Einfluss von Nikotin auf den Plötzlichen Kindstod
Bekanntermaßen erhöht Rauchen in der Schwangerschaft die Wahrscheinlichkeit, dass der Säugling am Plötzlichen Kindstod stirbt. Dass das Nikotin in Zigaretten dabei eine zentrale Rolle spielt, zeigt nun eine Studie an Ratten. Es beeinträchtigt nachhaltig die Funktion von Nervenzellen in Neugeborenen, die dadurch bei überlebenswichtigen Reflexen nicht mehr schnell genug reagieren können.
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité, Berlin und Leitlinien-Beauftragter der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI)
„Die Arbeit zeigt, dass eine vorgeburtliche Nikotinexposition (vergleichbar mit Rauchen in der Schwangerschaft) sich auf das Verhalten von Nervenzellen auswirkt, die unter anderem für das Offenhalten im Schlund-Kehlkopf-Bereich verantwortlich sind.“
„Die Autoren zeigen, dass die chronische Nikotinexposition die feine Balance zwischen hemmenden und erregenden Impulsen in den für das Offenhalten der oberen Atemwege verantwortlichen Nervenzellen verändert. Nikotin führt demnach bereits vor der Geburt zu Veränderungen, die erst nach der Geburt (wenn das Kind angefangen hat zu atmen) relevant werden.“
„Diese Art von Experimenten lässt sich beim Menschen nicht durchführen – deshalb sind letztlich Tierexperimente auch nötig. Die Ergebnisse der tierexperimentellen Studien passen aber sehr gut zu epidemiologischen Daten, die einen Zusammenhang zwischen Rauchen in der Schwangerschaft und plötzlichem Kindstod belegen.“
„Tabakrauch enthält neben Nikotin eine Vielzahl von Stoffen, die zum Beispiel an der Auslösung von Lungenkrebs beteiligt sind. Das umgeht die elektronische Zigarette. Beim plötzlichen Kindstod geht die Gefahr aber direkt vom Nikotin aus, also der eigentlich suchtmachenden Substanz, wegen derer Menschen traditionelle oder elektronische Zigaretten benutzen. Hier hilft nur die echte Nikotinkarenz – Aufhören ohne Ersatz.“
„Bei Säuglingen können Atemwegsinfektionen nicht nur zu Husten, sondern auch zum Aussetzen der Atmung führen. Gefürchtet ist in diesem Zusammenhang Keuchhusten (Pertussis). Glücklicherweise gehört Keuchhusten zur Palette der Krankheiten, die durch die Standardimpfungen abgedeckt sind. Da damit aber erst im Alter von zwei Monaten begonnen wird, ist es wichtig, dass die Menschen im Umfeld eines Neugeborenen – einschließlich der Großeltern – gegen Keuchhusten geimpft sind, auch wenn sie als Kind selber Keuchhusten hatten. Denn Keuchhusten wird bei Erwachsenen oft als gewöhnliche Bronchitis fehlgedeutet.“
Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche, Landeskrankenhaus Hochsteiermark, Leoben, Österreich
„Ich habe in den letzten 40 Jahren unzählige Theorien über die Ursache(n) des Plötzlichen Säuglingstodes (sudden infant death syndrome, SIDS) kommen und gehen sehen. Nun wurde – aus Tierversuchen abgeleitet – ein weiterer Erklärungsversuch für dieses fatale Ereignis publiziert. Hauptaussage dieser Arbeit ist, dass Nikotinbelastung in der Schwangerschaft bei Neugeborenen (in diesem Fall Ratten) über eine Störung der nervalen Versorgung (N. hypoglossus) zu einer gestörten Funktion der Mundbodenmuskulatur führt, was seinerseits bei Atemwegsbehinderung lebensrettende (Abwehr-) Reflexe unmöglich macht. Dies kann in weiterer Folge ‚Ersticken‘ durch sogenannte ‚obstruktive Apnoen‘ bedingen.“
