Entwicklung des Risikoverhaltens von Jugendlichen in den USA
Jugendliche zeigen heutzutage insgesamt weniger Risikoverhalten, wie Alkoholkonsum oder körperliche Auseinandersetzungen, der Anteil an Depressivität und Suizidalität nimmt jedoch zu
Studienergebnisse geben Hinweis darauf, dass Jugendliche anders auf Probleme reagieren als noch vor einigen Jahren, was Implikationen für Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen haben könnte
unabhängige Forschende ordnen Ergebnisse in aktuellen Forschungsstand ein und erläutern Jugend als vulnerable Phase für psychische Erkrankungen
Jugendliche in den USA zeigen weniger Risikoverhalten, allerdings nimmt im Verhältnis internalisierendes Risikoverhalten wie Depressivität zu. Eine Studie aus den USA hat anhand von Daten der vergangenen zwei Jahrzehnte untersucht, wie sich das Ausmaß unterschiedlicher Risikoverhaltensweisen, wie Alkoholkonsum, Suizidalität oder körperliche Auseinandersetzungen verändert haben. Die Ergebnisse sind im Fachjournal „Pediatrics“ veröffentlicht worden (siehe Primärquelle).
Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg
Inhalt der Studie
„Die Studie beschreibt Verläufe mentaler Gesundheit und von Risikoverhalten bei Jugendlichen basierend auf Kohortendaten der Jahre 1999-2021. Annahme der Autor:innen ist, dass eine Zunahme mentaler und eine Abnahme behavioraler (das Verhalten betreffend; Anm. d. Red.) Risiken beobachtbar ist.“
„Die Querschnittsdaten von 178.658 Schüler:innen der Jahre 1991 bis 2021 wurden analysiert. Dafür wurden Selbstberichte zu mentaler Gesundheit und zu Verhalten erfasst, insbesondere internalisierende Symptome (Depression, Suizidalität), Substanzmissbrauch (Alkohol, Marihuana), Sexualverhalten (Anzahl Partner:innen, Verhütung) und Gewalt (Waffen tragen, Gewaltausübung).“
„Es ergeben sich fünf abgrenzbare Profile:
„Die Gruppen 1 und 2 nahmen über die Zeit von 1999 bis 2021 zu; die Gruppen 3 bis 5 nahmen von 2019 bis 2021 ab. Jüngere Jugendliche waren häufiger in den Gruppen 1 und 2; Mädchen häufiger in 2 und 3; Jungen waren häufiger in den Gruppen 4 und 5. Weiße Kinder waren häufiger in der Gruppe 5; nicht-weiße Kinder waren in allen anderen Gruppen häufiger.“
„Die Daten zeigen insgesamt eine Abnahme selbstberichteter psychischer Belastungen und Verhaltensprobleme, aber eine Zunahme internalisierender Symptome. Angststörungen wurden nicht erfasst, wenngleich diese die größte Gruppe internalisierender Störungen sind. Ebenfalls nicht erfasst wurden externalisierende Störungen, die nicht unter Gewalt und Substanzmissbrauch fallen.“
Bewertung der Studienmethodik
„Der große Datensatz von über 170.000 Selbstberichten über einen Zeitraum von über 20 Jahren ist beeindruckend und hilfreich, um Daten über die Zeit einzuordnen. Die deskriptive Analyse ist dafür angemessen, wie auch die Darstellung des Verlaufs über die Zeit. Interessant ist es, diese Daten mit den Daten anderer Studien in Verbindung zu setzen, beispielsweise den Daten, die im Lancet Psychiatry Report on Youth Mental Health zusammengefasst sind [II]. Dieser Lancet-Bericht zeigt eine Zunahme der psychischen Belastung von Jugendlichen zwischen 2007 und 2020 bis 2022. Das heißt, die Daten zur zweiten Gruppe mit den internalisierenden Störungen bestätigen den Lancet-Bericht. Selbstberichte werden oftmals kritisiert, allerdings können internalisierende Störungen am besten über Selbstberichte erfasst werden. Bedauerlich ist, dass Belastungen durch Angststörungen oder -symptome nicht erfasst wurden, was von den Autor:innen auch als eine bedeutsame Limitation der Studie angegeben wird. Fremdberichte beziehungsweise klinische Interviews zur Absicherung der Selbstberichte wären wünschenswert, schränken aber auch die Möglichkeiten der Datenerhebungen ein, da Studien dadurch sehr viel komplexer werden. Falls solche Daten für Teilstichproben vorhanden sind, wäre eine entsprechende Analyse interessant.“
