Gletscher enthalten weniger Eis als bisher angenommen
Die weltweit schmelzenden Gletscher könnten deutlich weniger zum Meeresspiegelanstieg beitragen als bisher angenommen. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren einer aktuellen Studie, die am 07.02.2022 im Fachjournal „Nature Geoscience“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Die Wissenschaftler haben mit hochauflösenden Satellitendaten fast die gesamte globale Gletscherfläche untersucht, die Fließgeschwindigkeiten der Gletscher ermittelt und daraus Eisdicken und -volumina berechnet. Sie finden so, dass der Beitrag der schmelzenden Gletscher zum globalen mittleren Meeresspiegelanstieg 20 Prozent geringer sein könnte als bisher angenommen. Allerdings zeigen ihre Ergebnisse für die Gletscher verschiedener Regionen ganz unterschiedliche Abweichungen vom bisherigen Wissen: Während es im Himalaya 37 Prozent mehr Eis in den Gletschern gibt als bisher angenommen, sind es in den tropischen Regionen der Anden 27 Prozent weniger. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Wasserversorgung der Menschen in diesen Regionen.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW), Department Bau, Umwelt und Geomatik, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz, und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department of Geoscience, Universität Fribourg, Schweiz
„Seit über einem Jahrzehnt ist die Schätzung der Eisdicke und des Volumens aller Gletscher weltweit ein aktives Forschungsgebiet. Diese Studie ist eindeutig ein großer Schritt vorwärts, da sie sich auf viel detailliertere Satellitendaten stützt als frühere Untersuchungen. Die Methodik ist innovativ und dieser Ansatz konnte nun das erste Mal auf globaler Skala angewendet werden. Grundsätzlich bleibt das Bild, das wir von der Verteilung des Eisvolumens haben, aber immer noch ähnlich, auch wenn die Zahlen nun immer genauer quantifiziert werden können.“
„Der in dieser Studie präsentierte Datensatz wird ein zentraler Input sein, um weiterführende Modelle zu füttern, welche die Veränderung der Gletscher als Reaktion auf die Klimabedingungen berechnen. In dem Sinn ist die Eisdicke die wichtigste Startbedingung, da sie aussagt, wie viel Eis potenziell schmelzen kann und damit zum Meeresspiegelanstieg oder zum Abfluss der großen Flüsse beitragen kann. Die Prozesse des Gletscherrückgangs an sich werden in dieser Studie hingegen nicht angesprochen. Sie liefert eine Basis, um Prognosen verbessern zu können.“
Auf die Frage, inwiefern sich aus den bislang vermessenen 4.700 Gletschern verlässliche Aussagen zur Gesamtsituation der Gletscher weltweit treffen lassen:
„Im Vergleich zu den ersten Studien, die die globale Eisdicke schätzten, sind die 4 700 Gletscher mit Messungen ein gewaltiger Fortschritt – vor zehn Jahren kannte man erst rund 300 Gletscher mit direkten Messungen der Dicke. Es ist genau die Herausforderung, die sich der Wissenschaft stellt, aufgrund von unvollständigen Informationen möglichst gute Aussagen machen zu können. Die Fernerkundung liefert keine Daten zur Eisdicke, sondern nur Daten, mit welchen sich die Eisdicke mit Rechenmodellen ableiten lässt. Hier macht die Studie einen großen Fortschritt im Hinblick darauf, dass nun die ganze Breite der Fernerkundungsdaten in die Berechnung eingebunden werden kann.“
Auf die Frage, wie die Aussage der Studie, der mögliche Beitrag zum Meeresspiegelanstieg sei mit 257 Millimetern um 20 Prozent niedriger als bisher mit den Zahlen im IPCC-Sonderbericht zur Kryosphäre (SROCC) zusammenpasst, der von 200 Millimetern bei RCP8.5 spricht [VI]:
„Die aktuelle Studie bestimmt NICHT den Anstieg des Meeresspiegels, der zu einem gewissen Zeitpunkt in der Zukunft auftritt – wie dies der SROCC Bericht tut. Sie liefert das gesamte Eisvolumen und damit das Potenzial, wenn alles Eis der Gletscher abschmilzt. Ob und wann dies passiert, wird durch andere Modelle berechnet, welche den neuen Datensatz nun verwenden werden. Der geringere Wert im SROCC-Bericht beruht darauf, dass dort die Schmelze bis ins Jahr 2100 im Extrem-Szenario bestimmt wurde. Aber auch in diesem Szenario verbleibt noch ein Teil des Eisvolumens. Bei günstigeren Szenarien – also zum Beispiel dem Zwei-Grad-Szenario – blieben wir sogar deutlich unter dem Potenzial, das hier quantifiziert wurde. Das heißt, die Gletscher wären auch in Zukunft noch da – obwohl kleiner als heute.“
