Erste Erinnerungen bei Kleinkindern
schon ab dem Alter von einem Jahr sollen Kleinkinder ihre ersten autobiographischen Erinnerungen speichern können
die Forschenden versuchen mit ihrer Studie bisher unklare Mechanismen hinter fehlenden Kindheitserinnerungen zu erklären
unabhängige Fachleute loben herausfordernde Untersuchung mit kleinen Kindern, warnen vor Überinterpretation der Ergebnisse
Unsere ersten Erinnerungen an Erlebnisse fangen nicht bei der Geburt an. Die infantile Amnesie beschreibt dieses Phänomen der fehlenden Kindheitserinnerungen in den ersten Lebensjahren. Was die Gründe dafür sein könnten und ab welchem Zeitpunkt erste Erinnerungen gespeichert werden können, haben Forschende aus den USA an Kleinkindern und Säuglingen genauer untersucht. Ihre Ergebnisse sprechen dafür, dass die Hirnregion Hippocampus schon ab dem Alter von einem Jahr erlebte Erinnerungen speichern kann. Ihre Ergebnisse sind im Fachjournal „Science“ erschienen (siehe Primärquelle).
Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, Eberhard Karls Universität Tübingen
Über die infantile Amnesie
„Die ‚frühkindliche Amnesie‘, das heißt, dass Erlebnisse vor dem zweiten und dritten Lebensjahr im späteren Leben nicht mehr erinnert werden können, ist ein Phänomen, das sicherlich seit Sigmund Freud einen Brennpunkt experimenteller Gedächtnisforschung darstellt. Erklärt wurde die frühkindliche Amnesie bisher damit, dass die Hirnstrukturen – und hier insbesondere der Hippocampus, der für die episodische Gedächtnisbildung eine zentrale Rolle spielt – in diesem frühen Alter noch nicht voll funktionsfähig sei und die erlebten Episoden nicht richtig aufnehmen, also enkodieren, könne.“
Mehrwert der Studie zur Frage der infantilen Amnesie
„An Tiermodellen konnte gezeigt werden, dass der Hippocampus schon sehr früh in der Lage ist, episodische Gedächtnisinformation zu enkodieren. Bei menschlichen Babys konnten bisher höchstens indirekte Hinweise gewonnen werden, die eine Beteiligung des Hippocampus an der Enkodierung episodischer Information nahelegten. Die aktuelle Studie zeigt auf beeindruckende Weise, dass Kleinkinder wahrscheinlich bereits ab dem ersten Lebensjahr den Hippocampus für die Enkodierung erlebter Episoden nutzen. Die Befunde sprechen damit gegen die landläufig vorgetragene Sichtweise, dass die infantile Amnesie Folge eines unreifen Hippocampus ist. Sie lösen aber nicht das Rätsel, warum diese frühkindlichen Ereignisse – nachdem sie enkodiert wurden – aus dem episodischen Gedächtnis wieder verschwinden.“
Beurteilung der Methodik
„Jeder Wissenschaftler, der mit Kindern arbeitet, weiß, wie schwierig es ist, mit Kleinkindern in standardisierter Weise zu ‚experimentieren. Das Erheben von Daten im MRT-Scanner stellt bei so kleinen Kindern vor diesem Hintergrund wahrlich eine Meisterleistung wissenschaftlichen Arbeitens dar.“
„Die Aussagekraft solcher Studien bleibt daher zwangsläufig immer begrenzt. So ist die Zahl von nur 13 Kindern im Alter von einem bis zwei Jahren, bei denen die fragliche Hippocampusaktivierung gefunden wurde, letztlich zu klein, um wirklich gesicherte Aussagen treffen zu können. Auch muss man sich im Klaren sein, dass es sich bei der auftretenden Aktivierung des Hippocampus während der Enkodierung der Bilder nur um einen rein zeitlichen Zusammenhang handelt. Das heißt: Es könnte durchaus sein, dass die Hippocampusaktivierung eine reine ‚Begleiterscheinung‘ ohne ursächliche Bedeutung für die Enkodierung ist. Somit könnte es sein, dass die Gedächtnisinformation bei diesen Kleinkindern nicht im Hippocampus, sondern in ganz anderen Hirnstrukturen enkodiert und abgespeichert wird. Die Beantwortung solcher Fragen – ob der Hippocampus tatsächlich der Ort der Enkodierung dieser Information ist – erfordert meines Erachtens weitere Untersuchungen an Tiermodellen.“
Folgen für die Forschung und die Praxis
„Die Forschung wird sich zukünftig noch stärker auf die Frage konzentrieren, welches die Mechanismen sind, die dazu führen, dass bei Babys und Kleinkindern Erlebnisse nach relativ kurzer Zeit aus dem episodischen Gedächtnis verschwinden. Die hier durch Tierexperimente gegenwärtig stark gestützte Vermutung ist: Diese Erlebnisse werden nicht wirklich vergessen, sondern die enkodierten Gedächtnisinhalte verlieren bei der Transformation ihren episodischen Charakter. Die Gedächtnisinhalte bestehen aber in impliziter – das heißt in nicht bewusst abrufbarer Form – weiter und können so unser Verhalten und Erleben ein Leben lang beeinflussen.“
