Enzyme wandeln Blutgruppen A und B in 0 um
Studie stellt Enzym-Mix zur Umwandlung von Blutgruppe A und B in Blutgruppe 0 vor
das gewonnene „Universalblut“ könnte die Verfügbarkeit von Spenderblut erhöhen
unabhängige Experten zweifeln derzeit noch an klinischem Nutzen
Mit einem Mix aus Enzymen haben Forschende Proben der Blutgruppen A und B in die universelle Blutgruppe 0 umgewandelt. Durch diese Methode sei es möglich, die Verfügbarkeit von Spenderblut zu erhöhen und die Blutlogistik für seltene Blutgruppen zu vereinfachen, argumentieren die Forschenden, die ihre Ergebnisse im Fachjournal „Nature Microbiology“ veröffentlichten (siehe Primärquelle).
Oberarzt und Abteilungsleiter Blutspende am Institut für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie des DRK-Blutspendedienstes Baden-Württemberg – Hessen gGmbH an der Universitätsklinik Frankfurt am Main der Goethe-Universität
Zur Studie
„Die Ergebnisse der Studie sind, wie die zuvor publizierten Ansätze auch, wissenschaftlich und versorgungstechnisch interessant. Ob die hier verwendeten Exoglykosidase-Kombinationen, die nicht nur die A- und B-Substanzen, sondern auch weitere Kohlenhydrat-Seitenketten von Erythrozytenoberflächen (Erythrozyten sind rote Blutkörperchen; Anm. d. Red.) entfernen können, gegenüber den bisher verwendeten Enzymen Vorteile oder gar Nachteile bringen, müssen die klinischen Prüfungen zeigen, die noch ausstehen. In dieser Studie wurden schon erste Sicherheitsuntersuchungen durchgeführt, aber das sind alles logischerweise derzeit noch In-vitro-Untersuchungen; spannend wären In-vivo-Überlebenszeiten der so behandelten Erythrozyten und der Ausschluss von In-vivo-Reaktionen auf Neo-Antigene, die durch den Enzymverdau auf der Erythrozytenoberfläche eventuell frei werden. Weiterhin kann durch den Abbau von Kohlenhydrat-Seitenketten eventuell die Ladungsverteilung der Zelloberfläche verändert werden, was im Blutstrom möglicherweise zu rheologischen Veränderungen, also einem unterschiedlichen Strömungsverhalten führen könnte. All das lässt sich nur in Tierversuchen und letztendlich dann in klinischen Studien bei Patienten untersuchen.“
Hürden für die klinische Anwendung
„Wie schon bei den Vorgänger-Studien: Die notwendige Eröffnung des Arzneimittels ‚Erythrozytenkonzentrat (EK)-Beutel‘ und die Zugabe bakteriell gewonnener Enzyme gibt uns, in der Good-Manufacturing-Practice (GMP) und arzneimittelrechtlich geschulten Transfusionsmedizinern, Anlass zur Besorgnis: Wir arbeiten seit Jahren und Jahrzehnten im geschlossenen System, um bakterielle Kontaminationen zu vermeiden und sind dabei sehr erfolgreich. Eine Zugabe ‚nicht menschlicher‘ Enzyme zu einem Blutprodukt könnte zu lebensbedrohlichen anaphylaktischen Reaktionen beim Transfusionsempfänger führen. Dies bedingt, dass man die Enzyme und gegebenenfalls auch die Verdauungsprodukte hinterher aus dem EK entfernen müsste. Wir wissen aber, dass das Waschen von EK zu einer erhöhten Hämolyserate und kürzerer Überlebenszeit der Erythrozyten – sprich einer kürzeren Halbwertszeit – führt. Damit würden wir uns mit dem Vorteil der AB0-Universalität gegebenenfalls Nachteile hinsichtlich der Qualität und Überlebenszeit der Erythrozyten einkaufen.“
Bedarf an AB0-Blut
„Der Bedarf ist sehr groß und es erfordert der ständigen Blutspenderwerbung, um allgemein ausreichende Blutspendezahlen zu erreichen. Insbesondere das ‚Universalblut‘ der Blutgruppe 0 Rhesus D negativ, das nur sechs Prozent der Bundesbürger besitzen, das aber im Notfall (Blutgruppe unbekannt) gerade für Mädchen und gebärfähige Frauen das Maß aller Dinge darstellt, ist logischerweise immer knapp. Da auch etwa sechs Prozent der Bundesbürger die Blutgruppe A Rhesus D negativ besitzen, könnte man mit diesem Ansatz die Versorgung mit EK der Blutgruppe 0 Rhesus D negativ verdoppeln, was aus versorgungstechnischer Sicht ein hoch interessanter Ansatz ist.“
Anstehende Untersuchungen für klinischen Einsatz
„Wie zuvor schon erwähnt, fehlt komplett der Einsatz im Tierversuch und später dann (bei günstigen Ergebnissen im Tier) auch am Menschen. Es stellen sich Fragen wie: Rufen die so behandelten Erythrozyten eine Immunreaktion beim Empfänger hervor? Eventuell erst bei mehrmaliger Anwendung? Wie lange überleben solche vorbehandelten Erythrozyten im Empfänger? Wie gut fließen diese Erythrozyten durch die kleinsten Kapillaren? Gibt es hier Unterschiede zu den nicht behandelten Erythrozyten?“
