Methodische Fallstricke bei Long-COVID-Forschung?
US-Forschende sehen gravierende Mängel in der Erhebung von Forschungsdaten zu Long/Post COVID
die tatsächliche Krankheitshäufigkeit werde dadurch verzerrt
unabhängige Fachleute teilen viele der vorgestellten Thesen und Kritikpunkte
Das Risiko, nach einer SARS-CoV-2-Infektion tatsächlich an Long COVID zu leiden, wird einer Analyse im Fachjournal „BMJ Evidence-Based Medicine“ zufolge überschätzt (siehe Primärquelle). Demnach wiesen viele wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Krankheitshäufigkeit eklatante methodische Mängel auf. Das Problem werde noch verschärft, indem schlecht durchgeführte Studien in Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen aufgenommen würden. In der Öffentlichkeit würden dadurch unangemessene Bedenken und Ängste geschürt.
Direktor der Klinik für Innere Medizin IV und Leiter des Long-COVID-Zentrums, Universitätsklinikum Jena, und Mitautor der S1-Leitlinie Long/Post-COVID
Qualität von Long-COVID-Studien
„Grundsätzlich halte ich diese Publikation für wichtig, gibt sie doch Denkanstöße. Die erste These, die von den Autoren aufgestellt wird, ist, dass die Häufigkeit von Long COVID überschätzt wird. Dem stimme ich partiell zu. Ohne Zweifel gibt es in publizierten Studien eine große Heterogenität der untersuchten Patientenpopulationen. So ist zum Beispiel das Zeitintervall zwischen Infektion und Beobachtung relevant. Werden Betroffene zwölf Wochen nach Symptomen befragt, ergibt sich eine andere Prävalenz für Post COVID, als wenn der zeitliche Abstand zum Beispiel sechs oder zwölf Monate beträgt. Auch ist der wissenschaftliche Ansatz von Bedeutung: Ist die Untersuchung populationsbasiert wie unsere eigene Studie, die alle Patienten, die zwischen März 2020 und September 2021 dem örtlichen Gesundheitsamt gemeldet wurden, einbezog [1] oder handelt es sich um Auswertungen von zum Beispiel Symptom-getriggerten Vorstellungen in Spezialambulanzen. Je nach Ansatz ergeben sich unterschiedliche Prävalenzen. Wir gehen von fünf bis sechs Prozent aus; dies deckt sich mit den Häufigkeiten, die vom Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung (Zi) angegeben werden. Auch hat das Virus selbst Einflüsse auf die Post-COVID-Wahrscheinlichkeit. So ist das Risiko von Post COVID während der Delta-Welle deutlich höher ausgefallen als während der Omikron-Welle. Es ist also zu hinterfragen, welche Virusvariante in dem Zeitintervall dominierte, in dem die Untersuchung zu Post COVID durchgeführt wurde. Daten aus der Delta-Welle dürfen nicht eins zu eins mit Daten aus der Omikron-Welle zusammengeworfen werden.“
Begrifflichkeit
„Auch ist die Frage: Reden wir über ,Long COVID‘ oder ,Post COVID‘? Die Autoren verwenden selbst die Begriffe Long COVID und Post COVID nicht gut definiert und werfen diese meiner Ansicht nach auch teilweise durcheinander. Sie definieren in ihrem Beitrag Long COVID als Beschwerden oder Symptome, die für mehr als zwölf Wochen nach Infektionen anhalten. Dieser Zeitraum wird von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) oder auch in der deutschen Leitlinie aber als Zeitraum für Post COVID verstanden. Es gibt große Unterschiede in der Prävalenz, ob ich Patienten sechs Wochen nach Infektion nach Beschwerden frage (Long COVID) oder erst nach zwölf Wochen (Post COVID). Die Definition für Long COVID ist eigentlich ganz einfach, häufig wird aber Long COVID geschrieben und Post COVID gemeint. Bezeichnungen beziehungsweise Definitionen müssen allgemein akzeptiert und konsequent gebraucht werden. Die CDC betont ganz deutlich, dass Long COVID nicht ein Zustand ist, sondern dass hiermit verschiedenen Entitäten unter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden sollen. Natürlich wäre es wünschenswert, Subtypen von Post COVID unterscheiden zu können und positive Entitäts-definierende Parameter zu entwickeln.“
Infektionsnachweis
„Ein wichtiger Aspekt ist den Autoren die Einbeziehung von Patienten mit gesicherter Infektion und entsprechenden Kontrollgruppen. So fordern sie, dass Patienten mit Post COVID eine PCR-gesicherte Infektion haben und eine SARS-CoV-2-Positivität aufweisen. Der Forderung nach PCR-gesicherter Infektion kann gefolgt werden, bezüglich der SARS-CoV-2-Seropositivität muss aber angemerkt werden, dass bis zu 50 Prozent der Infizierten keine humorale Immunantwort aufbauen; eine SARS-CoV-2-Negativität schließt die Infektion somit nicht aus [2].“
Volkskrankheit Long COVID?
