Gentherapie gegen Bluterkrankheit Hämophilie A
Mit dem Ziel, eine erste Gentherapie für die sogenannte erbliche Bluterkrankheit Hämophilie A zur Zulassung zu bringen, veröffentlichte ein internationales Team von Forschenden in Kooperation mit dem Pharmaunternehmen BioMarin Pharmaceutical Zwischenergebnisse der bisher umfassendsten laufenden Phase-III-Studie im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ (siehe Primärquelle). Die Ergebnisse umfassen die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Gentherapie innerhalb der ersten 51 Wochen nach einer einmaligen Behandlung bei 134 Probanden.
Leiter Schwerpunkt Hämostaseologie in der Medizinischen Klinik II / Institut für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie, Universitätsklinikum Frankfurt
„Trotz verbesserter Faktorersatzpräparate gibt es in der Hämophilie-Therapie weiterhin viele ‚unmet needs‘. Das Therapiemanagement könnte sich künftig durch die Gentherapie mittels Adeno-assoziierten Viruskonstrukten (AAV) grundlegend verändern. Erste klinische Studienergebnisse zeigen, dass nach einmaliger Gabe die Faktorspiegel in therapeutische Bereiche ansteigen und die Prophylaxe beendet werden kann.“
„Die Veröffentlichung der Phase-III-Studie zu Valoctocogene roxaparvovec ist ein weiterer wichtiger Meilenstein für die Gentherapie der Hämophilie.“
„Mit 134 Patienten mit schwerer Hämophilie wurde die weltweit größte Anzahl von Patienten eingeschlossen, die jemals in einer Gentherapie-Studie der Bluterkrankheit behandelt wurden.“
„In Ergänzung zu Daten einer früheren klinischen Phase-I-Studie, in der ein Anstieg des Gerinnungsfaktors VIII in den therapeutischen Bereich über einen Zeitraum von fünf Jahren nachweisbar war, zeigt die aktuelle Studie einen Anstieg der Faktor VIII-Aktivität bis zu zwei Jahren von im Mittel 42,2 Prozent und im Median 23,9 Prozent. Gemessen mit einem chromogenen Faktor VIII-Test (Test zur photometrischen Bestimmung der Faktor VIII-Aktivität im menschlichen Blutplasma; Anm. d. Red.). Auffällig ist jedoch, dass die Expression des Faktor VIII-Transgens mit der Zeit abnimmt.“
„Bei der Mehrzahl der Patienten konnte die vorherige prophylaktische Therapie mit einem Faktorkonzentrat abgesetzt werden. Zudem traten deutlich weniger Blutungen auf. Bei 117 Patienten war ein Vergleich mit der Blutungsrate und Faktorersatztherapie vor der Gentherapie möglich: Der Verbrauch an Faktorenkonzentrat sank signifikant um 98,6 Prozent. Es wurden ebenfalls signifikant weniger Blutungen behandelt.“
„Allerdings zeigten sich häufige Nebenwirkungen, die sich vor allem in einem Anstieg eines Leberenzyms manifestierten und zu einer immunsuppressiven Behandlung führten. Bei 85,8 Prozent der Patienten wurde eine Erhöhung des Enzyms Glutamat-Pyruvat-Transaminase (GPT) festgestellt, im Median acht Wochen nach der Infusion der viralen Gentherapie und für einen Zeitraum von im Median 15 Tagen.“
„Die Valoctocogene roxaparvovec-Studie ist die am weitesten fortgeschrittene Studie zur Gentherapie der Hämophilie A. Darüber hinaus gibt es weitere Phase-III-Studien mit anderen Viruskapsiden und Gentherapiekonstrukten. Es bleibt abzuwarten, welcher Ansatz am erfolgreichsten sein wird und wie sich die Faktor VIII-Aktivität im zeitlichen Verlauf weiter entwickeln wird.“
„In jedem Fall bilden die vorgelegten Daten eine gute Grundlage auf dem Weg zur Zulassung der ersten Gentherapie für Hämophilie.“
Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie Zentrum für Gefäßmedizin, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin
„Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind erfolgsversprechend. Viele Patienten können nach der Therapie auf die regelmäßige Injektion von Faktor VIII verzichten. Das setzt sich auch zwei Jahre nach der Gentherapie fort, diese erweiterten Ergebnisse wurden erstmals auf dem Kongress der European Association of Haemophilia and Allied Disorders (EAHAD) im Februar 2022 vorgestellt.“
„Die Expression des Faktor VIII ist etwa sechs Monate nach der Gentherapie am höchsten und fällt dann langsam ab. Wenn man in die allgemeine Auswertung die 5-Jahresdaten der Probanden der Phase-I-Studie hinzunimmt, dann kann man den Abfall nach fünf Jahren noch deutlicher sehen. Bei Hämophilie A ist eine Gentherapie bislang also keine dauerhafte Lösung, stellt aber dennoch eine vielversprechende Therapieoption dar.“
Auf die Frage, inwiefern die Ergebnisse eine Zulassung der Gentherapie rechtfertigen können:
„Die Studie beinhaltet ja die Zwischenauswertung nach einem Jahr. Blickt man nun auf die bisher nur auf dem EAHAD-Kongress vorgestellten 2-Jahresdaten, dann hat die Studie den primären Endpunkt erreicht, effektiv Blutungen zu verhindern. Aufgrund der neuartigen Therapie wäre es bei einer Zulassung sicher ratsam, alle Patienten in einem Register weiterzuverfolgen. Zudem sollten dort die Daten zur Wirksamkeit und potenziellen Nebenwirkungen festgehalten werden.“
„Ein Problem der Gentherapie ist, dass das individuelle Ergebnis sehr variabel ausfällt. Einzelne Probanden sprechen gar nicht auf die Therapie an, bei anderen sind hingegen sehr hohe Faktor VIII-Spiegel zu beobachten. Man kann den Erfolg für den einzelnen Patienten sehr schwer beziehungsweise gar nicht voraussagen. Der überwiegende Anteil der Patienten spricht allerdings positiv auf die Therapie an.“
“Ein Grund für den Nichterfolg einer Therapie könnte eine T-Zell-vermittelte Immunreaktion gegen den viralen Vektor sein, welche wiederum durch Immunsuppression behandeln werden kann. In der hier vorliegenden Studie benötigten im Verlauf 81 Prozent der Patienten eine Immunsuppression mit Prednisolon, um die Faktor VIII-Expression zu erhalten.“
„Die Gentherapie ist zudem nicht für alle Patienten geeignet. Adenoassoziierte Viren (AAV) kommen auch so in der Natur vor und einige Personen weisen bereits Antikörper gegen diese Viren auf, die auf eine vorangegangene Infektion hindeuten [1]. Alle Patienten, bei denen neutralisierende Antikörper gegen das Adenoassoziierte Virus (AAV-5) vorhanden sind, wurden von vornherein aus den Studien ausgeschlossen. Weil bei diesen Patienten die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Transduktion des Faktor VIII-Gens in die Leberzelle deutlich herabgesetzt ist. Es kommt in präklinischen Studien zu einer Elimination der AA-Viren durch die neutralisierenden Antiköper.“
„Eine Gentherapie mit Adenoassoziierten Viren kann die Hämophilie nicht final heilen, weil das in die Leberzelle eingebrachtes Gen nicht in das Erbgut integriert wird. Wenn die Leber sich im Laufe der Jahre regeneriert und neue Leberzellen bildet und alte absterben, dann sterben auch die Leberzellen ab, die das Gen tragen. Die eingeschleuste Erbinformation geht dann wieder verloren.“
„Dieselbe Therapie kann auch nicht wiederholt werden, weil einem bei der einmaligen Injektion sehr viele Viren infundiert werden, gegen die der Körper dann viele neutralisierende Antikörper bildet. Eine nachfolgende Gentherapie könnte man also nur mit anderen Virusvarianten durchführen. Aktuell wird eine Phase-I-Studie mit Lentiviralen Vektoren begonnen, durch die das Zielgen Faktor VIII in das Genom der Zelle eingebaut wird und die Information hoffentlich langfristig erhalten bleibt [2]. Allerdings besteht bei diesem Ansatz das Risiko, dass es durch den Einbau der Erbinformation zur Aktivierung von Onkogenen und damit zu Krebs kommt. Weiterhin befinden sich in der präklinischen Phase auch andere Ansätze wie zum Beispiel Therapien mit CRISPR-Cas.“
