Effekt von Diabetes in der Schwangerschaft auf die neurologische Entwicklung des Kindes
Diabetes in der Schwangerschaft ist laut Meta-Analyse mit einem erhöhten Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen beim Kind assoziiert
bisher lag nicht genug Evidenz vor, um diesen Zusammenhang zu belegen
Meta-Analyse bestärkt laut Forschenden den Zusammenhang, Änderungen in der medizinischen Versorgung leiten sich allerdings nicht ab
Diabetes vor und während der Schwangerschaft könnte mit einem erhöhten Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen wie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Autismus beim Kind in Zusammenhang stehen. Eine Meta-Analyse, die im Fachjournal „The Lancet Diabetes & Endocrinology“ erschienen ist (siehe Primärquelle) berechnet auf Grundlage von 202 Studien und 56.082.462 Mutter-Kind-Paaren die Auswirkungen von Diabetes bei Müttern auf die neurologische Entwicklung ihrer Kinder. Das Fazit der verantwortlichen chinesischen Arbeitsgruppe: Ein Diabetes bei der Mutter steht mit einem um 28 Prozent erhöhten Risiko für eine neurologische Entwicklungsstörung beim Kind in Verbindung.
Leiterin der Sprechstunde für Diabetes und Schwangerschaft im Département Femme-mère-enfant, Universitätsspital Lausanne , Schweiz
Zur Studie
„Es handelt sich um eine sehr umfangreiche Meta-Analyse, die 202 Beobachtungsstudien und 56 Mutter-Kind-Paare umfasst. Eine Stärke der Studie ist, dass sie größer und umfassender ist als andere frühere Meta-Analysen. Etwa die Hälfte der eingeschlossenen Studien wiesen ein geringes und etwa die Hälfte ein moderates Verzerrungsrisiko auf.”
Einordnung der Ergebnisse
„Die Ergebnisse scheinen frühere Daten zu bestätigen, aber ein kausaler Zusammenhang zwischen Diabetes in der Schwangerschaft und neurologischen Beeinträchtigungen des Kindes ist nicht bestätigt. Es scheint, dass das Risiko für Autismus bei Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes ähnlich hoch ist wie bei Frauen mit bereits bestehendem Diabetes, während das Risiko für ADHS und geistige Behinderung beispielsweise bei Frauen mit bereits bestehendem Diabetes höher ist. Was Schwangerschaftsdiabetes im Allgemeinen betrifft, so wurden die Assoziationen eher bei Frauen gefunden, bei denen die Diagnose früh gestellt wurde und die medikamentös behandelt wurden. Überraschenderweise war der Zusammenhang zwischen einem im oralen Glukosetoleranztest bestätigten Schwangerschaftsdiabetes und ADHS nicht signifikant.“
„Die Analyse umfasst zwar nur wenige Geschwisteranalysen, aber diese deuten darauf hin, dass gemeinsame familiäre oder genetische Faktoren zu den beobachteten Assoziationen beitragen könnten. Dazu könnte möglicherweise auch eine gemeinsame Fehlregulation des Immunsystems gehören.“
Limitationen der Studie
„Die Probleme bei dieser Art von Metaanalyse sind die folgenden Punkte: Erstens war die Diagnose von Schwangerschaftsdiabetes und Diabetes sowie die Diagnose von neurologischen Entwicklungsstörungen heterogen. Des Weiteren waren die verschiedenen Störfaktoren nicht in allen Studien gleich: so könnte zum Beispiel der Body-Mass-Index einen viel stärkeren Einfluss haben als Alter, Geschlecht oder psychische Gesundheit oder umgekehrt. Darüber hinaus wurden viele andere Faktoren nicht berücksichtigt: Dazu gehören unter anderem die Blutzuckerkontrolle wie beispielsweise der HbA1c-Wert, die Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, Probleme bei der Entbindung, das Schwangerschaftsdauer bei der Entbindung, die neonatale Intensivpflege, der Zugang zur Gesundheitsversorgung. Es ist außerdem nicht klar, ob die Diagnose und der damit verbundene größere Stress während der Schwangerschaft einen Einfluss gehabt haben könnten.“