„Am Ende des Tages handelt es sich bei den Erythrozytenkonzentraten um zugelassene Arzneimittel. Eine solche eingreifende Veränderung an der ‚aktiven Arzneimittelkomponente‘ müsste im Vorfeld mit den Zulassungsbehörden besprochen werden. Was muss für die Zulassung alles gezeigt werden? Dann lassen sich Umfang und Kosten eines klinischen Untersuchungsprogramms abschätzen.“
„Fazit: Eine wissenschaftlich und versorgungstechnisch interessante Idee, die für die Anwendung am Patienten noch einen weiten Weg gehen muss.“
Oberarzt für Transfusionsmedizin und Leiter der Blutbanken in der Charité (Campus Virchow) und im Deutschen Herzzentrum (DHZC), Schwerpunkt spezielle Immunhämatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin; Leiter der Qualitätskontrolle im ZTB Zentrum für Transfusionsmedizin und Zelltherapie Berlin gGmbH
Zur Studie
„Das vorliegende Paper zeigt mittels Durchflusszytometrie eine vollständige enzymatische Verdauung der A- beziehungsweise B-Glykoproteinantigene und ihrer Erweiterungen. Welche Eigenschaften das Verdauungsprodukt hat, ist zwar nicht explizit gezeigt, vermutlich die H-Eigenschaft der Blutgruppe 0, was aber nicht mittels Anti-H getestet wurde. Im Vergleich zu vorhergehenden Veröffentlichungen werden neu entdeckte Enzyme verwendet, die enzymatische Verdauung fand bei günstigeren Konditionen (Hämatokrit, Temperatur, Zeit) statt als zuvor. Transfusionen an Patienten, wie in früheren Veröffentlichungen (Literaturverweis 10) wurden (noch) nicht durchgeführt. Die Studie ist nach meiner Meinung von rein akademischer Natur und bringt abgesehen von der Verwendung anderer Enzyme und der dadurch erreichten besseren Reaktionsbedingungen keine wirkliche Neuerung.“
Hürden für die klinische Anwendung
„In den Reaktionsansätzen wurde 100 Mikroliter Erythrozyten verwendet, eine Hochskalierung auf 250 Milliliter eines Erythrozytenkonzentrats (EK) erscheint sehr schwierig, da sich die Frage stellt, ob die Verdauung dann vollständig ist. Nur bei nahezu vollständiger Entfernung von A- beziehungsweise B-Antigen ist gewährleistet, dass es bei der major-inkompatiblen Versorgung (Inkompatibilität der Spendererythrozyten zum Empfänger; Anm. d. Red.) von Patienten mit der Blutgruppe 0 nicht zu einer potenziell lebensbedrohlichen intravasalen Hämolyse (verfrühter Verfall der Erythrozyten; Anm. d. Red.) durch Komplementaktivierung kommt. Gegen eine Verwendung in sehr großem Maßstab sprechen drei weitere Punkte: Zum einen ist die Frage nach der Lagerstabilität der Erythrozyten nach der Enzymbehandlung nicht geklärt. Des Weiteren ist es denkbar, dass durch die Enzymbehandlung Neoantigene entstehen, die den Patienten immunisieren und eine weitere Gabe dieser Produkte unmöglich machen. Drittens stehen die Kosten in keinem Verhältnis zum Nutzen, da die AB0-kompatible Versorgung in der Regel kein Problem darstellt.“
Bedarf an AB0-Blut
„Es sind derzeit nach ISBT (International Society of Blood Transfusion; Anm. d. Red.) 362 Blutgruppen in 45 Blutgruppensystemen bekannt, von daher gibt es kein universelles Blut. Der Mangel an EK der Blutgruppe 0 ist relativ und kann leichter und kostengünstiger durch gezielte Spendergewinnung als durch die enzymatische Verdauung von EK der Blutgruppen A oder B behoben werden. Große Schwierigkeiten ergeben sich in einer Rhesus-kompatiblen Versorgung, außerdem bei der erweitert kompatiblen Versorgung von Patienten mit hohem Transfusionsbedarf (unter Berücksichtigung von Blutgruppen wie Kidd, Duffy, MNS) oder der Versorgung von Patienten mit gefährlichen Antikörpern, die gegen ubiquitäre Antigene gerichtet sind, die alle Spender besitzen (Vel, Cellano, H, hochfrequente Rhesus-Antigen). Alle diese anderen Blutgruppen können durch die beschriebenen Methoden nicht manipuliert werden, zum Großteil sind es reine Proteinantigene.“
Anstehende Untersuchungen für klinischen Einsatz