„Wenn das Risiko für Long COVID überschätzt wird, wenn Long COVID zum Beispiel als Volkskrankheit verstanden wird, könnt es sein, dass Ressourcen der Forschung und deren Förderung auf dieses Krankheitsbild konzentriert werden und die Forschung zu anderen Erkrankungen zu kurz kommt. Insgesamt halte diese Gefahr aber für klein, da wir noch viele Fragen zu Post COVID haben. Eine kausale Therapie auch für Untergruppen ist zum Beispiel noch nicht etabliert; die Forschung zu Post COVID kann insgesamt positive Implikationen für andere schlecht verstandene Krankheitsbilder wie ME/CFS oder post-infektiöse Langzeitfolgen nach Sepsis schaffen und wir können somit insgesamt davon profitieren.“
Studienqualität im Laufe der Pandemie
„Die aus der SARS-CoV-2-Pandemie entstandenen Forschungsnetzwerke, etwa das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) können Plattformen für zukunftsträchtige Forschung in Deutschland bilden. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die klinische Forschung in Deutschland von bürokratischen Hürden befreit werden muss und auch der Datenschutz in der klinischen Forschung modifiziert werden muss. Wir legen zu viel Wert auf den Schutz der Daten, wollen aber eigentlich die Interessen der Patienten schützen.“
Über die Verbesserungsvorschläge der BMJ-Autoren
„Die Vorschläge sind prinzipiell gut und richtig; setzen aber voraus, dass wir akzeptierte Parameter entwickeln, um Patienten zu differenzieren. Im Moment arbeiten wir anhand phänotypischer Charakterisierungen, das ist sicher eine zu ,grobe‘ Betrachtung.“
Fachärztin für Innere Medizin, Infektiologie, Reisemedizin und Leiterin des Infektionsschutzzentrums, der Infektionsambulanz sowie der Post-Covid-Ambulanz, Uniklinik Köln
Qualität von Long-COVID-Studien
„Ich stimme den in der BMJ-Analyse beschriebenen Mängeln zu. Etwa das initiale Fehlen von Kontrollgruppen, das Fehlen einer klaren Definition der Erkrankung, die Verwechslung von Symptomen im Zusammenhang mit einem postviralen Syndrom und solchen, die auf postpandemische Umstände (psychoreaktiv) zurückzuführen sind, sowie die Tatsache, dass die Datengrundlage oft auf subjektiven Selbstauskünften in Apps beruht, die nicht validiert sind. Derlei Mängel können das Krankheitsrisiko verzerren. Die Konsequenzen dieser Fallstricke sind vielfältig und haben weitreichende Auswirkungen, unter anderem erhöhte gesellschaftliche Ängste und wachsende Gesundheitsausgaben. Dazu gehören überhöhte Schätzungen der Anzahl der Betroffenen, eine mögliche Ausrichtung der Forschung in die falsche Richtung, und politische Entscheidungen, die auf emotionalen, nicht sachlichen Grundlagen getroffen werden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Long oder Post COVID kein Hirngespinst ist. Bei einigen Patienten sehen wir auch mehrere Wochen nach der Infektion krasse inflammatorische Reaktionen. Doch dies trifft nicht auf das Gros der Patienten zu. Wir müssen dieses Krankheitsbild ernst nehmen, aber dazu gehört eine ehrliche wissenschaftliche Bestimmung des tatsächlichen Krankheitsrisikos.“
Studienqualität im Laufe der Pandemie
„Anfänglich fehlte eine klare Definition, was die Diagnose und Untersuchung erschwerte. Im Verlauf dieser Entwicklung wurden klare Falldefinitionen wie die des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) eingeführt. Forscher begannen, systematisch Daten zu sammeln. Die anfängliche Herausforderung bestand in fehlenden angemessen gematchten Kontrollgruppen, was zur Einbeziehung passender Kontrollgruppen und Langzeitstudien führte. Es wurden verschiedene Aspekte darunter medizinische, psychologische, rehabilitative und soziale sowie die Pathophysiologie der Erkrankung untersucht. Long COVID wird nun vermehrt als Teil des Spektrums der postviralen oder postinfektiösen Syndrome betrachtet, was die Möglichkeit eröffnet, mehr Erkenntnisse in diesen Bereich einzubringen und ihn besser zu verstehen.“