Was noch fehlt
„Die Limitationen dieser Analyse im Blick sollten prospektive, groß angelegte, bevölkerungsbezogene Studien durchgeführt werden, die gemeinsame, familiäre und genetische Faktoren sowie viele potenzielle Störfaktoren einbeziehen (und zwar in allen Populationen gleich) –einschließlich Geschwister-, Zwillings- und Adoptionsstudien.“
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Mehrwert der Studie
„Hinweise auf ein erhöhtes Risiko neuropsychiatrischer Probleme bei Kindern nach einer durch Diabetes mellitus komplizierten Schwangerschaft sind vielfältig, aber inkonsistent und teilweise widersprüchlich. Die aktuelle Meta-Analyse mit ihrer riesigen Datenbasis – 202 Studien mit zusammen über 56 Millionen Mutter-Kind-Paaren – zeigt nun für alle untersuchten Zielvariablen (Entwicklungsstörungen, Intelligenzdefizite, Lernschwierigkeiten, Autismus-Spektrum-Störungen [ASD] und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen [ADHS] ) relativ einheitlich eine Zunahme des relativen Risikos im Bereich von 10 bis 30 Prozent. Da das absolute Risiko dieser Störungen klein ist, sind die allermeisten Kinder nicht betroffen.“
„Es scheint eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zu geben: je früher die Diagnose Diabetes in der Schwangerschaft gestellt wird, desto deutlicher die Zunahme des Risikos für kindliche neuropsychiatrische Erkrankungen. Beim Gestationsdiabetes (Schwangerschaftsdiabetes; Anm. d. Red.) wurde zwar eine Assoziation mit ASD und ADHS in den herangezogenen Populationsstudien beobachtet, nicht aber in den Geschwisterstudien. Dies spricht gegen einen direkten Kausalzusammenhang – die Assoziation zwischen Diabetes und den neuropsychiatrischen Erkrankungen dürfte mehr durch die genetischen und Lebensstil-Gemeinsamkeiten von Müttern und Kindern bedingt sein.“
Empfehlungen bei Diabetes in der Schwangerschaft
„Die Behandlungsindikation für einen prägraviden Diabetes (Diabetes, der bereits vor der Schwangerschaft besteht; Anm. d. Red.) ergibt sich unstrittig bereits aus der Verringerung des mit der Stoffwechseleinstellung korrelierenden Fehlbildungsrisiko, für jeglichen Diabetes in der Schwangerschaft durch die Vermeidung geburtshilflicher Komplikationen. Hieran ändert sich durch die Ergebnisse der Meta-Analyse nichts. In der Diskussion wird darauf hingewiesen, dass Beunruhigungen der Mütter durch Hinweise auf mögliche kindliche Langzeitfolgen womöglich mehr Schaden als Nutzen anrichten können.“
„Ausschau zu halten nach Entwicklungsverzögerungen und neuropsychiatrischen Erkrankungen wie ASD und ADHS ist Gegenstand der Vorsorgeuntersuchungen gemäß der Kinderrichtlinie. Es gibt Bestrebungen, im Rahmen dieser Vorsorgeuntersuchungen frühzeitiger systematisch für ASD und ADHS zu screenen, und zwar bei allen Kindern. Die kleine Zunahme des absoluten Risikos bei Kindern diabetischer Mütter rechtfertigt keine Sonderbehandlung und bärge eher die Gefahr einer Stigmatisierung.“
Leiterin des Bereichs Gender Medicine, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Klinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien , Österreich
Mehrwert der Studie
„Es ist die bisher größte Meta-Analyse zum Einfluss von Hyperglykämie in der Schwangerschaft auf die neuronale Entwicklung (Hirnfunktion) der Kinder in Form von verschiedenen Störungen/Erkrankungen nach ICD11 (11. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO; Anm. d. Red.) und DSM 5 (fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; Anm. d. Red.). Sie bestätigt bisherige Ergebnisse, dass Kinder von Müttern mit Hyperglykämie in der Schwangerschaft ein höheres Risiko für ADHS und Autismus aufweisen. Außerdem gibt sie Hinweise, dass die Kinder auch schlechter bei psychomotorischen Tests, Sprachfähigkeit, Intelligenztests und Lernfähigkeit abschnitten verglichen mit Kindern, bei denen die Mütter keine Glukosestoffwechselstörung hatten.“