„Die Befunde dieser Studie unterstreichen für mich daher ganz besonders, wie wichtig es ist, jedwede traumatische Erfahrung von Kindern fernzuhalten. Denn das kindliche Gehirn nimmt solche Erfahrungen sehr wohl auf und diese Erfahrungen wirken dann ein Leben lang.“
Dekanin der Fakultät Psychologie, FernUni Schweiz, Brig, Schweiz
Über die infantile Amnesie
„Episodische Erinnerungen sind Erinnerungen an Ereignisse unseres Lebens und bestehen aus drei Komponenten: das Was, das Wo und das Wann. Es ist die relationale Bindung dieser drei Komponenten, die jede episodische Erinnerung einzigartig macht: Was ist wem, wo und wann passiert? Das episodische Gedächtnis kann mit einem Hocker verglichen werden, mit seinen drei Komponentenbeinen, und der Sitz des Hockers ‚verbindet‘ alle drei Beine zu einem funktionalen Ganzen, dem episodischen Gedächtnis.“
„Als Erwachsene zeigen wir zwei verschiedene Phasen der Amnesie für frühe episodische Erinnerungen: Die infantile Amnesie bezieht sich auf die Tatsache, dass wir als Erwachsene absolut keine Erinnerungen an die Ereignisse unseres Lebens zwischen der Geburt und dem Alter von zwei Jahren haben. Die Kindheitsamnesie bedeutet, dass wir als Erwachsene weniger Erinnerungen an die Ereignisse unseres Lebens zwischen dem Alter von zwei und sieben Jahren haben – weniger als es allein aufgrund einer einfachen Vergessenskurve zu erwarten wäre.“
„Forschende haben lange versucht zu verstehen, warum wir als Erwachsene diese Amnesie für unsere frühesten episodischen Erinnerungen aufweisen. Die entscheidenden Fragen lauten heute:
1. Welche Arten von Informationen verarbeitet der unreife Hippocampus und in welchem Entwicklungsalter?
2. Was ist das funktionelle Ergebnis dieser Verarbeitung? Werden diese Erinnerungen enkodiert, gespeichert und/oder abgerufen?
3. Welche spezifischen neurobiologischen Substrate und Mechanismen sind daran beteiligt?“
Mehrwert der Studie zur Frage der infantilen Amnesie
„Diese aktuelle Studie zeigt, dass der Hippocampus die Wiedererkennung von Objekten im Alter von 12 Monaten verarbeitet. Dies ist interessant, da es bedeutet, dass der Hippocampus in der Lage ist, Informationen aus einer der drei Komponenten des episodischen Gedächtnisses – der ‚Was‘-Komponente – zu verarbeiten. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Korrelation zwischen der Aktivität des Hippocampus und den erinnerten Elementen bei Kindern unter 12 Monaten nicht signifikant war. Das deutet darauf hin, dass der Hippocampus vor diesem Alter möglicherweise nicht reif genug ist, um selbst die in dieser Studie vorgestellten visuellen Informationen zu verarbeiten. Dies steht im Einklang mit früheren neuroanatomischen, neurohistochemischen, molekularen und Genexpressionsdaten, die die graduelle Reifung des Hippocampus zwischen der Geburt und dem Alter von zwei Jahren dokumentieren.“
„Bei der Interpretation der Ergebnisse der aktuellen Studie ist Vorsicht geboten: Sie können weder als Schlussfolgerung herangezogen werden, dass einjährige Kinder episodische Erinnerungen erzeugen können, noch können sie zeigen, wann oder wie episodische Erinnerungen bei Kleinkindern entstehen. Tatsächlich gibt es aktuell keine bildgebenden oder verhaltensbezogenen Belege dafür, dass der menschliche Hippocampus vor dem Alter von etwa zwei Jahren das erzeugen kann, was wir als Erwachsene als episodische Erinnerungen kennen, wie die Autoren selbst im letzten Absatz des Manuskripts einräumen: ‚Whether the encoding capacity of the infant hippocampus extends beyond items to include the contextual and relational information central to rich autobiographical memories is an open question‘.“
Beurteilung der Methodik