„Die Gentherapie mit Adenoassoziierten Viren ist allerdings ein erster erfolgversprechender Schritt zur Gentherapie der Hämophilie.“
Oberarzt in der Abteilung für Transfusionsmedizin, Zelltherapeutika und Hämostaseologie, Klinik für Anästhesiologie, Klinikum der Universität München (LMU)
„Mit der aktuellen Veröffentlichung liegen die Daten der multizentrischen Phase-III-Studie zur Gentherapie der schweren Hämophilie A (Präparat Valoctocogene roxaparvovec, Firma BioMarin) an insgesamt 134 Patienten vor. Die Studie zeigt vielversprechende Resultate in Bezug auf den Anstieg der gemessenen Faktor VIII-Aktivität nach einem Jahr (41,9 IU/dl im Mittel, 22,9 IU/dl im Median) sowie in Bezug auf die Verringerung des mittleren jährlichen Faktor VIII-Verbrauches und der behandelten jährlichen Blutungsereignisse (98,6 Prozent und 83,8 Prozent). Trotz der insgesamt positiven Ergebnisse ist eine sehr hohe individuelle Variabilität des Therapieerfolges auffällig (Faktor VIII-Aktivität im Mittel 42,9 ± 45,5 IU/dl, Faktor VIII-Aktivität minimal 0 maximal 231 IU/dl nach einem Jahr).“
„Einschränkend bei der untersuchten Therapie ist zudem die mit 79,1 Prozent hohe Rate an Patienten mit Transaminitis (einem Anstieg des Leberenzyms GPT). Diese macht eine Therapie mit Immunmodulation erforderlich, zumeist mit Glukokortikoiden (mit im Median 230 Behandlungstagen), mit den damit verbundenen Nebenwirkungen.“
„Es ist weiterhin zu bedenken, dass die untersuchte Therapieoption nicht für jeden Patienten geeignet ist, insbesondere haben bei 26 von 181 gescreenten Patienten bestehende Antikörper gegen den Vektor AAV5 den Einschluss in die Studie verhindert.“
„Bei der Beurteilung der Studie ist zudem relevant, dass die untersuchten Patienten ein vergleichsweise junges Kollektiv (Alter im Median 30 Lebensjahre) mit einer niedrigen Rate von Gelenkfolgeschäden (72,4 Prozent ohne ‚problem joint‘) darstellen.“
„Der langfristige Effekt ist bei der Gentherapie von elementarer Bedeutung, hier liegen im Rahmen dieser Studie erst Daten von 17 Patienten bis zwei Jahren nach Therapie vor. Die Faktor VIII-Aktivität liegt nach zwei Jahren bei 42,2 ± 50,9 IU/dl im Mittel beziehungsweise 23,9 IU/dl im Median. Allerdings gibt es auch hier eine deutlich ausgeprägte Variabilität.“
„Weitere Langzeitdaten über die Effektivität und Sicherheit der Therapie über die Dauer von zwei Jahren hinaus sind essentiell bei der endgültigen Beurteilung der neuen Therapieoption - mit relevanten Endpunkten zum Outcome, und insbesondere zur Frage, ob eine Wiederholung der Therapie notwendig beziehungsweise möglich sein könnte.“
„Eine eventuelle Zulassung der Gentherapie bei Hämophilie A würde das Portfolio der verfügbaren Prophylaxe- beziehungsweise Therapieoptionen ergänzen. Der Stellenwert der Gentherapie muss sich jedoch an den aktuell verfügbaren guten Behandlungsoptionen messen lassen, insbesondere regelmäßige Substitution mit die Halbwertszeit verlängernden Präparaten, sowie der Prophylaxe mit dem therapeutischen Antikörper Emicizumab, insbesondere in Bezug auf Nebenwirkungen und Praktikabilität.“
Hämophiliezentrum an der Kinderklinik in Wien, Medizinische Universität Wien, Österreich
„Die Phase-III-Studie konnte an einer beträchtlichen Anzahl von Patienten die Ergebnisse der Phase-I/II-Studie bestätigen. Es kam zu einem relevanten Anstieg der Faktor VIII-Spiegel von weniger als 1 auf im Median 24 Prozent. Bei 90 Prozent der Patienten kam es zu einer Reduktion von Blutungen und einer Reduktion des Bedarfs an Behandlung mit Faktor VIII; die meisten Patienten benötigten keine Faktor VIII-Prophylaxe.“
„Die Ergebnisse sind vorläufig, weil primär erst das erste Jahr nach Gentherapie analysiert werden konnte. Nur ein kleiner Teil der Patienten (17 von 134 Patienten) hat bereits zwei Jahre Beobachtungszeit hinter sich.“
„Eine weitere Einschränkung ist die hohe Variabilität des Faktor VIII-Anstieges (zwischen 0 bis 150 Prozent) und der langsame Abwärtstrend der Faktor VIII-Aktivität über die Zeit (wie auch in Phase-I/II beobachtet wurde; hierzu gibt es aus der Phase-III noch zu wenig Daten). Niedrigere Faktor VIII-Spiegel dürften auch klinisch weniger wirksam gewesen sein.“
Auf die Frage, welche therapeutische Wirkung eine Gentherapie gegen Hämophilie A mit sich bringen sollte:
„Die Therapie sollte zu einem höheren Faktorspiegel führen, damit weniger Blutungen auftreten und keine prophylaktische Faktorgaben mehr nötig sind. Idealerweise würde man sich eine dauerhafte Wirkung wünschen, was bei Hämophilie A nach derzeitigen Daten wahrscheinlich nicht zu erwarten sein dürfte. Andernfalls wären Methoden zu entwickeln, bei denen eine Gentherapie auch mehrmals verabreicht werden kann. Auch die Kosten dafür müssten gegenüber der derzeitigen Standardtherapie abgewogen werden.“
Auf die Frage, welche Faktoren die Entwicklung einer Gentherapie gegen Hämophilie A, die dauerhaft wirksam und effektiv ist, erschweren:
„Vor allem die Immunantwort des Körpers auf den viralen Vektor und das Genprodukt. Hierfür werden zurzeit unterschiedliche Ansätze der Immunsuppression wie zum Beispiel prophylaktisch versus reaktiv untersucht.“
„Bayer, BioMarin, Biotest, CSL Behring, Chugai. LFB, Novo Nordisk, Octapharma, Pfizer, Roche, Sobi, Takeda/Shire.“
„Im Rahmen der hier diskutierten Phase-III-Studie wurden zwei Patienten in meiner Klinik in Berlin behandelt, für die ich die Studienkoordination übernommen habe. Desweiteren bestehen Studienkooperationen mit Pfizer, CSL Behring, Bayer und Takeda im Rahmen der Gentherapie sowie mit Roche, Novo Nordisk. Octapharma, Sanofi und Sobi im Rahmen der Hämophilietherapie.“
„Vortragshonorare, Honorare für Advisory Boards bzw. Beratungstätigkeit für CSL Behring, Sobi, Novo Nordisk, Shire/Takeda, Pfizer, Bayer, Roche.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Ozelo MC et al. (2022): Valoctocogene Roxaparvovec Gene Therapy for Hemophilia A. New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMoa2113708.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Klamroth R et al. (2022): Global seroprevalence of pre-existing immunity against AAV5 and other AAV serotypes in people with hemophilia A. Human Gene Therapy. DOI: 10.1089/hum.2021.287.
[2] ClinicalTrials.gov: Lentiviral vectors gene therapy – Hemophilia A.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] ashclinicalnews.org (01.11.2020): Gene Therapy for Hemophilia: Progress and Setbacks.
[II] George LA (2021): Hemophilia gene therapy: ushering in a new treatment paradigm? Hematology. DOI: 10.1182/hematology.2021000254.
[III] Science Media Center (2017): Gentherapie für Bluter wohl erstmals wirklich wirksam. Research in Context. Stand: 06.12.2017.
Prof. Dr. Wolfgang Miesbach
Leiter Schwerpunkt Hämostaseologie in der Medizinischen Klinik II / Institut für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie, Universitätsklinikum Frankfurt
PD Dr. Robert Klamroth
Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie Zentrum für Gefäßmedizin, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin
PD Dr. Patrick Möhnle
Oberarzt in der Abteilung für Transfusionsmedizin, Zelltherapeutika und Hämostaseologie, Klinik für Anästhesiologie, Klinikum der Universität München (LMU)
Prof. Dr. Christoph Male
Hämophiliezentrum an der Kinderklinik in Wien, Medizinische Universität Wien, Österreich