Einordnung der Ergebnisse
„Ich halte den Befund, dass die Belastungen und risikoreiches Verhalten insgesamt abnehmen, aber internalisierende Belastungen zunehmen, für hoch relevant. Auf dieser Basis können Interventions- und Präventionsangebote angepasst werden. Das heißt, insbesondere für jüngere Jugendliche und Mädchen brauchen wir Programme, die auf eine Reduktion internalisierender Belastungen abzielen. Programme zur Reduktion von Substanzmissbrauch und risikoreichem Sexualverhalten sollten weitergeführt werden.“
„Erfreulich ist, dass Kinder resilient sind und Belastungen auch in einer Welt mit vielfältigen globalen Herausforderungen standhalten können. Zwar ist die Gruppe der Jugendlichen mit internalisierenden Belastungen die kleinste (neun Prozent), aber für diese Gruppe zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg im Beobachtungszeitraum. Ein Anstieg internalisierender Belastungen zeigt sich auch in anderen großen Studien, wie im Lancet Psychiatry Report 2024 herausgestellt wird [II].“
„Internalisierende Störungen des Kindesalters sind ein Schrittmacher für Störungen im Erwachsenenalter, wie andere Studien zeigen [1] [2].“
„Insofern sollten Programme zur Prävention und Intervention in diesem Bereich Priorität haben. Dafür brauchen wir belastbare Daten – für Deutschland wäre ein analoges Monitoring der psychischen Gesundheit zu fordern, um den momentanen nationalen Blindflug in diesem Bereich zu beenden.“
„Eine Zunahme externalisierender Störungen geht aus den Daten nicht hervor; Gewalt und Substanzmissbrauch nehmen über die Zeit ab und darüber hinaus wurden externalisierende Störungen – wie ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens – nicht erfasst.“
Vergleich externalisierendes und internalisierendes Risikoverhalten
„50 Prozent aller psychischen Störungen entwickeln sich bis zum 14. Lebensjahr; 75 Prozent bis zum 24. Das bedeutet, psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters sind entscheidend für Störungen im Erwachsenenalter. Insofern sollten sowohl internalisierende als auch externalisierende Symptome frühestmöglich korrekt erkannt und behandelt werden. Beide Symptombereiche gehen mit Belastungen und Einschränkungen einher und haben unbehandelt eine ungünstige Prognose. Die Chancen liegen darin, Belastungen früh zu erkennen und evidenzbasiert zu behandeln. Da heilende Maßnahmen bereits jetzt das Versorgungssystem überfordern, müssen evidenzbasierte präventive Programme in den relevanten Lebenswelten, wie Kita, Kindergarten und Schule, flächendeckend ausgerollt werden.“
Trendentwicklung und Situation in Deutschland
„Der Lancet Psychiatry Report zeigt, dass die Zunahme internalisierender Belastungen ein globales Problem ist [II]. Seit der COVID-19 Pandemie haben diese in Deutschland zugenommen [I]. Vor der Pandemie waren circa 18 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch belastet; während der Pandemie über 30 Prozent; momentan stabilisiert sich das Niveau bei circa 25 Prozent. In Deutschland zeigte sich über alle Alters- und Diagnosegruppen ein Anstieg psychischer Belastungen und Störungen. Wirklich gut ist die Datengrundlage für Deutschland allerdings nicht, da es an einem repräsentativen und systematischen Monitoring mangelt.“
Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP), Universitätsklinikum Würzburg
Bewertung der Studienmethodik
„Die Studienmethodik ist letztendlich definiert durch die Beschaffenheit der Datenquelle. Die in der vorliegenden Studie verwendeten Daten basieren auf Umfragen, die seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführt werden. In unterschiedlichen Personengruppen werden immer wieder die gleichen Fragen gestellt. Das erlaubt es, einen Verlauf über die Jahrzehnte darzustellen, wie sich das Antwortverhalten von jungen Menschen über ihr Risikoverhalten verändert hat. Die Statistik, die verwendet worden ist, um die längsschnittliche Entwicklung darzustellen, ist eine ,Latent Class Analysis‘, bei der Gruppen aus den Datensätzen gebildet werden, die ähnliche Verläufe zeigen. Je nach Datendichte und -beschaffenheit kann das zu unterschiedlichen Clustern und Gruppen führen. Die hier identifizierten Gruppen sind durchaus plausibel und aus der klinischen Erfahrung valide. Insofern würde ich sagen, dass die Methodik des Papers und die Datenqualität mit einer sehr großen Stichprobe interessant ist. Die Studie wird jetzt seit über 20 Jahren regelmäßig durchgeführt, was eine klare Stärke ist.“
Einordnung der Ergebnisse
„Das Interessante ist, dass sich das Risikoverhalten im Laufe der Jahre verändert hat. Auf den ersten Blick sind es scheinbar gute Nachrichten, dass die untersuchten Jugendlichen im Verlauf der Untersuchungsphase immer häufiger zu der Gruppe gehören, die sehr wenig Risikoverhalten zeigt. Der Anteil ist ungefähr von 40 Prozent auf 60 Prozent angestiegen. Das bedeutet, dass der Großteil der Jugendlichen sehr wenig Risikoverhalten berichtet. Gleichzeitig geht dieser Trend mit einem Rückgang von Jugendlichen einher, die sehr viel Risikoverhalten zeigen. Das könnte man erstmal als positiven Befund interpretieren.“
„Der Befund der verstärkten Internalisierung passt gut zu vielen anderen internationalen Studien, die belegen, dass psychische Erkrankungen und psychische Belastungen – insbesondere die affektiven (die Gefühle betreffend; Anm. d. Red.) – ansteigen und das auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Genau das haben wir auch in Deutschland beobachtet.“
„Die Ergebnisse könnten durch unterschiedliche Hypothesen erklärt werden: Zum einen könnte es sich um eine Verschiebung der Verhaltensweisen handeln. Man sieht, dass affektive psychische Belastungen – also internalisierende – zugenommen haben und externalisierende anteilig weniger wurden. Die Problemlage könnte sich also von expansiven Verhaltensweisen auf internalisierende Verhaltensweisen, wie affektive Belastung, Depression oder Angsterkrankungen, verschoben haben. Alternativ könnte es aber auch sein, dass das vermehrte Auftreten von Angsterkrankungen und Depressionen vor expansiven Verhaltensweisen und anderem Risikoverhalten schützt – es sich also um ein Epiphänomen handelt, das aus einer verstärkten psychischen Belastung entstanden ist.“
Einfluss der COVID-19-Pandemie
„Die Entwicklungen, die hier dargestellt sind, scheinen auch schon vor der Pandemie begonnen zu haben. Das Phänomen kann nicht monokausal auf diese zurückgeführt werden. Manche der erhobenen Werte – wie beispielsweise die hohen internalisierenden Verhaltensweisen – scheinen nochmal besonders beschleunigt worden zu sein – wie durch einen Katalysator. Und das passt auch gut zu den anderen Erhebungen zu dem Thema. Aber man darf nicht den Fehler machen zu sagen, dass wir die Probleme ohne die Pandemie nicht gehabt hätten.“