„In Bezug auf die Aufgabenstellung und die Anzahl der untersuchten Kinder ist die Methodik solide. Die Verwendung der automatischen Segmentierung zur Definition neuroanatomischer Regionen in MRT-Bildern ist umstritten und kann zu Fehlern bei der Zuordnung der BOLD-Aktivität (Blood-Oxygenation-Level Dependent Aktivität; Blutsauerstoffgehalt zur Darstellung von Hirnaktivität im fMRT; Anm. d. Red.) zu bestimmten Hirnstrukturen führen. Der Hippocampus ist von mehreren kortikalen Regionen umgeben, insbesondere von den perirhinalen, parahippocampalen und entorhinalen Strukturen, und selbst kleine Lokalisierungsfehler können die BOLD-Aktivität in eine völlig andere Struktur verlagern. Wenn man sich beispielsweise die Bilder in Abbildung 4 A und C ansieht, ist es schwierig zu bestimmen, wo genau die Aktivierung lokalisiert ist. Die Autoren könnten ihre Ergebnisse vorsichtiger formulieren und sagen, dass eine stärkere Aktivität im medialen Temporallappen (Hirnregion, in der unter anderem der Hippocampus liegt; Anm. d. Red.), einschließlich des Hippocampus, mit der Erkennung von Elementen korrelierte.“
Überinterpretation der Studienergebnisse
„Leider überinterpretieren die Autorinnen und Autoren ihre Ergebnisse und treffen einige Aussagen, die den Leser zu der Annahme verleiten könnten, dass die vorliegende Studie zeigt, dass Kinder episodische Erinnerungen früher als bisher angenommen speichern können.“
„Zum Beispiel schreiben die Autorinnen und Autoren im Abstract: ‚The availability of encoding mechanisms for episodic memory during a period of human life that is later lost from our autobiographical record implies that postencoding mechanisms, whereby memories from infancy become inaccessible for retrieval, may be more responsible for infantile amnesia.’ Die aktuelle Studie zeigt nicht die Verfügbarkeit von Kodierungsmechanismen für das episodische Gedächtnis. Vielmehr zeigt sie die Verfügbarkeit von Kodierungsmechanismen für die einmalige Kodierung zur Erkennung von Elementen im medialen Temporallappen.“
„In ähnlicher Weise stellen sie im letzten Absatz der Diskussion fest: ‚By showing that the hippocampus has at least some capacity to encode individual experiences beginning around 1 year of age, this study establishes a boundary condition for accounts of infantile amnesia that assume broad failures of encoding from hippocampal immaturity.’ Die aktuelle Studie hat nicht gezeigt, dass Säuglinge individuelle Erfahrungen kodieren können, sondern vielmehr, dass sie das Bild eines Gegenstands gut genug kodieren können, um es später von dem Bild eines neuen Gegenstands zu unterscheiden. Dies ist kein individuelles Erlebnis – wie die Autoren selbst in einer Erklärung erneut feststellen, die im Widerspruch zu den beiden zuvor hervorgehobenen Aussagen steht: ‚Whether the encoding capacity of the infant hippocampus extends beyond items to include the contextual and relational information central to rich autobiographical memories is an open question.‘“
Forschungsgruppenleiter am Biozentrum, Universität Basel, Schweiz
Über die infantile Amnesie
„Infantile Amnesie bezieht sich auf die geringere Dichte autobiografischer Erinnerungen, die Menschen aus ihren ersten Lebensjahren haben. Zwar gibt es Ausnahmen, doch die meisten Menschen können sich nicht an Ereignisse erinnern, die vor ihrem zweiten Lebensjahr stattgefunden haben. Dieses Phänomen wurde erstmals Ende des 19. Jahrhunderts von Psychologen festgestellt und ist nach wie vor eine zentrale Frage in der Gedächtnisforschung.“
„Die infantile Amnesie stellt ein Paradoxon dar: Das Gehirn eines Säuglings ist eine außergewöhnliche Lernmaschine, die eine immense Plastizität aufweist. In den ersten Lebensjahren erwerben wir eine erstaunliche Bandbreite an Fähigkeiten – von Sprache und motorischer Koordination bis hin zum Erkennen sozialer Hierarchien und der Unterscheidung von links und rechts. Warum behalten wir angesichts dieser außergewöhnlichen Lernfähigkeit keine expliziten Erinnerungen an diese Zeit?“
„Der Hippocampus, die Gehirnregion, die für die Enkodierung autobiografischer Erinnerungen verantwortlich ist, entwickelt sich über einen längeren Zeitraum. Er reift noch lange nach der Geburt weiter, was Psychologen zu einer einfachen Erklärung veranlasst: Zu Beginn des Lebens ist der Hippocampus einfach noch zu unreif, um die Gedächtnisbildung zu unterstützen.“
Mehrwert der Studie zur Frage der infantilen Amnesie
„Die aktuelle Studie stellt diese Annahme jedoch in Frage. Anhand experimenteller Paradigmen, die denen der Gedächtnisforschung bei Erwachsenen ähneln, zeigen die Forscher, dass der Hippocampus während des Gedächtniserwerbs im Säuglingsalter aktiv ist, ähnlich wie im Erwachsenenalter. Diese Erkenntnis wirft neue Fragen auf:“
1. „Wie kann der Hippocampus das Gedächtnis beeinflussen, wenn er sich noch in der Entwicklung befindet?
Wenn der Hippocampus bereits im frühen Kindesalter aktiv an Gedächtnisprozessen beteiligt ist, welche minimalen neuronalen Schaltkreise sind dann für die Gedächtnisbildung erforderlich? Ein Verständnis dieser Frage könnte Einblicke in gedächtnisbezogene Störungen geben, bei denen diese Prozesse zusammenbrechen – und möglicherweise Strategien für Interventionen bieten.“
2. „Wie koordiniert sich der sich entwickelnde Hippocampus mit anderen Gehirnregionen?
Die Entwicklung des Gehirns ist wie eine sorgfältig orchestrierte Symphonie – verschiedene Regionen müssen sich genau zum richtigen Zeitpunkt und in Abstimmung miteinander entwickeln, damit kognitive Funktionen entstehen können. Um zu erforschen, wie der Hippocampus mit dem Rest des Gehirns interagiert, ist es wichtig zu verstehen, wann er beginnt, das Gedächtnis zu beeinflussen.“
3. „Was sagt uns das über Intelligenz und kognitive Entwicklung?
In einer Zeit, in der künstlicher Intelligenz relevant ist, übersehen wir oft die Tatsache, dass die Natur bereits durch die Evolution Intelligenz geschaffen hat. Zu verstehen, wie hochentwickelte kognitive Funktionen im sich entwickelnden Gehirn entstehen – insbesondere, wie der Hippocampus zu diesen Prozessen beiträgt – bleibt eine grundlegende Frage.“
Folgen für die Forschung
„Trotz ihrer faszinierenden Ergebnisse hat die Studie ihre Grenzen. Sie untersucht nur eine bestimmte Art von Gedächtnis – die kurzzeitige Speicherung – und lässt die Frage offen, ob der Hippocampus in diesem Stadium andere Formen des Gedächtnisses unterstützt. Bei Erwachsenen spielt der Hippocampus eine entscheidende Rolle bei der Konsolidierung des Langzeitgedächtnisses und der räumlichen Navigation, aber diese Fähigkeiten scheinen sich erst später zu entwickeln, etwa im Alter von zwei Jahren und darüber hinaus.“
„Eine wichtige zukünftige Forschungsrichtung wird sein, zu untersuchen, welche Veränderungen nach dem ersten Lebensjahr auftreten, die es dem Hippocampus ermöglichen, sich in ein komplexeres kognitives Netzwerk zu verwandeln. Das Verständnis dieses Transitionsprozesses könnte tiefere Einblicke in die typische und atypische Gehirnentwicklung bieten.“
„Darüber hinaus führt diese Arbeit zu einem neuen Rätsel: Wenn Erinnerungen aus der frühen Kindheit zwar enkodiert, aber später nicht abgerufen werden können, was passiert dann mit ihnen? Verbleiben sie ein Leben lang in einem latenten Zustand? In meinem Labor wenden wir uns nun Tiermodellen wie Nagetieren zu, die einen Prozess durchlaufen, der der infantilen Amnesie ähnelt, und die für Studien besser zugänglich sind, um diese Antworten zu finden.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich erkläre, dass ich keinen Interessenkonflikt beim Review dieses Artikels habe.“
Primärquelle
Yates TS et al. (2025): Hippocampal encoding of memories in human infants. Science. DOI: 10.1126/science.adt7570.
Prof. Dr. Jan Born
Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, Eberhard Karls Universität Tübingen
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Pamela Banta Lavenex
Dekanin der Fakultät Psychologie, FernUni Schweiz, Brig, Schweiz
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Flavio Donato
Forschungsgruppenleiter am Biozentrum, Universität Basel, Schweiz
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich erkläre, dass ich keinen Interessenkonflikt beim Review dieses Artikels habe.“