Parkinson: Welche Rolle spielt der Blinddarm?
Eine Entfernung des Blinddarms könnte womöglich das Risiko, an Parkinson zu erkranken, senken. Das ist die Hypothese einer umfangreichen schwedischen Register-Studie, die in „Science Translational Medicine“ publiziert wurde (siehe *Primärquelle). Die Publikation liefert zudem erste Hinweise über einen möglichen Einfluss des Wurmfortsatzes auf die Entstehung und Entwicklung der Parkinson-Krankheit.
Arbeitsgruppe klinische Neuroanatomie, Universitätsklinikum Ulm
„Der pathologische Prozess eines sporadisch auftretenden Morbus Parkinson erfasst Teilbereiche des zentralen, des peripheren und des enterischen Nervensystems (auch Darmnervensystem genannt; Anm. d. Red.) des Menschen. Diese ungewöhnliche Verteilung auf alle Bereiche des Nervensystems hat unter anderem Anlass zur Aufstellung einer Hypothese gegeben: Ein Faktor aus der Außenwelt könne unter Umständen über die Schleimhaut des Magendarmtraktes auf örtliche Nervenzellen einwirken. Das in diesen Zellen vorhandene alpha-Synuclein könne daraufhin so verändert werden, dass es wie ein Keim wirken könne. Über Äste des Nervus vagus (Nerv, der an der Regulierung der inneren Organe beteiligt ist; Anm. d. Red.) bis in das zentrale Nervensystem verschleppt, könnten diese Keime dann auf nachfolgende Nervenzellen übertragen werden und auf diese Weise den Morbus Parkinson auslösen.“
„Die von Killinger et al. vorgelegte epidemiologisch-molekularbiologische Studie ist sachkundig gefertigt und methodisch vielseitig. Sie kommt aus einer international anerkannten Arbeitsgruppe. Die überraschenden Ergebnisse unterstützen die oben dargestellte Hypothese. Das Hauptaugenmerk der Studie gilt dem Appendix vermiformis (umgangssprachlich Wurmfortsatz des Blinddarms; Anm. d. Red.), der nach den Befunden der Autoren bereits im Jugendalter große Mengen von normalem und vielfältig verändertem alpha-Synuclein enthält, die letztendlich in Form von Keimen den Weg in Äste des Nervus vagus finden könnten.“
„Die epidemiologischen Daten zeigen, dass eine zumeist im Jugendalter vorgenommene chirurgische Entfernung des Wurmfortsatzes das Risiko, Jahrzehnte später an einem sporadischen Morbus Parkinson (ohne erkennbare Ursache; Anm. d. Red.) zu erkranken, deutlich herabsetzt. Besonders ausgeprägt zeigte sich dieser Effekt bei Personen, die auf dem Land lebten. Hier wird ein Einfluss von Pestiziden vermutet, die über die Darmschleimhaut auf Zellen des enterischen Nervensystems einwirken könnten. Die ungewöhnlichen Ergebnisse der Studie, vorausgesetzt sie werden durch unabhängige Arbeitsgruppen bestätigt, bedeuten einen wichtigen Schritt voran bei Bemühungen, die Ursachen des sporadischen Morbus Parkinson zu verstehen.“
Zentrum für Neuropathologie und Prionforschung, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München
„Die Ergebnisse dieser Studie stehen im Einklang mit früheren Berichten, die auf eine wichtige Rolle des enterischen Nervensystems (auch Darmnervensystem genannt; Anm. d. Red.) in der Pathophysiologie der Parkinson-Krankheit hindeuten. Die aktuellen Befunde sind dennoch überraschend, weil sie nahelegen, dass bis zu 25 Prozent der Parkinsondiagnosen auf das Vorhandensein von verkürzten und aggregierten Formen von alpha-Synuclein-Eiweißen im Wurmfortsatz zurückzuführen sein könnten.“
„Bereits bekannt ist, dass der Wurmfortsatz des Blinddarms Reste von verarbeiteten Lebensmitteln über längere Zeiträume als andere Regionen im Darm enthalten kann. Dies ist ein möglicher Grund dafür, dass der Blinddarm so anfällig ist für Infektionen und Entzündungsprozesse. Deshalb ist es zumindest denkbar, dass der Wurmfortsatz häufiger und länger mit Umweltgiften, die über die Nahrung aufgenommen werden, in Kontakt kommt als andere Darmregionen. Das wiederum könnte zu vermehrten Entzündungsprozessen, oxidativem Stress usw. führen. Schlussendlich könnte es also so sein, dass der Wurmfortsatz eine größere Rolle in der Pathogenese der Parkinson-Krankheit spielt als der Rest des Magen-Darm-Traktes. Das ist bisher aber nur eine Hypothese.“