Vergleich externalisierendes und internalisierendes Risikoverhalten
„Auch in der Klinik wird im Rahmen der Diagnostik internalisierendes und externalisierendes Risikoverhalten untersucht, beispielsweise Sexualverhalten, psychosoziale Rahmenbedingungen oder Depressionen. Das geht viel weiter als das im Rahmen dieser Fragebögen möglich ist. Solche breiten populationsbasierten Erhebungen wie in der vorliegenden Studie sind ein Versuch, die Komplexität der psychischen Gesundheit zu vereinfachen und verschiedene simplere Dimensionen zu erfassen.“
„Sowohl aus internalisierenden als auch externalisierenden Verhaltensweisen können ganz unterschiedliche Verläufe entstehen. Wir wissen, dass bei Kindern mit internalisierenden Verhaltensweisen wie Ängstlichkeit oft weitere Angsterkrankungen hinzukommen. Oftmals ist die Depression in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter eine Folge, was dann wiederum mit Suizidalität und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und in der psychosozialen Teilhabe zusammenhängt. Auf der anderen Seite sehen wir, dass externalisierende Verhaltensweisen wie Substanzmissbrauch, Lügen, Stehlen, aggressives Verhalten, mangelnde Zuverlässigkeit oder Ausbildungsabbrüche auch mit affektiven Belastungen in Verbindung stehen. Jugendliche mit stark ausgeprägten externalisierenden Verhaltensweisen entwickeln dann auch oft psychische Belastungen, können straffällig werden und erleben entsprechende Sanktionen. Diese Gruppe an Jugendlichen ist dann häufig desintegriert und kann psychosozial nicht mehr teilhaben, wodurch sie dann durchaus auch psychisch öfter belastet sein können. Die Folgen können hier auch erheblich sein. Internalisierendes und externalisierendes Risikoverhalten kann also nicht gegeneinander aufgewertet werden. Es geht eher um eine qualitative Verschiebung.“
Risikoverhalten in der Jugend
„Man weiß, dass die Jugend die Phase ist, in der nicht jedes Verhalten durchdacht und wohlüberlegt ist. Das ist tatsächlich etwas, was man in vielen Studien objektivieren kann. In dieser Phase tritt Risikoverhalten deutlich mehr auf. Das betrifft nicht alle Kinder und Jugendlichen, sondern immer Subgruppen, die mehr Risikoverhalten zeigen als andere. Das Interessante ist, dass es dafür auch neurobiologische Korrelate gibt: Der Frontalkortex ist in der Adoleszenz noch nicht voll ausgereift ist. Das ist das Organ, das unser Verhalten steuert, Impulse kontrolliert, unsere Handlungsplanung beeinflusst und letztendlich in der Lage ist, erlebte Emotionen zu kontrollieren. Bei einem nicht voll ausgereiften Frontalkortex ist das noch nicht so möglich und diese Defizite in der Emotionsregulation können in beide Richtungen gehen: Wut und Aggression auf der einen Seite und Angst, Trauer, Sorgen, Befürchtungen, die überwertig werden, auf der anderen Seite. Diese Regulationsfunktion scheint wichtig bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen zu sein. Eine Förderung der Emotionsregulation ist deshalb ein relevantes therapeutisches Element bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen.“
Auf die Frage, ob bei der Feststellung von Risikoverhalten die Stärkung der Emotionsregulation das wichtigste Hilfsmittel sei:
„In vielen Aspekten ist die Emotionsregulation sicherlich ein Teil der Therapie. Aber gerade, wenn es um aggressives und stark expansives Verhalten geht, gilt es immer gut zu prüfen, ob man es tatsächlich mit Problemen der Emotionsregulation zu tun hat oder es eine eher eine allgemeine problematische psychosoziale Entwicklung ist. Manche Jugendliche haben gelernt, dass Gewalt ein probates Mittel ist und sie das Recht dazu zu haben, diese einzusetzen. Hier müssen dann andere Interventionen als die reine Emotionsregulation ansetzen.“