Begrifflichkeit
„Das grundlegende Problem besteht darin, dass es derzeit keine eindeutigen Biomarker oder radiologischen Befunde gibt, die eine klare Diagnose von Long COVID ermöglichen. Es existieren zahlreiche klinische Definitionen, die sich nur geringfügig voneinander unterscheiden. Meiner Meinung nach ist die präziseste Definition die des National Institute for Health and Care Excellence (NICE).“
Über die Verbesserungsvorschläge der BMJ-Autoren
„Es ist von äußerster Wichtigkeit, eine objektive Grundlage wiederherzustellen und uns nicht von Emotionen, politischem Druck oder persönlichem Leidensdruck leiten zu lassen. Wir müssen an den Prinzipien wissenschaftlicher Integrität festhalten. Die Wahrung der Integrität und Qualität der wissenschaftlichen Forschung ist von entscheidender Bedeutung, um genaue und zuverlässige Informationen zu gewährleisten. Es ist eine gemeinsame Verantwortung der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Gesellschaft, sicherzustellen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auf diesen Prinzipien beruhen.“
Leiter des Instituts für Epidemiologie und medizinische Biometrie, Universität Ulm
Qualität von Long-COVID-Studien
„Die in dem BMJ-Paper aufgezählten Probleme, die aus einer fehlenden, einheitlichen Falldefinition und den verschiedenen Verzerrungsmechanismen resultieren können, sind in der Tat in vielen epidemiologischen Studien präsent. Diese Mechanismen sind nun nicht neu in Beobachtungsstudien und mehr oder weniger immer vorhanden – und deshalb ist solide epidemiologische Expertise im Studienteam (und bei den Reviewern der Zeitschriften) auch so bedeutend. Wichtig ist es deshalb von den Autoren zu diskutieren, was die methodischen Einschränkungen für die Ergebnisse der Studie bedeuten könnte. In einer von uns publizierten Studie zeigen wir beispielsweise die Auswirkungen unterschiedlicher Falldefinitionen auf die Häufigkeit von möglichen Langzeitfolgen einer akuten SARS-CoV-2-Infektion. Zudem berechnen wir für jede mögliche Definition auch einen minimal möglichen Häufigkeitswert unter der Annahme, dass alle Nicht-Teilnehmer (sogenannte Non-Responder) keine Beschwerden hätten, um die potenziellen Auswirkungen eines Selektionsbias darzustellen. Dabei kommen wir mit unserer Arbeitsdefinition von Post COVID sechs bis zwölf Monate nach der laborbestätigten Akutinfektion auf 6,5 Prozent [3]. Die derzeit präsentierten Zahlen sind wohl allgemein zu hoch, und nicht nur auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen.“
Studienqualität im Laufe der Pandemie
„Es gibt viele positive Entwicklungen in Deutschland. Anzuführen ist die bis dahin unglaublich kurze Dauer der Impfstoffentwicklung, die schnelle Verfügbarkeit von aktuellen Infektionsdaten, die Stärkung der Gesundheitsämter und die verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Insgesamt sind aber viele Wissenschaftler auch kritischer geworden mit publizierten Ergebnissen. Das mag auch daran liegen, dass viele das Gefühl haben, dass das Qualitätssicherungsverfahren des Peer-Reviews, also die kritische Prüfung eines eingereichten Manuskripts durch Fachkollegen und eine Empfehlung an den Editor zum weiteren Verfahren die Masse der eingereichten Arbeiten nicht mehr wirklich bewältigen kann. Dadurch sind viele mangelhafte Arbeiten auch publiziert worden.“
Begrifflichkeit
„Momentan hat die internationale Wissenschaftsgemeinschaft noch keine ideale Definition für das Krankheitsbild gefunden. Wir wissen derzeit noch zu wenig über die ursächlichen Zusammenhänge der berichteten Symptome mit möglichen Langzeitfolgen. Die Sensitivität der berichteten Symptome beziehungsweise Befundcluster in Hinblick auf eine mögliche Langzeitfolge ist noch zu wenig bekannt. Neben der Kausalität muss zudem eine relevante Beeinträchtigung der Lebensqualität und der Arbeitsfähigkeit durch die Langzeitfolgen vorliegen.“
Über die Verbesserungsvorschläge der BMJ-Autoren
„Es sind sehr sinnvolle und dringliche Vorschläge, die aber eigentlich auch bekannt sind [4]. Wir müssen eigentlich nur die bereits konsentierten Empfehlungen zum Berichten von Ergebnissen aus Beobachtungsstudien konsequent anwenden – und bereits bei der Planung berücksichtigen.“
Leiterin des Fachgebiets „Körperliche Gesundheit“ sowie des Projekts „Postakute gesundheitliche Folgen von COVID-19 (Post-COVID-19)“, Robert Koch-Institut (RKI), Berlin
Qualität von Long-COVID-Studien
„Der Beitrag in BMJ spricht die Herausforderungen für die epidemiologische Forschung zu Long COVID an. Einschätzungen zur Häufigkeit von Long COVID vermitteln häufig den Eindruck, es handele sich um ein einheitliches, gut definiertes Krankheitsbild, was nicht der Fall ist. Vielmehr ist das klinische Erscheinungsbild variabel und wird nach derzeitigen Erkenntnissen sehr stark von Geschlecht, Alter, Verlauf der akuten Infektion und vorbestehenden Erkrankungen beziehungsweise Krankheitsrisiken geprägt. Neben spezifischen Symptomkomplexen (zum Beispiel Schmeck- und Riechstörungen), für die ein sehr starker Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Infektionen aufgezeigt worden ist, sind andere eher unspezifische Symptome (etwa Schlafstörungen) auch in der Allgemeinbevölkerung häufig. Welche Faktoren zu schweren und bleibenden gesundheitlichen Folgen ähnlich dem Krankheitsbild der ME/CFS führen, und wie viele Menschen genau davon betroffen sind, ist derzeit noch unklar.“
Begrifflichkeit
„Bislang veröffentlichte Definitionen zu den post-akuten Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion, zum Beispiel die 2020 veröffentlichte Leitlinienempfehlung des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) [5] und die 2021 beziehungsweise 2023 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgelegten Falldefinitionen zum Post-COVID-19-Zustand für Erwachsene [6] und für Kinder und Jugendliche [7] erheben keinen Anspruch auf Endgültigkeit. Vielmehr unternehmen sie den Versuch einer ersten Systematisierung gemäß aktuellem Stand der Forschung, um erkrankten Menschen Zugang zur Versorgung zu sichern und Forschungsansätze zu vereinheitlichen. Das Robert Koch-Institut hat in seinen FAQ und in einer Übersichtsarbeit zu Long COVID [8] [9] darauf hingewiesen, dass eine intensive und kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung, klinischer Forschung [10] und epidemiologischer Forschung wichtig ist, um effektive Maßnahmen zur Prävention, Früherkennung und Behandlung [11] von Long COVID und post-akuten Folgen im Zusammenhang mit anderen Infektionen zu entwickeln und umzusetzen. Hierzu gehört die Weiterentwicklung von Falldefinitionen und die Harmonisierung von Erhebungsmethoden sowie der Ausbau epidemiologischer Datengrundlagen, um Studienergebnisse in Zukunft besser vergleichen und einordnen zu können.“
Generalsekretär, Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), und niedergelassener Neurologe sowie Mitautor der S1-Leitlinie Long/Post-COVID
Qualität von Long-COVID-Studien
„Viele der im BMJ-Paper angesprochenen qualitativen Mängel von Long-COVID-Studien sehe ich auch. Die unzureichenden Kontrollgruppen in vielen Untersuchungen haben sicherlich dazu beitragen, dass das Krankheitsrisiko heute überschätzt wird. Selbst in der Wahrnehmung vieler Ärzte ist die Zahl der Long-COVID-Patienten viel zu hoch. Wenn wir uns wirklich gut gemachte Studien anschauen, in denen COVID-19-Patienten mit Patienten verglichen werden, die ähnlich schwer an anderen Atemwegsinfektionen erkrankt waren, sieht man, dass es für langanhaltende Symptome bei COVID-19 kaum eine erhöhte Frequenz gibt. Die häufig bei Long COVID beschriebenen Symptome sind meist überhaupt nicht COVID-19-spezifisch. Das chronische Müdigkeitssyndrom etwa tritt auch bei anderen viralen Infektionen auf. Es ist nach wie vor nur unzureichend erforscht und wird zunehmend synonym für Long COVID gebraucht, was so nicht korrekt ist. COVID-19-spezifisch sind derweil Symptome wie die Beeinträchtigung des Geruchs- und Geschmackssinns. Es gibt auch recht spezifische Muster neurokognitiver Störungen, die länger anhalten können. Aber einzig und allein COVID-19 zuzuschreiben sind die allerwenigsten langanhaltenden Symptome. Wir brauchen prospektive Längsschnittstudien mit Kontrollgruppen. Nur solche liefern zuverlässige Zahlen. Wir müssen auch die Patienten genauer anschauen. Wir müssen mehr über ihre Vorgeschichte und soziale Situation wissen, denn viele körperliche wie seelische Vorerkrankungen führen zu einem erhöhten Long-COVID-Risiko. Ich rede hier nicht davon, dass Long COVID eine eingebildete Erkrankung ist, aber je nach Vorerkrankung und Lebenssituation kann allein die Auseinandersetzung mit der womöglich schwerwiegenden Infektion zu langanhaltenden Symptomen führen. Ähnliches haben wir auch bei den Nebenwirkungen nach Impfung beobachtet.“
Begrifflichkeit
„Das Post- beziehungsweise Long-COVID-Syndrom ist als Krankheitsbild irreführend. Über 200 Symptome werden mittlerweile mit COVID-19 in Verbindung gebracht. Alle weitgehend unspezifisch und ohne kausalen Zusammenhang zur Erkrankung. ,Syndrom‘ ist also sehr missverständlich. Ich verwende in meiner Nomenklatur meist den amerikanischen Begriff ,COVID-19-Condition‘. Ich kann den Wunsch nachempfinden, den Begriff Long COVID einfach zu streichen und vielmehr mit den konkreten Symptomen zu arbeiten, wie die BMJ-Autoren darlegen. Die Nomenklatur ist aber weit verbreitet, es gibt mittlerweile entsprechende ICD-Schlüssel. Wichtig ist, die Begrifflichkeiten weiter einzugrenzen. Was ist wirklich COVID-19-spezifisch? Die Zahl der scheinbaren Long-COVID-Patienten ist ja enorm. Die Praxen laufen über, vor allem die der Hausärzte, Pulmologen und Neurologen. Daher ist es so wichtig, den Begriff einzugrenzen. Wenn jetzt mehrere Millionen Euro zur Erforschung zur Verfügung gestellt werden, sollten wir auch sicher sein, daß diese an die richtigen Stellen fließen.“
Studienqualität im Laufe der Pandemie
„Die Zahlen zur Prävalenz von Long- beziehungsweise Post COVID werden seit Beginn der Pandemie immer geringer. Anfangs wurden noch bei nahezu jedem zweiten Patienten langanhaltende Gesundheitseinschränkungen beschrieben. Davon sind wir glücklicherweise immer weiter abgekommen – vor allem dank besserer Studien. Heute sind wir bei einer Krankheitshäufigkeit von unter fünf Prozent und die Zahl wird noch weiter abnehmen, je genauer wir das Krankheitsbild definieren.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Hoeg TC et al. (2023): How methodological pitfalls have created widespread misunderstanding about long COVID. BMJ Evidence-Based Medicine. DOI: 10.1136/bmjebm-2023-112338.
Weiterführende Recherchequellen
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2022): S1-Leitlinie Long/ Post-COVID.
Jährlich überprüfte Guideline für behandelnde Mediziner.
The C-MORE/PHOSP-COVID Collaborative Group (2023): Multiorgan MRI findings after hospitalisation with COVID-19 in the UK (C-MORE): a prospective, multicentre, observational cohort study. The Lancet Respiratory Medicine. DOI: 10.1016/S2213-2600(23)00262-X.
Aktuelle Studie, die anhand von MRT-Scans ein mittelfristiges Risiko für multiorganische Abnormitäten nach einem Krankenhausaufenthalt wegen COVID-19 feststellt.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Giszas B et al. (2022): Post-COVID-19 condition is not only a question of persistent symptoms: structured screening including health-related quality of life reveals two separate clusters of post-COVID. Infection. DOI: 10.1007/s15010-022-01886-9.
[2] Weis S et al. (2020): Antibody response using six different serological assays in a completely PCR-tested community after a coronavirus disease 2019 outbreak – the CoNAN study. Clinical Microbiology and Infection. DOI: 10.1016/j.cmi.2020.11.009.
[3] Peter RS et al. (2022): Post-acute sequelae of covid-19 six to 12 months after infection: population based study. BMJ. DOI: 10.1136/bmj-2022-071050.
[4] STROBE (2023): Checklists. Leitlinien zum Berichten von Beobachtungsstudien.
[5] National Institute for Health and Care Excellence (NICE) (2020): COVID-19 rapid guideline: managing the long-term effects of COVID-19.
[6] World Health Organization (2021): A clinical case definition of post COVID-19 condition by a Delphi consensus, 6 October 2021.
[7] World Health Organisation (2023): A clinical case definition for post COVID-19 condition in children and adolescents by expert consensus, 16 February 2023.
[8] Robert Koch-Institut (22.08.2023): FAQ zu Long COVID.
[9] Nübel J et al. (2022): Long COVID – eine Herausforderung für Public Health und Gesundheitsforschung. Epidemiologisches Bulletin. DOI 10.25646/10753.
[10] Scheibenbogen C et al. (2023): Fighting Post-COVID and ME/CFS – development of curative therapies. Frontiers in Medicine. DOI: 10.3389/fmed.2023.1194754.
[11] Robert Koch-Institut (22.08.2023): FAQ zu Long COVID. Frage „Was bedeutet Long COVID für die Gesundheitsversorgung in Deutschland?“
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] O’Mahoney LL et al. (2022): The prevalence and long-term health effects of Long Covid among hospitalised and non-hospitalised populations: a systematic review and meta-analysis. eClinicalMedicine. DOI: 10.1016/j.eclinm.2022.101762.
Prof. Dr. Andreas Stallmach
Direktor der Klinik für Innere Medizin IV und Leiter des Long-COVID-Zentrums, Universitätsklinikum Jena, und Mitautor der S1-Leitlinie Long/Post-COVID
Prof. Dr. Clara Lehmann
Fachärztin für Innere Medizin, Infektiologie, Reisemedizin und Leiterin des Infektionsschutzzentrums, der Infektionsambulanz sowie der Post-Covid-Ambulanz, Uniklinik Köln
Prof. Dr. Dietrich Rothenbacher
Leiter des Instituts für Epidemiologie und medizinische Biometrie, Universität Ulm
Dr. Christa Scheidt-Nave
Leiterin des Fachgebiets „Körperliche Gesundheit“ sowie des Projekts „Postakute gesundheitliche Folgen von COVID-19 (Post-COVID-19)“, Robert Koch-Institut (RKI), Berlin
Prof. Dr. Peter Berlit
Generalsekretär, Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), und niedergelassener Neurologe sowie Mitautor der S1-Leitlinie Long/Post-COVID