Professor für Klimageographie, Institut für Geographie, Universität Bremen
„Es ist bekannt, dass es große Unsicherheiten bei der Menge des in Gletschern gespeicherten Eises gibt. Das liegt daran, dass Eisdickenmessungen nicht per Fernerkundung durchgeführt werden können, sondern nur lokal – man muss auf dem Eis stehen. Entsprechend aufwändig und selten sind solche Messungen gerade in den Regionen der Welt, die abgelegen sind und in denen es viel Eis gibt.“
„Die Unsicherheit in den absoluten Zahlen ist daher nicht überraschend. Ich sehe allerdings den großen Fortschritt in dieser Studie gerade nicht in der Bestimmung der absoluten Zahlen der Eismasse, auch wenn die Autoren vor allem diesen Aspekt betonen.“
„Die Methode hängt sehr stark von der Kalibrierung des Parameters A in Gleichung 4 im Paper ab – was auch bedeutet, dass sie stark von den (wenigen) direkt gemessenen Daten zur Eisdicke abhängt. In den Alpen liegt eine relativ große Zahl dieser Messungen vor; hier wenden die Autoren dann eine quadratische Annäherung für A an, weil große Eisdicken bei Verwendung eines konstanten A unterschätzt werden.“
„In den anderen Regionen – das heißt, auch in den Regionen, aus denen wenige direkte Messungen der Eisdicke vorliegen, die aber deutlich größere Mengen an Eis speichern – wird aber trotzdem jeweils ein konstanter Wert für A angenommen. Man kann also spekulieren, dass auch dort große Eisdicken unterschätzt werden, es mangels direkter Beobachtungen nur nicht auffällt. Vor allem weist dies aber darauf hin, dass die Kalibrierung nicht sehr robust ist. Entsprechend halte ich die regionalen und globalen Differenzen zur vorigen Abschätzung [1] ebenfalls nicht für robust.“
„Hinzu kommt, dass das globale Eisvolumen in dieser Studie keineswegs 20 Prozent niedriger geschätzt wird als zuvor, sondern lediglich 11 Prozent. Berücksichtigt man, dass die vorigen Zahlen in etwa dem Eisvolumen des Jahres 2000 entsprechen und dass seitdem die Gletscher Eis verloren haben, bleiben nur etwa 7 Prozent Differenz übrig. Das ist kein signifikanter Unterschied zur vorigen Abschätzung, wenn man die Unsicherheiten berücksichtigt.“
„Der um 20 Prozent verringerte potenzielle Beitrag zum Meeresspiegel rührt lediglich daher, dass die aktuelle Studie größere Teile des Eises in der Antarktis dem Eisschild zuschlägt – statt den vom Eisschild unabhängigen Gletschern. Entsprechend erhöht sich dann der potenzielle Beitrag des antarktischen Eisschilds um den gleichen Betrag. Ich halte daher die Angabe eines um 20 Prozent verringerten Potentials des Meeresspiegelanstiegs für grob irreführend – die ‚Umbuchung‘ des Eises von der einen Kategorie in die andere hat keinerlei Auswirkungen auf den tatsächlich zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels.“
„Allerdings bin ich überzeugt, dass die Methodik eine deutlich verbesserte Abschätzung der Verteilung des Eises innerhalb der einzelnen Gletscher liefert und halte daher – trotz meiner Bedenken gegenüber den absoluten Zahlen – den hier präsentierten Datensatz für sehr hilfreich.“
Auf die Frage, wie die Aussage der Studie, der mögliche Beitrag zum Meeresspiegelanstieg sei mit 257 Millimetern um 20 Prozent niedriger als bisher mit den Zahlen im IPCC-Sonderbericht zur Kryosphäre (SROCC) zusammenpasst, der von 200 Millimetern bei RCP8.5 spricht [VI]:
„Die eine Zahl (257 Millimeter) ist der potenzielle Beitrag der Gletscher zum Meeresspiegel – also: Wie hoch steigt der Meeresspiegel, wenn alle Gletscher vollständig schmelzen und alles Wasser im Meer landet? Die andere Zahl (200 Millimeter) ist eine konkrete Abschätzung, wie viel Gletschereis bis zum Jahr 2100 unter dem RCP8.5-Szenario abschmelzen wird.“
Professorin in der Section of Physical geography and Hydrology, University of Oslo, Norwegen und Professorin für Geophysik, Geophysikalische Institut, University of Alaska, USA, Norwegen