Limitationen der Studie
„Allerdings handelt es sich bei den eingeschlossenen Studien um Kohortenstudien und Observationsstudien, die teilweise sehr heterogen sind und auch verschiedene Bias aufweisen. Es besteht also eine gewisse Evidenz für Assoziationen, aber kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang. Genetische Faktoren und Umwelteinflüsse, der sozioökonomische Status und die frühkindliche Entwicklung – insbesondere die Ernährung und die Stilldauer – sowie der spätere Lebensstil tragen wesentlich zu all diesen Effekten bei. Geschwisterstudien haben jedenfalls den dominierenden Effekt der mütterlichen Hyperglykämie auf diese Ergebnisse großteils nicht bestätigt.“
„Ein Problem ist außerdem, dass – auch wenn teilweise auf Störfaktoren bereinigt wurde – in den meisten Studien viele dieser wichtigen (oben genannten) Einflussfaktoren nicht berücksichtigt wurden. Besonders wichtig wäre die Berücksichtigung des Body-Mass-Index und der Stoffwechselkontrolle der Mütter in Form von HbA1c-Werten und oder Glukoseprofilen gewesen. Außerdem haben die Diagnosekriterien für Gestationsdiabetes mellitus (GDM) (Schwangerschaftsdiabetes; Anm. d. Red.) über die Zeit und lokal variiert und in älteren Studien dürften viele Frauen mit unerkanntem, vorbestehendem Diabetes als GDM klassifiziert worden sein; später korrekterweise als ‚diabetes in pregnancy‘ (DIP), auch wenn der Diabetes erst in der Schwangerschaft entdeckt wurde.“
Stand der Forschung
„Es wurde bereits vielfach gezeigt, dass Kinder von Müttern mit GDM oder Diabetes Typ 1 und Typ 2 in der Schwangerschaft ein höheres Risiko für Adipositas, metabolisches Syndrom und Diabetes im weiteren Verlauf aufweisen, was auch auf eine veränderte fetale Programmierung des kindlichen Stoffwechsels durch die Hyperglykämie und/oder Adipositas der Mutter in der Schwangerschaft zurückgeführt wird. Weiter wurde auch kürzlich gezeigt, dass eine frühe fetale Exposition für mütterlichen Schwangerschaftsdiabetes (GDM) auch zu neuralen Veränderungen des Kindes vor allem im Hypothalamus führen kann, was wiederum mit verändertem Energiestoffwechsel, Verhalten und Gewichtszunahme im Kindesalter verbunden war. Es ist zu vermuten, dass nicht nur eine metabolische, sondern auch eine neuronale epigenetische Prägung im Mutterleib stattfindet, welche auch miteinander in Zusammenhang stehen und sich gegenseitig verstärken. Interessant ist, dass bei vielen Studien der Zeitpunkt der Hyperglykämie wesentlich zu sein scheint und vor allem bei ausgeprägter Hyperglykämie zu Schwangerschaftsbeginn beziehungsweise jedenfalls vor der 26. Schwangerschaftswoche ein stärkerer Effekt besteht. Das zeigt sich daran, dass ein vorbestehender Diabetes für die meisten Ergebnisse der aktuellen Studie höhere Risiken als ein GDM hatte und beim GDM, selbst wenn er nur mit Lebensstilmaßnahmen behandelt wurde, die Ergebnisse auch nicht signifikant waren.“
Was noch fehlt
„Es besteht die Notwendigkeit weiterer Forschung – vor allem zu den möglichen Ursachen und wie diese auch verhindert werden können. Zum Beispiel, ob eine frühe Behandlung und Optimierung des mütterlichen Stoffwechsels und der mütterlichen Ernährung und Überwachung der Gewichtszunahme einen positiven Einfluss auf die kindliche neuronale und metabolische Entwicklung hat.“