„Der Zusammenhang zwischen Nikotinbelastung (sowohl vor- als auch nachgeburtlich) und dem Plötzlichen Säuglingstod (SIDS) ist seit vielen Jahren bekannt, und es besteht eine klare Dosis-Wirkungsbeziehung. Dabei scheint die Passivrauchbelastung nicht nur einen physiologischen Mechanismus gefährlich zu beeinflussen, sondern mehrfach nachteilig zu wirken. So wurde unter anderem gezeigt, dass Passivrauchbelastung mehrere Transmittersubstanzen des zentralen Nervensystems (ZNS) beeinträchtigt, aber auch verschiedene Entzündungsmediatoren (unter anderem Interleukine) in ihrer Konzentration moduliert. Dies kann zu verschiedenen Störungen autonomer Funktionen führen, die in erster Linie die Atmung und Kreislaufregulation betreffen. Als Folge sind derart vorbelastete Neugeborene schlechter in der Lage, sich aus ‚kritischen Situationen‘ durch entsprechende Schutzreflexe selbst zu befreien. Man spricht dabei auch von fehlender ‚fight and flight reaction‘ oder inadäquater ‚self resuscitation‘.“
„Eine besonders bedrohliche Situation ist die Behinderung der Atemwege, zum Beispiel durch Polster, große Stofftiere, Infektionen der Atemwege oder andere. Diese Situation wurde in der vorliegenden Studie simuliert. Und es wurde gezeigt, dass Neugeborene (Ratten) nach Nikotinbelastung darauf inadäquat reagieren und daher gefährdet sind. Als pathophysiologische Erklärung beschreiben die Studienautoren eine verminderte nervale Aktivität im Bereich der Mundbodenmuskulatur (M. genioglossus).“
„Der Zusammenhang zwischen Passivrauchbelastung und obstruktiven Apnoen ist nicht neu, schon 1994 wurde darüber publiziert. Teilweise neu ist hingegen, dass die Autoren der jetzigen Studie den Ort der Obstruktion / der Atemwegsbehinderung näher lokalisieren und bestimmte Neurotransmitter damit in Zusammenhang bringen.“
„Die jetzt publizierten Ergebnisse und die daraus abgeleitete Hypothese erscheinen grundsätzlich plausibel. Dass die Mundbodenmotorik eine nicht unerhebliche Rolle spielen dürfte, wurde auch schon bei der Beobachtung vermutet, dass die Mundmotorik fördernde Beruhigungsschnuller zu einer Reduktion des SIDS-Risikos beitragen können.“
„Als Einschränkung zu dieser Studie gilt, dass Tierversuche (mit Ratten) nur bedingt auf Menschen übertragen werden können. Zusätzlich wurde in der Studie eine oberflächliche Anästhesie angewandt, was seinerseits autonome Funktionsänderungen (mit) bedingen kann.“
„Ob der von den Studienautoren hypothetisierte Mechanismus tatsächlich SIDS (mit) bedingt, bleibt vorerst offen.“
„Außer Zweifel steht hingegen, dass Passivrauchbelastung sowohl in der Schwangerschaft als auch in den ersten Lebensmonaten das Risiko für den Plötzlichen Säuglingstod signifikant erhöht und daher unbedingt vermieden werden sollte. In vielen Ländern der Welt ist diese Empfehlung auch Bestandteil der SIDS-Prävention.“
„Elektronische Zigaretten ‚als Ersatz‘ stellen keine sinnvolle Alternative dar, weil auch diese diverse toxische und Neugeborene-gefährdende Substanzen enthalten. Daher kann die Forderung nur lauten: ‚Kein Rauchen in der Schwangerschaft und in der Nähe von Säuglingen‘. Das in Österreich soeben in Kraft getretene ‚Nichtrauchergesetz‘ ist ein wichtiger (und längst überfälliger) Schritt in die richtige Richtung.“
Leiter der Abteilung Pneumologie, Pädiatrie, pädiatrische Pneumologie, Schlafmedizin (SSSSC), Universitäts-Kinderspital Zürich, Schweiz