„Die Studie präsentiert zum ersten Mal Oberflächengeschwindigkeiten mit hoher räumlicher Auflösung von so gut wie allen Gletschern der Welt außerhalb der Eisschilde in Grönland. Diese Geschwindigkeitsfelder wurden dann benutzt, um die Eisdickenverteilung aller Gletscher zu berechnen.“
Auf die Frage, inwiefern sich aus den bislang vermessenen 4.700 Gletschern verlässliche Aussagen zur Gesamtsituation der Gletscher weltweit treffen lassen:
„Leider lassen sich mit Satelliten sehr schlecht die Eisdicken der Gletscher ermitteln. Im Gegensatz zu den Eischilden sind die Gletscher wesentlich kleiner und liegen oft in tiefen Tälern. Messungen basieren auf direkten Beobachtungen, entweder mit Radarmessungen oder Tiefbohrungen. Solche Messungen sind zeitaufwendig und kostspielig, sodass direkte Eisdickeninformationen nur von einem Bruchteil der Gletscher vorhanden sind.“
„Daher wurden in dieser Studie die Eisdicken mittels numerischer Modelle berechnet, die die physikalischen Prozesse des Fließens von Eis mathematisch beschreiben und so aus den Satelliten-gestützten neuen Geschwindigkeitsfeldern die Geschwindigkeiten ableiten können. Die direkten Eisdickenmessungen dienen dann dazu, die Modelle zu eichen und Ergebnisse zu validieren.“
Auf die Frage, wie die Aussage der Studie, der mögliche Beitrag zum Meeresspiegelanstieg sei mit 257 Millimetern um 20 Prozent niedriger als bisher mit den Zahlen im IPCC-Sonderbericht zur Kryosphäre (SROCC) zusammenpasst, der von 200 Millimetern bei RCP8.5 spricht [VI]:
„Die Aussage ist irreführend, da das globale Eisvolumen dieser Studie von 257 Millimetern große Gletschergebiete in der Antarktis nicht einbezieht, die in früheren Studien einbezogen wurden. Das Eisvolumen für die gleiche Auswahl globaler Gletscher dieser Studie ist praktisch identisch mit der bisherigen Konsensusstudie.“
„Allerdings finden die Autoren erhebliche Unterschiede in bestimmen Gletscherregionen, was wichtige Konsequenzen hat. Das Gletschervolumen bestimmt zum Beispiel, wie viele Wasserreserven in einem Einzugsgebiet vorhanden sind und potenziell schmelzen können, wenn sich die Gletscher – wie erwartet – weiter zurückziehen. Wenn die Eisvolumen wesentlich geringer sind als bisher angenommen, kann das erhebliche Auswirkungen auf die Frischwasserressourcen haben. Diese Studie verbessert signifikant die bisherigen Ergebnisse.“
„Die aktuelle Studie berechnet derzeitiges Eisvolumen, während dieser Wert im SROCC eine Projektion ist, wie viel des derzeitigen Gletschereises abschmilzt und zum Meeresspiegelanstieg beiträgt. Natürlich kann nicht mehr abschmelzen als was am Anfang da war. Die Angaben im SROCC beziehen sich auf das umfassendere Gletschergebiet als das, das in den 257 Millimetern bei der neuen Studie steckt.“
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Earth Observation Center, Abteilung Dynamik der Landoberfläche, Team kalte und polare Regionen, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Oberpfaffenhofen
„Die aktuelle Studie liefert neue Erkenntnisse über die globale Verteilung des Eisvolumens von Gletschern. Die Verwendung neu berechneter globaler Gletscherfließgeschwindigkeiten aus Satellitendaten und die Integration eines umfassenderen Datensatzes von bodengestützten Eisdickenmessungen hat zu neuen Ergebnissen in der Eisdicken-Modellierung geführt. Die Studie zeigt, dass das globale Eisvorkommen von Gletschern nach aktuellem Kenntnisstand 20 Prozent geringer ist als bisher angenommen. Das ist insbesondere für Bevölkerungsgruppen von Bedeutung, deren Trinkwasserverfügbarkeit von der Gletscherschmelze abhängt. Hochgebirge sind die Wassertürme unserer Erde und entscheidend für die Trinkwasserversorgung von etwa 1,9 Milliarden Menschen [2]. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass 37 Prozent mehr Eisvolumen im Himalaya und 27 Prozent weniger Eisvolumen (siehe Anmerkung unten!) in den Anden vorhanden ist als bisher gedacht. Mit dieser neuen Erkenntnis sollte die zukünftige Trinkwasserverfügbarkeit im Rahmen des Klimawandels neu evaluiert werden. Insbesondere deshalb, da sowohl die Anden als auch der Himalaya eine wichtige Rolle in der Trinkwasserversorgung einnehmen [2]."