Empfehlungen bei Diabetes in der Schwangerschaft
„Kinder von Müttern mit Hyperglykämie in der Schwangerschaft sollen nicht nur neonatal sondern auch in der weiteren Gewichts-, Stoffwechsel- und kognitiven Entwicklung besser überwacht werden, damit mögliche Entwicklungsstörungen rasch erkannt und Gegenmaßnahmen beziehungsweise spezielle Fördermaßnahmen ergriffen werden können.“
Mögliche Mechanismen für den Zusammenhang
„Auch wenn die biologischen Mechanismen noch unklar sind, haben Tierstudien gezeigt, dass eine intrauterine Exposition für Hyperglykämie die Hirnentwicklung des Fetus negativ beeinflusst, insbesondere im Hypothalamus, Hippocampus und dem Belohnungssystem.“
„Außerdem ist Hyperglykämie immer auch mit Insulinresistenz, Veränderungen im Immunsystem und proinflammatorischen Prozessen im Körper verbunden. Diese ‚Metainflammation‘ könnte mit frühkindlichen Entwicklungsstörungen verschiedenster Zellfunktionen und Organsysteme in Zusammenhang stehen.“
„Darüber hinaus könnte auch mütterlicher ‚Diabetes Distress‘ und/oder eine Depression oder Angststörung der Mütter auf die kindliche Entwicklung einen Einfluss haben, was bei Frauen mit GDM oder vorbestehendem Diabetes wesentlich öfter diagnostiziert wird.“
„Geschlechtsspezifische Unterschiede waren zwar bei den Kindern nicht signifikant, aber insgesamt schien die Vulnerabilität für neuronale Entwicklungsstörungen bei weiblichen Kindern größer. Geschlechterunterschiede sind auch schon früher bei epigenetischen Effekten in der Schwangerschaft aufgefallen. An dieser Stelle sind weitere Untersuchungen wichtig, denn ADHS und Autismus werden bei Jungen und Männern wesentlich häufiger diagnostiziert, werden aber nach neueren Daten bei Mädchen und Frauen oft nicht oder viel später erkannt.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Interessenkonflikte in Bezug auf das Thema habe ich keine.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.”
Primärquelle
Ye W et al. (2025): Association between maternal diabetes and neurodevelopmental outcomes in children: a systematic review and meta-analysis of 202 observational studies comprising 56·1 million pregnancies. The Lancet Diabetes & Endocrinology.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2024): Schwangerschaftsdiabetes früher testen. Statements. Stand: 21.06.2024.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Johns EC et al. (2018): Gestational Deabetes Mellitus: Mechanisms, Treatment, and Complications. Trends in Endocrinology & Metabolism. DOI: 10.1016/j.tem.2018.09.004.
[II] Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe (2022): Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2022.
[III] Deutsche Diabetes Gesellschaft (2021): Diabetes in der Schwangerschaft. S2e-Leilinie, 3. Auflage. AWMF-Registernummer: 057-023.
[IV] Ornoy A et al. (2021): Diabetes during pregnancy: a maternal disease complicating the course of pregnancy with long-term deleterious effects on the offspring: a clinical review. International Journal of Molecular Science. DOI: 10.3390/ijms22062965.
Prof. Dr. Jardena Puder
Leiterin der Sprechstunde für Diabetes und Schwangerschaft im Département Femme-mère-enfant, Universitätsspital Lausanne , Schweiz
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Christoph Bührer
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Interessenkonflikte in Bezug auf das Thema habe ich keine.“
Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer
Leiterin des Bereichs Gender Medicine, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Klinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien , Österreich
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.”