Wissenschaft, Gerichte, Einzelne) zu entziehen, trifft die Studie keine Aussage.“
Lehren aus dem Bericht
„Die Lehre aus der ÜGR sollte ein Kulturwandel hin zu größerer Transparenz und strukturierter Datenerfassung im Kontext staatlicher Überwachungstätigkeit sein. Ganz konkret bedeutet das, innerhalb der Sicherheitsbehörden strukturiert und standardisiert zu erfassen, wann, aufgrund welcher Befugnisse, mit welchen Zielen, wie häufig und so weiter sie Überwachungsmaßnahmen ergreifen. Die ÜGR liefert hierfür eine überzeugende Matrix und Kategorisierungsvorschläge. Erst auf dieser Grundlage ist eine informierte politische Abwägung und Entscheidung über einen Aus- oder Rückbau staatlicher Überwachungsbefugnisse möglich. In welche Richtung sie ausfällt und ausfallen sollte, lässt sich anhand der Studie – gerade aufgrund ihrer datenmäßigen Begrenzungen – nicht beurteilen.“
„Innerhalb der rechtlichen und fachpolitischen Debatte sollte man die Lehre darin sehen, dass der bisherige juristische Fokus auf einzelne Überwachungsmaßnahmen und deren individuelle Eingriffstiefe unvollständig ist. Dieser Fokus hängt eng mit der juristischen Konstruktion eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zusammen, die Überwachungsgefahren zwar eine rechtliche Sprache gibt, diese aber von vornherein in eine individualistische Semantik kleidet. Nur wegen solcher individualrechtlicher Scheuklappen können Slogans wie ‚Datenschutz ist Täterschutz‘ bis heute bei vielen Menschen verfangen. Dem sicherheitsrechtlichen und -politischen Diskurs wäre daher wesentlich geholfen, wenn er die von der ÜGR angestrebte Perspektivverschiebung mitginge.“
Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung, FernUniversität in Hagen
Qualität der Überwachungsgesamtrechnung
„Das Forschungsprojekt der Überwachungsgesamtrechnung ist grundsätzlich zu begrüßen, denn entsprechende Maßnahmen sollten – auch von den zuständigen Behörden – dokumentiert werden, um eine informierte Debatte darüber führen zu können. Wenig überraschend sind Auskünfte zu Bestandsdaten und die Abfrage von Fluggastdaten häufig dokumentiert; interessant sind die regionalen Unterschiede zwischen den Bundesländern. Wie die Autor:innen selbst schreiben, handelt es sich um work in progress, das Konzept ist in vielen Punkten sicher noch verbesserungsfähig. Letztlich hängt es am politischen Willen, die Erkenntnisse zu nutzen und bei der Evaluation neuer und bestehender Gesetze einfließen zu lassen. Die neue Bundesregierung sollte diesen Themenkomplex trotz zahlreicher weiterer Herausforderungen nicht aus den Augen verlieren; leider finden sich dazu im Koalitionsvertrag wenig Anhaltspunkte.“
Wichtigste Aspekte
„Eine informierte Diskussion der stetigen Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden, insbesondere auch im Bereich der Datenverarbeitung, ist wichtig. Zu oft wurden in diesem Bereich verfassungswidrige Gesetze erlassen, die das Bundesverfassungsgericht dann für (teilweise) verfassungswidrig oder nichtig erklärt hat. Die rechtsdogmatische Erfassung von Gesamtbelastungen wird seit einigen Jahren verstärkt diskutiert [1] [2] und ist eine wichtige Voraussetzung für eine praktische Umsetzung. Die Überwachungsgesamtrechnung allein löst die vielen Probleme in diesem Bereich nicht; zudem gilt: Grundrechtsschutz ist stets auch Minderheitenschutz und normative Fragen lassen sich nicht allein durch Zahlen messen und beantworten.“
Mangelhafte Datengrundlage zu Überwachungsmaßnahmen
„Geheimen Datenerhebungen, zum Beispiel durch verdeckte Überwachungsmaßnahmen, kommt eine gesteigerte Eingriffsintensität zu. Wenn Parameter wie die Eingriffsintensität zugrunde gelegt werden, ist es wichtig, transparent zu machen, dass es keine vollständige Datenerhebung gegeben hat. Zudem beschränkt dies den Erkenntniswert der Überwachungsgesamtrechnung: Es liegt zwar eine Analyse der rechtlichen Grundlagen vor, aber nicht der tatsächlichen Umsetzung von Überwachungsmaßnahmen in der Praxis. Der zugrunde gelegte Überwachungswert der Studie berechnet sich aber aus normativem Eingriffswert und Häufigkeitswert, wobei sich letzterer auf die empirisch gemessene Durchführung der Maßnahme bezieht.“
Lehren aus dem Bericht
„Der Bericht gibt allen Kritiker:innen überbordender staatlicher Überwachung konkrete Zahlen an die Hand und findet hoffentlich Eingang in die politische Diskussion. Staatliche Sicherheitsbehörden müssen effektive Handlungsmöglichkeiten und -instrumente haben aufgrund der dynamischen und komplexen Entwicklungen der globalisierten Gesellschaft. Dennoch sind Privatsphäre, Grundrechtsausübung, Datenschutz und -autonomie sowie digitale Souveränität unerlässlich für die demokratische und freie Gesellschaft. Sie schaffen erst die Voraussetzungen, dass Bürger:innen sich frei entscheiden können und sind damit Grundlage für demokratische Prozesse. Autoritäre und faschistische Staaten bedienen sich stets auch dem Mittel der Überwachung, dies sollte eine dauernde Warnung sein.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
„Ich bin ehemaliger Doktorand des Studienleiters Ralf Poscher, der auch meine unabhängig von meiner Tenure-Track-Professur verfolgte Habilitation mitbetreut. Zugleich bin ich mit dem MPI Freiburg lose als externer Forscher assoziiert. Mit verschiedenen Autor:innen der Studie habe ich im Kontext der Entstehung und Ausschreibung im Allgemeinen zur Überwachungsgesamtrechnung und deren Herausforderungen gesprochen. Ich selbst war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht im BND-Verfahren mit dem Problem eines weitgehenden Fehlens belastbaren Datenmaterials für eine sachhaltige Kontextualisierung und Kontrolle staatlicher Überwachungsmaßnahmen konfrontiert.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Brade A (2020): Additive Grundrechtseingriffe. Ein Beitrag zur Grundrechtsdogmatik. Nomos.
[2] Ruschemeier H (2019): Der additive Grundrechtseingriff. Duncker & Humblot.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Bundesministerium der Justiz: Überwachungsgesamtrechnung für Deutschland. Fachpublikation.
[II] SPD, Grüne, FDP (07.12.2021): Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag.
[III] Bundesministerium der Justiz (10.01.2024): Startschuss für die unabhängige wissenschaftliche Untersuchung der Sicherheitsgesetze. Pressemitteilung.
[IV] Poscher R et al. (2025): Überwachungsgesamtrechnung für Deutschland. Band 1: Bericht.
Prof. Dr. Dennis-Kenji Kipker
Research Director, cyberintelligence.institute, Frankfurt am Main
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Johannes Buchheim
Qualifikationsprofessor für Öffentliches Recht und das Recht der Digitalisierung, Philipps-Universität Marburg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich bin ehemaliger Doktorand des Studienleiters Ralf Poscher, der auch meine unabhängig von meiner Tenure-Track-Professur verfolgte Habilitation mitbetreut. Zugleich bin ich mit dem MPI Freiburg lose als externer Forscher assoziiert. Mit verschiedenen Autor:innen der Studie habe ich im Kontext der Entstehung und Ausschreibung im Allgemeinen zur Überwachungsgesamtrechnung und deren Herausforderungen gesprochen. Ich selbst war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht im BND-Verfahren mit dem Problem eines weitgehenden Fehlens belastbaren Datenmaterials für eine sachhaltige Kontextualisierung und Kontrolle staatlicher Überwachungsmaßnahmen konfrontiert.“
Prof. Dr. Hannah Ruschemeier
Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung, FernUniversität in Hagen
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“