„Nur durch die Beobachtung der nach außen hin sichtbaren Verhaltensweise weiß ich noch nicht, welche Qualität hinter dem Verhalten steht. Die therapeutischen Antworten darauf sind unterschiedlich. Was sicherlich ein wichtiges Element ist – gerade im Hinblick auf expansives Verhalten –, sind Angebote der Jugendhilfe in Deutschland. Es ist wichtig, dass solche Verhaltensweisen nicht nur psychiatrisch betrachtet werden, sondern es auch ganz zentral darum geht, wieder praktisch zu üben, Aufgaben und Rollen im sozialen Kontext zu erfüllen, die den sozialen Normen und Erwartungen zu entsprechen. Das ist auch wichtig, um die soziale Teilhabe wieder herzustellen.“
Vorstandsvorsitzende und Direktorin, Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI), München
Bewertung der Studienmethodik
„Die Studie befasst sich mit Trends in Gesundheitsrisiken junger Menschen der neunten bis zwölften Klassenstufe zwischen 1999 und 2021, festgemacht an Indikatoren zu internalisierenden Problemen (Depressivitäts-Symptomatik, Selbstmordgedanken) Drogengebrauch (Alkohol, Marihuana), zu sexuellem Risikoverhalten (Anzahl Geschlechtspartner, mangelhafte Verhütung) und Gewalt (Waffentragen, körperliche Konflikte/Kämpfe). Ihr großes Plus ist die über alle zwölf Erhebungszeitpunkte gepoolte sehr umfangreiche repräsentative Stichprobe von 178.658 Schüler:innen, die jeweils im Zwei-Jahres-Abstand in einem dreistufigen Clusterverfahren über die Schulen gezogen wurde und eine relativ hohe Teilnahmequote aufweist (73 Prozent und 79 Prozent 2021). Allerdings ist bei der schulbasierten Stichprobenrekrutierung die Gruppe der Schulabbrecher nicht vertreten, die 2006 noch fast zehn Prozent der Jugendlichen ausmachten und bis 2022 auf rund fünf Prozent gesunken ist. Insofern dürfte die Studie Belastungslagen junger Menschen eher etwas unterschätzen.“
„Dem Vorteil der großen Stichprobe stehen die wenig differenzierten Indikatoren als leichter Nachteil gegenüber. So ist etwa keine Depressions-Skala mit klarer Abgrenzung klinisch relevanter Belastung verfügbar, sondern nur ein Item: ,Fühlte ich mich mindestens zwei Wochen hintereinander so hoffnungslos, dass ich aufhörte einige der üblichen Dinge zu tun‘. Dennoch sind die Angaben als aussagekräftig einzustufen, zumal die Autorinnen etwa bei der Abgrenzung eines moderaten und hohen Risikos im Gewaltbereich auch alternative Einteilungen erprobten und hierbei sehr ähnliche Befunde erhielten.“
Einordnung der Studienergebnisse
„Zentrales Ergebnis der Studie ist eine durchaus plausible Typisierung der Jugendlichen anhand ihrer Angaben zu den unterschiedlichen Belastungsbereichen, die anhand eines angemessenen Verfahrens – der Latenten Klassenanalyse – fünf verschiedene Typen erbrachte: Jugendliche mit insgesamt geringen Risiken in allen Bereichen (48 Prozent), erhöhtem sexuellen Risikoverhaltens (20 Prozent), erhöhtem Substanzgebrauch (10 Prozent), hoher Internalisierung (9 Prozent) und hohen Risiken in allen Bereichen (13 Prozent).“