„In der AB0-Blutgruppe wäre das universelle Blut eigentlich die Bombayblutgruppe (durch Verdau von H-Substanz bei Erythrozyten der Blutgruppe 0), in der Veröffentlichung erwähnt durch das Enzym AmGH95B (Literaturverweis 28). Patienten mit der Bombayblutgruppe haben Antikörper gegen die H-Substanz der 0-Erythrozyten und können bei Transfusion durch hämolytische Transfusionsreaktion sterben. Diese Patienten könnten von der dargestellten Methode der enzymatischen Verdauung profitieren und dafür wäre der beschriebene Ansatz denkbar. Allerdings sind diese Patienten sehr selten, sodass keine Blutbank das H-negative Bombayblut vorrätig halten würde (derzeit nimmt man im Bedarfsfall kryokonservierte EK von Spendern mit Bombayblutgruppe). Insgesamt ist die Methode aus jetziger Perspektive von keinem praktischen Interesse.“
Direktor des Instituts für Klinische Immunologie, Transfusionsmedizin und Hämostaseologie, Justus-Liebig-Universität Gießen
Zur Studie
„Auf den ersten Blick sind die Blutgruppen biochemisch sehr einfach aufgebaut: Das Blutgruppenantigen A enthält N-Acetylgalaktosamin (A-Substanz), das Blutgruppenantigen B enthält stattdessen Galaktose (B-Substanz) als endständiges Zuckermolekül auf einer Vorläuferkette, die ebenfalls aus Zuckermolekülen besteht. Bei der Blutgruppe 0 fehlt dieser endständige Zuckerrest. Vorangegangene Studien zeigten, dass die enzymatische Entfernung der Zuckerreste von den ‚gewöhnlichen‘ Vorläuferketten nicht ausreicht: A- oder B-Substanz verbleibt in geringer Menge an abgewandelten (extended) Vorläuferketten auf den roten Blutzellen. Die Autoren der aktuellen Studie identifizierten bakterielle Enzyme, die A- oder B-Substanz auch von abgewandelten (extended) Vorläuferketten abspalten können. Der kluge Forschungsansatz: Die neuen Enzyme wurden in Bakterien des menschlichen Mikrobioms gefunden, die sich von Schleim ernähren. Schleim enthält Zuckerketten, die ebenfalls A- und B-Substanz tragen.“
Hürden für die klinische Anwendung
„Die Autoren zeigten, dass manche Plasmaproben unerwartet mit den enzymbehandelten roten Blutzellen reagierten. Als mögliche Ursache dieses Phänomens wird unter anderem vermutet, dass die intensive Enzymbehandlung neue Antigene freilegt oder dass Reste der Enzyme an der Oberfläche der roten Blutzellen verbleiben und mit Antikörpern in einigen Plasmaproben reagieren. Die Ursache der unerwarteten Reaktion mancher Plasmaproben mit den behandelten roten Blutzellen muss ermittelt werden, bevor die Methode universell einsetzbar ist.“
Bedarf an AB0-Blut
„In lebensbedrohlichen Notfällen werden Blutkonserven der Blutgruppe 0 bei Patienten mit unbekannter Blutgruppe eingesetzt. Daher besteht immer ein relativer Mangel an Blutkonserven der Blutgruppe 0. Universelles AB0-Blut würde die Versorgungssicherheit deutlich verbessern.“
Anstehende Untersuchungen für klinischen Einsatz
„Die Ursache der unerwarteten Reaktion mancher Plasmaproben mit enzymbehandelten roten Blutzellen muss ermittelt werden. Anschließend müssen klinische Studien zur Verträglichkeit und Wirksamkeit folgen.“
„Ich bin Angestellter des Blutspendedienstes, bin jedoch in meiner Meinung zum aktuellen Thema völlig frei und nur meinem wissenschaftlichen und medizinischen Gewissen verpflichtet.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Jensen M et al. (2024): Akkermansia muciniphila exoglycosidases target extended blood group antigens to generate ABO-universal blood. Nature Micobiology. DOI: 10.1038/s41564-024-01663-4.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Science Media Center (2019): Enzymatische Umwandlung von Blutgruppe A in Blutgruppe 0. Research in Context. Stand: 10.06.2019.
Dr. Markus M. Müller
Oberarzt und Abteilungsleiter Blutspende am Institut für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie des DRK-Blutspendedienstes Baden-Württemberg – Hessen gGmbH an der Universitätsklinik Frankfurt am Main der Goethe-Universität
Dr. Thilo Bartolmäs
Oberarzt für Transfusionsmedizin und Leiter der Blutbanken in der Charité (Campus Virchow) und im Deutschen Herzzentrum (DHZC), Schwerpunkt spezielle Immunhämatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin; Leiter der Qualitätskontrolle im ZTB Zentrum für Transfusionsmedizin und Zelltherapie Berlin gGmbH
Prof. Dr. Gregor Bein
Direktor des Instituts für Klinische Immunologie, Transfusionsmedizin und Hämostaseologie, Justus-Liebig-Universität Gießen