„Zu den Unsicherheiten in der Modellierung: Man ist sich durchaus bewusst, dass verschiedene Eisdicken-Modelle sehr unterschiedliche Ergebnisse liefern und die Ergebnisse der Modellierungen stark von der Qualität der Eingangsdaten abhängen [3]. Deshalb hat man beispielsweise Ensemble-Ansätze genutzt und die Ergebnisse verschiedener Modelle gemittelt, um robustere Ergebnisse zu erhalten3. Dass die Unsicherheiten bei den bisherigen Berechnungen relativ groß sind, ist durch die angegebene Standardabweichung verdeutlicht (0.32 ± 0.08m [1] versus 257 ± 85 mm). Die Wissenschaftler sind sich der Grenzen ihrer Modellansätze durchaus bewusst, aber meist stehen nicht immer alle benötigten Datensätze zur Verfügung, um ein perfektes Modell ohne Limitierungen zu entwerfen.“
„Die neuen Erkenntnisse zur Verteilung der Eismassen sind für die Berechnung des zukünftigen Meeresspiegelanstieges und der Trinkwasserverfügbarkeit relevant. Beispielsweise besteht laut dieser Studie ein größeres Süßwasservorkommen im Himalaya als bisher angenommen. Ob dieser Vorrat aber auch wirklich länger reichen wird oder es zu einem verstärken Abfluss kommt, muss mit regionalen Modellierungen überprüft werden. Wie schnell ein Gletscher abschmilzt, wird nicht nur durch die Eisdicke und Größe bestimmt, sondern auch durch viele weitere Faktoren und Rückkopplungen – zum Beispiel Exposition, Schneeakkumulation, Albedo, Morphologie, Höhenlage, Topographie, Strahlung, Schuttbedeckung und so weiter.“
Auf die Frage, inwiefern sich aus den bislang vermessenen 4.700 Gletschern verlässliche Aussagen zur Gesamtsituation der Gletscher weltweit treffen lassen:
„Man kann die wenigen vorhandenen Eisdickenmessungen zum Kalibrieren des Modells nutzen, um dann die Eisdicke für die restlichen Gletscher zu modellieren. Natürlich ist das immer mit großen Unsicherheiten behaftet, aber zum jetzigen Wissensstand sind die 4 700 Messungen eben die beste Datengrundlage, die man hat.“
„Relative Eisdickenänderung kann man mit Satellitenfernerkundung bestimmen [4][5], jedoch nicht die absolute Eisdicke eines Gletschers. Hierfür werden bodengestützte Methoden wie Bohrungen, geophysikalische Messmethoden oder Überflüge mit entsprechenden Radar-Sensoren benötigt. Diese Methoden sind teuer und sehr aufwendig, wodurch die globalen Eisdickenmessungen limitiert sind. Wenn man in Zukunft Satelliten hätte, mit denen man Eisdicken messen könnte, würde sich die Datengrundlage natürlich deutlich verbessern.“
Auf die Frage, inwiefern sich aus den Erkenntnissen zu den Gletschern Rückschlüsse auf andere Eismassen-Systeme ziehen lassen:
„Für das Antarktische und Grönländische Eisschild gibt es flächendeckend sowohl topographische, oberflächentopographische Daten als auch Informationen zur Eisdicke. Diese wurden aus Überflügen und bodengestützten Messungen generiert und die bestehenden Datenlücken durch Modellierungen gefüllt. Daten für die Antarktis [6] und Grönland [7] finden Sie in den genannten Quellen.“
Auf die Frage, wie die Aussage der Studie, der mögliche Beitrag zum Meeresspiegelanstieg sei mit 257 Millimetern um 20 Prozent niedriger als bisher mit den Zahlen im IPCC-Sonderbericht zur Kryosphäre (SROCC) zusammenpasst, der von 200 Millimetern bei RCP8.5 spricht [VI]:
„Hier geht es um zwei verschiedene Dinge. Die Autoren der aktuellen Studie haben das global verfügbare Gletschereisvolumen berechnet. Dieses ist im Vergleich um 20 Prozent geringer als das Ergebnis der bisher besten verfügbaren Studie [1]. Also 257 ± 85 mm (Millan) versus 0.32 ± 0.08m (Farinotti).“