„Hohe Gewaltrisiken fanden sich nur in dem letztgenannten Profil insgesamt hoher Risiken in allen Bereichen. Diese Profile wurden auf Basis der gepoolten Daten aller Erhebungszeitpunkte gewonnen, und erlauben daher streng genommen keine Aussagen darüber, ob sich über die Zeit hinweg die Konstellation der Risiko-Profile geändert hat, zum Beispiel ob es in der Vergangenheit ein eigenes Profil hoher Gewaltneigung gab, das inzwischen nicht mehr identifizierbar ist. Vermutlich sind dem Supplement nähere Informationen zur Güte der Typeneinteilung zu entnehmen, die auf Unschärfen der Profile verweisen könnte. Dass hier nur eine kleine Gruppe von Jugendlichen als hoch internalisierende Risikogruppe identifiziert wurde, dürfte dem Einbezug von Suizidalität geschuldet sein, während zum Beispiel die meist stärker verbreiteten Angstsymptome und Essstörungen nicht eingeschlossen sind. Dies betonen auch die Autorinnen. Immerhin zeigen auch diese Daten einen deutlichen Anstieg internalisierender Symptome im Verlauf der Coronapandemie und sind damit im Einklang mit anderen internationalen Daten.“
„Die Zusammenhägen der Profile zu demografischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit ist weitgehend plausibel. Interessanterweise geben nur die Mädchen erhöhtes Risikoverhalten im sexuellen Bereich an, obwohl mangelnde Verhütung auch deren Partner betreffen und von diesen registriert worden sein müsste. Plausibel ist auch der im Zeitverlauf beobachtbare Anstieg des Anteils von zwei Profilen:
„Insgesamt bestätigt die Studie viele Einzelbefunde und auch Meta-Analysen, geht hierbei aber über den Fokus auf einzelne Verhaltensbereiche hinaus und bietet anhand der Typisierung einen wichtigen breiteren Blick auf unterschiedliche Profile des Risikoverhaltens junger Menschen.“
Professor für Sozialisationsforschung, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld
Bewertung der Studienmethodik
„Die statistischen Verfahren der Studie sind solide, doch inhaltlich gibt es Schwächen: Die verwendeten Messinstrumente in der Langzeituntersuchung spiegeln nicht mehr die Realität junger Menschen wider. Wichtige Aspekte der digitalen Welt – von Künstlicher Intelligenz über Social Media bis hin zu Cybermobbing – fehlen völlig, ebenso die Erfassung der Zeit, die Jugendliche online verbringen, sowie die Belastungs- und Entlastungseffekte digitaler Medien. Zudem wirken einige Messungen zirkulär, etwa wenn Hinweise auf depressive Symptome lediglich mit inneren Verarbeitungsstrategien begründet werden.“
Einordnung der Studienergebnisse
„Die Zunahme innerer Belastungen ist das zentrale Ergebnis der Studie – ein Trend, der mit mehr selbstschädigendem Verhalten und einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit einhergeht. Bemerkenswert ist der starke Anstieg dieser Muster innerhalb nur einer Generation, während klassisches Risikoverhalten, das nach außen gerichtet ist, zurückgeht. Belastungen werden zunehmend individuell empfunden, während digitale Öffentlichkeiten neue Formen von Stress und Konfliktverarbeitung begünstigen. Man könnte auch sagen: weniger körperliche Gewalt, dafür mehr verbale, emotionale und digitale Auseinandersetzungen.“
„Der Rückgang klassischer Muster des Risikoverhaltens ist nur bedingt positiv, da nicht alle Gruppen gleichermaßen davon profitieren und gleichzeitig die mentale Gesundheit junger Menschen zunehmend leidet. Die langfristigen Folgen dieser wachsenden inneren Belastung sind noch unklar, doch bereits jetzt steigt der Anteil hilfsbedürftiger Jugendlicher. Dies führt zu mehr Verunsicherung und schränkt die Fähigkeit ein, ein selbstbestimmtes und belastungsfreies Leben zu führen. Man könnte auch folgern: Weniger äußere Risiken, aber mehr innere Belastung – ein ambivalenter Trend.“
Vergleich externalisierendes und internalisierendes Risikoverhalten