„Die In-vitro-Daten der Studie sind interessant, aber es kann derzeit nicht viel daraus abgeleitet werden. Wir wissen bereits, dass humanes Wildtyp-alpha-Synuclein unter bestimmten Bedingungen in vitro aggregiert. Offen ist, welche molekularen Verbindungen oder Zellkomponenten in den Appendix-Proben für die enzymatische Spaltung von alpha-Synuklein verantwortlich sind. Das wird auch aus den aktuellen Ergebnissen nicht klar ersichtlich. Weiterhin wissen wir nicht einmal, in welcher Art von Zellen die molekularen ‚Scheren‘ (Proteasen) vorkommen, die pathogenes alpha-Synuklein erzeugen.“
„Diese Studie legt nahe, dass bei der Suche nach frühen Biomarkern der Parkinson-Krankheit vermehrt Biopsien im Bereich des Wurmfortsatzes durchgeführt werden sollten. Damit könnte man die Wahrscheinlichkeit erhöhen, vor ersten Symptomen pathologisches alpha-Synuclein im Körper Betroffener zu entdecken. Allerdings bleibt vorerst unklar, wie hoch die Spezifität und die Empfindlichkeit solcher diagnostischer Tests zur Frühdiagnose der Erkrankung wäre. Dazu sind dringend weitere Studien erforderlich.“
Direktor des Instituts für Neuropathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes und Medizinische Fakultät der Universität des Saarlandes, Homburg
„Eine Bevölkerungsstudie an über 1,5 Millionen Schweden hat gezeigt, dass eine Blinddarmentfernung bei Personen, die auf dem Land leben, das statistische Risiko senkt, eine Parkinson-Krankheit zu bekommen. Dies galt besonders für jene Personen, denen der Blinddarm mehr als 20 Jahre vor Krankheitsbeginn entfernt wurde. Als Erklärung vermuten die Studienärzte, dass der Blinddarm zur Entstehung der Parkinson-Krankheit beitragen könnte.“
„Das ist eine interessante Annahme, zumal ein Einfluss der Aufnahme von Pflanzenschutzmitteln über den Magen-Darm-Trakt auf die Entstehung einer Parkinson-Krankheit diskutiert wird. Der mechanistische Erklärungsansatz der wissenschaftlichen Veröffentlichung, erste Formen der Parkinsonkrankheit wären sogar schon bei jedem jungen Menschen unter 20 Jahren im Nervensystem des Blinddarms zu finden, widerspricht allerdings meiner langjährigen Erfahrung als Neuropathologe.“
„Eine Ausbreitung vom Blinddarm zum Gehirn kann auch nicht über den in der Studie vorgeschlagenen Nervenweg erfolgen, weil der Blinddarm nicht vom zehnten Hirnnerven versorgt wird. Sollte der Blinddarm tatsächlich einen Einfluss auf die Häufigkeit der Parkinsonkrankheit haben, müssten indirekte Effekte wie chronische oder länger dauernde Entzündungen des Blinddarms verantwortlich sein.“
„Auf keinen Fall rechtfertigt die Studie eine Blinddarmentfernung zur Vorbeugung einer Parkinson-Erkrankung. Dafür ist der statistische Zusammenhang viel zu gering.“
„Ich bin in keinen finanziellen Abhängigkeiten mit irgendwelchen Firmen und habe keine kommerziellen Interessen.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Killinger B et al. (2018): The vermiform appendix impacts the risk of developing Parkinson’s disease. Science Translational Medicine. 10, eaar5280. DOI: 10.1126/scitranslmed.aar5280.
Prof. Dr. Heiko Braak
Arbeitsgruppe klinische Neuroanatomie, Universitätsklinikum Ulm
Dr. Francisco Pan-Montojo
Zentrum für Neuropathologie und Prionforschung, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München
Prof. Dr. Walter J. Schulz-Schaeffer
Direktor des Instituts für Neuropathologie, Universitätsklinikum des Saarlandes und Medizinische Fakultät der Universität des Saarlandes, Homburg