„Der IPCC bezieht sich mit den von Ihnen genannten Zahlen auf den zukünftigen Verlust der Gletschereismasse. Hier geht man unter einem Szenario mit hohen Emissionen (RCP8.5) davon aus, dass zwischen 2015 und 2100 die Gletscher so sehr abschmelzen werden, dass es einem Meeresspiegelanstieg von 200 Millimetern entsprechen würde. Würde das RCP8.5-Szenario tatsächlich eintreten, wäre das verbleibende Gletschereisvolumen im Jahr 2100 nur noch sehr gering.“
„Noch eine Anmerkung: Im Abstract formulieren die Autoren, dass es 27 Prozent weniger Süßwasserressourcen in den Anden gibt als bisher angenommen (‚At low latitudes, our findings highlight notable changes in freshwater resources, with 37% more ice in the Himalayas and 27% less ice in the Andes of South America‘). Wenn man sich dann aber die Tabelle 1 ansieht, ist die Differenz nicht minus 27 Prozent, sondern plus 10 Prozent für die Anden und minus 27 Prozent für die ‚low latitudes‘. Wenn man dann noch die Tabelle S1 ansieht und mit dem Consensus Estimate 2019 vergleicht, der ja der Referenzwert für Tabelle 1 ist, ist die Differenz minus 1,99 Prozent für RGI Region 17, welche den Anden entspricht. Und für die ‚low latitudes‘ ist die Differenz auf einmal minus 8 Prozent (RGI Region 16). Ein Unterschied kann natürlich dadurch zustande kommen, dass Tabelle S1 noch nicht für Eis unterhalb des Meeresspiegels korrigiert ist und Tabelle 1 schon. Allerdings dürfte das für die Anden und die ‚low latitudes‘ nicht einen so drastischen Unterschied machen, sondern eher für Gletscher in der Antarktis, in Grönland und Alaska, da diese ins Meer münden.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, Department Geographie und Geowissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Auf die Frage, inwiefern es überraschend ist, dass sich die Abweichungen gegenüber den bisherigen Annahmen in diesen Größenordnungen bewegen:
„Es ist nicht überraschend, dass es diese Abweichungen zu den bisherigen Annahmen gibt. Alle Annahmen unterliegen einer gewissen Unsicherheit, die auch immer mit angegeben wird. Schaut man sich die Unsicherheiten beider Studien an [1], sieht man, dass sich die Ergebnisse von beiden Studien in diesem Unsicherheitsbereich klar überlappen. In einigen Regionen sehr stark und in anderen Regionen etwas weniger. Auf lokaler Ebene werden die neuen Ergebnisse dazu führen, dass man einige der bisherigen Analysen zu den Folgen der Gletscherschmelze – wie zum Beispiel die Wasserversorgung und Naturgefahren – aktualisieren sollte. Jedoch bleibt die Gesamterkenntnis bestehen, dass sich zum Beispiel die Gletscherschmelze stark auf den Wasserhaushalt auswirkt oder zu einer Erhöhung des Potenzials für Naturgefahren führt – Stichwort Gletschersee-Ausbrüche. Nur das Timing oder die Größenordnung dieser Auswirkungen kann sich durch eine neue Analyse verändern.“
„Prognosen, basierend auf den neuen Eisdickenwerten, werden wahrscheinlich zeigen, dass einige Gebiete früher oder auch später eisfrei werden, mit entsprechenden Konsequenzen für die Albedo-Änderung. Wie bereits zuvor erwähnt, werden aktualisierte Analysen über die Gletscherentwicklung besonders auf lokalen Skalen wahrscheinlich zu Änderungen im Timing und der Größenordnung der Gletscherschmelze führen. Global betrachtet wird dieser Unterschied wahrscheinlich jedoch weniger stark ausfallen. Der Unterschied des gesamten globalen Eisvolumens zwischen der neuen Studie (140,8 +/- 40,4 Kubikkilometer) und der Abschätzung von 2019 (158,17 +/- 41,03 Kubikkilometer) beträgt nur etwa 11 Prozent und ist somit deutlich geringer als die Unsicherheiten der einzelnen Studien.“
Auf die Frage, inwiefern sich aus den bislang vermessenen 4 700 Gletschern verlässliche Aussagen zur Gesamtsituation der Gletscher weltweit treffen lassen:
„Die Messungen der Eisdicken sind nicht gleichmäßig über alle Gletscher weltweit verteilt und sind auch nicht repräsentativ für alle Gletscher. Selbst in einzelnen Gletscherzonen mit einer relativ hohen Anzahl an Messungen sind die gemessenen Gletscher nicht unbedingt repräsentativ für alle Gletscher in dieser Zone. Dies liegt darin begründet, dass die Eisdickenmessungen an Gebirgsgletschern meist per Georadar durchgeführt werden. Dieses Georadar wird von einer Person oder einem Schneemobil über den Gletscher gezogen. Somit können nur gut zugängliche und ungefährliche Gletscher vermessen werden. In vielen Gebieten der Welt sind die Gletscher jedoch nur sehr schwer zugänglich – sie sind dann abgelegen, liegen in großer Höhe, es gibt Gletscherspalten, Lawinengefahr und so weiter. Per Satellit kann man leider keine Eisdicken messen. Es können aber Eisdickenänderungen ermittelt werden, indem man die Höhenänderungen der Gletscheroberfläche bestimmt.“
Auf die Frage, inwiefern Rückschlüsse auf den Stand des Wissens zu den Eismassen außerhalb der Gletschersysteme möglich sind:
„Die Abweichung zwischen den Studien sind nur auf den ersten Blick groß. Man muss immer auch die Unsicherheiten (Fehlerangaben) mitberücksichtigen. Hierbei zeigt sich, dass die Ergebnisse der beiden Studien im Fehlerbereich überlappen. Es ist auch völlig normal, dass die unterschiedlichen Ansätze dazu führen, dass man eine Streuung der Ergebnisse bekommt. Auch bei den Eisdicken-Modellierungen für die Eisschilde gibt es Differenzen. Auch wenn zum Beispiel die Abweichungen für die gesamte Antarktis zwischen den beiden wichtigsten Veröffentlichungen Bedmap2 von 2013 [6] und BedMachine von 2019 [8] recht gering ist, gibt es auf lokaler Ebene teils starke Unterschiede. Dies liegt zum einen in der Methodik begründet, aber auch die zunehmende Verfügbarkeit von Referenzmessungen ermöglicht immer detailliertere Abschätzungen.“
Frage, wie die Aussage der Studie, der mögliche Beitrag zum Meeresspiegelanstieg sei mit 257 Millimetern um 20 Prozent niedriger als bisher mit den Zahlen im IPCC-Sonderbericht zur Kryosphäre (SROCC) zusammenpasst, der von 200 Millimetern bei RCP8.5 spricht [VI]:
„Der Meeresspiegelanstieg um 257 Millimeter kommt zustande, falls das komplette modellierte Gletschereis abschmelzen würde. Der Wert aus dem SROCC-Bericht bezieht sich auf den Zeitraum von 2015 bis 2100. Selbst beim RCP8.5-Szenario werden bis 2100 nicht alle Gletscher komplett geschmolzen sein.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, Department Geographie und Geowissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
„Erst seit kurzem ist es uns Glaziologen möglich, die Geschwindigkeiten aller Gletscher weltweit nahezu in Echtzeit zu verfolgen. Diese Geschwindigkeitsbeobachtungen wurden in der aktuellen Studie nun mit Modellierverfahren verknüpft. Nicht nur, um die Eismenge in Gletschern grob abzuschätzen, sondern auch, um die Verteilung über die gesamte Gletscherfläche zu bestimmen. Dieser weitere Informationsbaustein ist wichtig und bringt weiteres Licht ins Dunkel unter unseren Gletschern.“
„Obgleich der Berücksichtigung dieser Geschwindigkeitsbeobachtungen ist die Methodik nicht komplett neu. Wie alle bisherigen Rekonstruktionsverfahren stehen und fallen solchen Abschätzungen mit der Kalibrierungsstrategie. Die Qualität ist an die Anzahl und Abdeckung von Referenzmessungen gekoppelt. Auch hier ist ein Fortschritt zu verzeichnen. Eine Vielzahl neuerer Messungen wurden zwischenzeitlich zu einer globalen Datenbank hinzugeführt [IV] und hier benutzt.“
„Mit Hinblick auf die verbleibenden Unsicherheiten müssen wir unser Wissen zur Eisdickenverteilung in Gletschern nun nicht grundlegend revidieren. Diese Studie reiht sich daher aus meiner Sicht in einige Vorgängerstudien ein und liefert einen weiteren wichtigen Informationsbaustein.“