„Zahlreiche international vergleichende Jugendstudien zeigen seit Langem, dass externalisierendes Verhalten – zum Beispiel Jugendkriminalität oder Gewalt – in vielen westlichen Ländern seit den 1990er Jahren zurückgeht, während internalisierende Probleme – wie Depression, Angst und Selbstverletzung – zunehmen. Nach Erkenntnissen der HBSC-Studie zeigen Mädchen häufiger internalisierendes Risikoverhalten, wie psychosomatische Beschwerden, während Jungen stärker von externalisierendem Risikoverhalten betroffen sind, etwa durch Aggressionen und Substanzmissbrauch. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede spiegeln sich in globalen Trends wider, bei denen innere Belastungen steigen und äußeres Risikoverhalten abnimmt. Internalisierendes und externalisierendes Risikoverhalten stehen in ständiger Wechselwirkung und hängen von Persönlichkeitsmerkmalen, wie den Big Five, sowie von individuellen und sozialen Ressourcen ab. Die Resilienz (psychische Widerstandskraft; Anm. d. Red.), sowohl individuell als auch sozial, beeinflusst maßgeblich, wie Jugendliche mit Belastungen umgehen und ob diese Verhaltensmuster verstärkt oder abgeschwächt werden.“
Mögliche Erklärungen für Trend und Übertragbarkeit auf Deutschland
„Die Studie bietet kaum ätiologische Perspektiven an, da gesellschaftliche Megatrends, wie sie von der Lancet Psychiatry Commission on youth mental health als Ursachen für steigende psychische Probleme beschrieben werden [II], nicht berücksichtigt werden. Umwelt- und Kriegsängste, wie sie in der COPSY-Studie thematisiert werden [I], sowie digitale Belastungen wie Technostress (Stress durch das vermehrte Nutzen von Technologie; Anm. d. Red.), FOMO (Angst, etwas zu verpassen; Anm. d. Red.) und digitale Sucht, bleiben unerwähnt. Dadurch fehlt eine umfassendere Perspektive auf die Ursachen und die vielfältigen Belastungen, denen Jugendliche heute ausgesetzt sind.“
„Kein Interessenkonflikt.“
„Ich habe keinen Interessenkonflikt.“
„Ich habe keinerlei Interessenkonflikt.“
„Keine Interessenkonflikte.“
Primärquelle
Coley R et al. (2025): Trends in Mental and Behavioral Health Risks in Adolescents: 1999-2021. Pediatrics. DOI: 10.1542/peds.2024-068774.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Uhlhaas P et al. (2023): Towards a youth mental health paradigm: a perspective and roadmap. Molecular Psychiatry. DOI: 10.1038/s41380-023-02202-z.
[2] Solmi M et al. (2022): Age at onset of mental disorders worldwide: large-scale meta-analysis of 192 epidemiological studies. Molecular Psychiatry. DOI: 10.1038/s41380-021-01161-7.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Kaman A et al. (2024): Mental Health of Children and Adolescents in Times of Global Crises: Findings from the Longitudinal COPSY Study from 2020 to 2024. SSRN. DOI: 10.2139/ssrn.5043075.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
[II] McGorry P et al. (2024): The Lancet Psychiatry Commission on youth mental health. Lancet Psychiatry. DOI 10.1016/S2215-0366(24)00163-9.
Prof. Dr. Hanna Christiansen
Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Kein Interessenkonflikt.“
Prof. Dr. Marcel Romanos
Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP), Universitätsklinikum Würzburg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keinen Interessenkonflikt.“
Prof. Dr. Sabine Walper
Vorstandsvorsitzende und Direktorin, Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI), München
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keinerlei Interessenkonflikt.“
Prof. Dr. Ullrich Bauer
Professor für Sozialisationsforschung, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Keine Interessenkonflikte.“