„Diese Arbeit bietet eine mögliche und plausible Erklärung für die gehäuften plötzlichen Kindstode von Müttern, die während der Schwangerschaft und Stillzeit rauchen. Sie weist auch darauf hin, dass die Exposition von Nikotin nach der Geburt ebenfalls zu einer ungenügenden Rettungsantwort des Atemsystems auf eine akute Atemmenge (zum Beispiel durch ein Kissen oder ein Bettlaken) führt. Das heißt, auch das Nikotin vom rauchenden Vater ist relevant, wenn das Kind bereits im Mutterleib exponiert war. Es ist bekannt, dass neben einer rauchenden Mutter oft auch ein rauchender Vater vorhanden ist.“
„Neu an dieser Arbeit ist, dass sie Mechanismen erklärt und auch die zeitlichen Abläufe besser reflektiert als bisherige Studien. Das Studiensetting ist sehr realistisch und glaubwürdig. Die Methodologie ist sehr durchdacht und nachvollziehbar. Für mich sind diese Resultate sehr plausibel.“
Auf die Frage, inwiefern die Ergebnisse der Studie an Ratten auf den Menschen übertragbar seien:
„Natürlich muss diese Frage gestellt werden. Aber die neurologischen Abläufe und die Atemsteuerung sind bei Ratten nicht wesentlich anders als bei Menschen. Deshalb ist das Tiermodell klar anwendbar und die Resultate übertragbar.“
„Die Tabak-Industrie will den Menschen weismachen, dass elektronische Zigaretten harmlos und weitaus weniger schädlich als konventionelle Zigaretten sind. Dies mag für das Problem des Lungenkrebses und die chronische Raucherlunge stimmen, aber hier ist es eben das Nikotin. Dieses ist in der elektronischen Zigaretten zum Teil noch viel höher konzentriert als bei normalen Zigaretten. Dies trifft vor allem für den absoluten Verkaufsschlager in den USA zu, die JUUL. Aus diesem Grund ist diese Studie als außerordentlich wichtig und wegweisend zu bewerten.“
„Die Substanz, die im Zentrum steht, ist das Nikotin. Es kommt also nicht drauf an, wie das Nikotin konsumiert wird. Wenn die Mutter Nikotin zu sich nimmt (wie auch immer), gelangt dieses ungefiltert über die Plazenta zum Kind. Nach der Geburt über die Muttermilch. Bei elektronischen Zigaretten und konventionellen Zigaretten zusätzlich über den Rauch und den Dampf, der auch an den Kleidern und der Haut haftet.“
„Das Nikotin ist der wesentliche Faktor beim plötzlichen Kindstod. Man muss also nicht darüber philosophieren, was man im Bett lassen soll oder nicht, sondern: Wenn eine schwangere Frau raucht, schädigt sie ihr Kind. Natürlich muss bei einem Kind von rauchenden Eltern alles getan werden, damit eine solche Situation, die zu einer akuten Einengung der Atemwege führen könnte, verhindert wird. Aber dies ist sehr viel weniger realistisch als das Kind vor Nikotin zu schützen. Dies muss das primäre und gültige Ziel sein.“
„Interessenkonflikte sehe ich nicht.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Wollman L et al. (2019): Developmental nicotine exposure alters synaptic input to hypoglossal motoneurons, and is associated with altered function of upper airway muscles. eNeuro; DOI: 10.1523/ENEURO.0299-19.2019.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Tatiana M et al. (2019): Maternal Smoking Before and During Pregnancy and the Risk of Sudden Unexpected Infant Death. Pediatrics; e20183325. DOI: 10.1542/peds.2018-3325.
Prof. Dr. Christoph Bührer
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité, Berlin und Leitlinien-Beauftragter der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI)
Prof. Dr. Reinhold Kerbl
Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche, Landeskrankenhaus Hochsteiermark, Leoben, Österreich
Prof. Dr. Alexander Möller
Leiter der Abteilung Pneumologie, Pädiatrie, pädiatrische Pneumologie, Schlafmedizin (SSSSC), Universitäts-Kinderspital Zürich, Schweiz