„Abgesehen von der reinen Wassermenge, welche in Gletschern gespeichert wird, gibt die Kenntnis von Eismächtigkeiten Informationen über das Untergrundgelände. Dieses ist entscheidend für die eis-dynamische Entwicklung von Gletschern. Also, wie schnell ziehen sich Gebirgsgletscher in die Gipfelbereiche zurück. Bei Gletschern, welche ins Meer oder in Seen enden, sind es zudem kleine Details des Gletscheruntergrundes, welche über Eisbergproduktionsraten und damit über Rückzugsgeschwindigkeiten entscheiden. Schon in diesem Jahrhundert stellen diese eis-dynamischen Massenverluste die große Unbekannte unter klimatischer Erwärmung dar. Die flächenhafte Betrachtung von Gletschersystemen in der vorliegenden Studie gibt hier einen entscheidenden Mehrwert. Der Grund ist, dass kalbende Gletscher oftmals erhöhte Fließgeschwindigkeiten nahe der Eisfront zeigen, welche wir präzise aus dem All messen können. Diese gehen hier nun direkt in die Bestimmung der Eismächtigkeit ein.“
Auf die Frage, inwiefern sich aus den bislang vermessenen 4 700 Gletschern verlässliche Aussagen zur Gesamtsituation der Gletscher weltweit treffen lassen:
„Vor-Ort-Messungen von Eismächtigkeiten (Dicken) auf Gletschern sind eine große Herausforderung. Obwohl alle Gletscher zusammen nur einen Bruchteil der Fläche beider Eisschilde bedecken, gibt es eben sehr viele. Diese sind dann noch weitläufig verteilt und meist schwer zugänglich. Obwohl die Anzahl der Gletscher, für die Beobachtungen vorliegen, klein ist, konzentrieren wir Glaziologen uns natürlich auf die interessanten ‚Leitwölfe'. Diese knapp 5 000 Gletscher stellen zwar nur 2 Prozent aller Gletscher dar, bedecken aber rund 40 Prozent der weltweiten Gletscherfläche. Der große Rest ist eher klein und dünn. Also Kanonenfutter unter klimatischer Erwärmung. Mit ihrer schieren Anzahl beherbergen diese kleinen Gletscher aber dennoch viel Eis.“
„Ein klaffender Mangel an Feldmessungen besteht vor allem in Hochasien. Wie die aktuelle Studie eindrucksvoll zeigt, gibt es dort noch große Unsicherheiten in der Wassermenge, welche in Gletschern gespeichert ist. In dieser Gegend sind diese natürlichen Wassertürme schon heute entscheidend für die Wasserversorgung der Nahgebiete in saisonalen Trockenzeiten.“
„Von Satteliten-Expeditionen zum Mars haben wir Erfahrung, Eismächtigkeiten (-dicken) von weitläufigen Eisschilden mit Radarsystemen aus dem All zu messen. Bedingt durch die Erdatmosphäre ist dies auf unserem Planenten leider nicht möglich, selbst nicht in Grönland oder in der Antarktis. Viele Gletscher liegen zudem im Hochgebirge, also in schwierigem Gelände, was die Beobachtungen weiter erschwert.“
Auf die Frage, inwiefern Rückschlüsse auf den Stand des Wissens zu den Eismassen außerhalb der Gletschersysteme möglich sind:
„Die beiden großen Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis beherbergen mehr als hundertmal so viel Eis als wir in Gletschern finden. Daher bemühen sich Glaziologen weltweit schon seit Jahrzehnten, die gewaltigen Eismengen zu vermessen. Zentrales Werkzeug sind dabei flugzeuggestützte Radarmessungen, welche beide Eisschilde wie ein Spinnennetz überspannen. Dank dieser Messungen ist die gesamte Eismenge recht gut bekannt. Hier liegt nun das Augenmerk auf dynamisch interessanten Gletschern, um dort das Netz weiter zu verfeinern. Ein Beispiel ist der Thwaites-Gletscher in der Antarktis. Kleine Details in der Untergrundkarte entscheiden hier über Beiträge zum Meeresspiegelanstieg im Vergleich mit allen Gletschern weltweit. Und das in einer nicht allzu fernen Zukunft.“
„Mir sind keine potenziellen Interessenkonflikte bewusst."
„Es bestehen keine Interessenkonflikte."
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Millan R et al. (2022): Ice velocity and thickness of the world’s glaciers. Nature Geoscience. DOI: 10.1038/s41561-021-00885-z.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Farinotti D et al. (2019): A consensus estimate for the ice thickness distribution of all glaciers on Earth. Nature Geoscience. DOI: 10.1038/s41561-019-0300-3. auch Referenz 9 in der aktuellen Studie.
[2] Immerzeel WW et al. (2020): Importance and vulnerability of the world’s water towers. Nature. DOI: 10.1038/s41586-019-1822-y.
[3] Farinotti D et al. (2017): How accurate are estimates of glacier ice thickness? Results from ITMIX, the Ice Thickness Models Intercomparison eXperiment. The Cryosphere. DOI: 10.5194/tc-11-949-2017.
[4] Zemp M et al. (2019): Global glacier mass changes and their contributions to sea-level rise from 1961 to 2016. Nature. DOI: 10.1038/s41586-019-1071-0.
[5] Hugonnet R et al. (2021): Accelerated global glacier mass loss in the early twenty-first century. Nature. DOI: 10.1038/s41586-021-03436-z.
[6] Fretwell P et al. (2013): Bedmap2: improved ice bed, surface and thickness datasets for Antarctica. The Cryosphere. DOI: 10.5194/tc-7-375-2013.
[7] Morlighem M et al (2017). BedMachine v3: Complete Bed Topography and Ocean Bathymetry Mapping of Greenland From Multibeam Echo Sounding Combined With Mass Conservation. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1002/2017GL074954.
[8] National Snow & Ice Data Center (2020): MeaSUREs BedMachine Antarctice, Version 2. Webseite der NSIDC. DOI: 10.5067/E1QL9HFQ7A8M.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Global Land Ice Measuement from Space (2017): Randolph Glacier Inventory. Webseite.
[II] World Glacier Monitoring Service. Webseite.
[III] IPCC (2021): Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press.
[IV] Welty E et al. (2020): Worldwide version-controlled database of glacier thickness observations. Earth System Science Data. DOI: 10.5194/essd-12-3039-2020.
[V] Global Terrestrial Network for Glaciers (2020): Glacier Thickness Database (GlaThiDa) 3.1.0. World Glacier Monitoring Service. DOI: 10.5904/wgms-glathida-2020-10.
[VI] IPCC (2019): Special Report on the Ocean and Crysophere in a Changing Climate.
Dr. Matthias Huss
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW), Department Bau, Umwelt und Geomatik, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz, und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department of Geoscience, Universität Fribourg, Schweiz
Prof. Dr. Ben Marzeion
Professor für Klimageographie, Institut für Geographie, Universität Bremen
Prof. Dr. Regine Hock
Professorin in der Section of Physical geography and Hydrology, University of Oslo, Norwegen und Professorin für Geophysik, Geophysikalische Institut, University of Alaska, USA, Norwegen
Dr. Celia Baumhoer
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Earth Observation Center, Abteilung Dynamik der Landoberfläche, Team kalte und polare Regionen, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Oberpfaffenhofen
Dr. Thorsten Seehaus
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, Department Geographie und Geowissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Johannes Fürst
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, Department Geographie und Geowissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg