Digitale Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse deutscher Behörden
aktuelle Debatte um digitale Ermittlungs- und Überwachungskompetenzen von Polizei und Behörden
Verhältnismäßigkeit und Nutzen solcher Kompetenzen wird viel diskutiert
Forschende verweisen auf bereits vorhandene Befugnisse und betonen die Bedeutung von Verhältnismäßigkeit
Welche digitalen Ermittlungs- und Überwachungskompetenzen sollten deutsche Polizei und Behörden haben? Darüber wird zurzeit medial und gesellschaftlich diskutiert. Zum einen hat der Anschlag von Solingen dieses Thema erneut auf das Radar gehoben. Zum anderen gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Bemühungen von Politik und Polizei, die Kompetenzen der Ermittlungsbehörden auszuweiten – jüngst durch den Entwurf von Innenministerin Faeser für ein neues BKA-Gesetz [I].
Professor für IT-Sicherheitsrecht, Hochschule Bremen
Aktuelle Rechtslage und mögliche neue Gesetze
„In Deutschland ist zwischen dem Gefahrenvorfeld, der Gefahrenabwehr und strafprozessualen Ermittlungen zu unterscheiden. Dementsprechend finden sich die hauptsächlichen rechtlichen Grundlagen für digitale Überwachungsbefugnisse im Nachrichtendienst-, Polizei- und Strafprozessrecht. Die wichtigsten Vorschriften sind hier das Gesetz über das Bundesamt für Verfassungsschutz, das BND-Gesetz und das MAD-Gesetz. Im polizeilichen Bereich ist das BKA-Gesetz zu nennen, im Bereich der Strafverfolgung die Strafprozessordnung. Für die Nachrichtendienste werden die Eingriffe in digitale Kommunikation darüber hinaus grundsätzlich abschließend im G10-Gesetz (Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses; Anm. d. Red.) geregelt. Obwohl die rechtlichen Hürden zur Überwachung digitaler Kommunikation theoretisch hoch sind, führt diese Vielzahl an rechtlichen Möglichkeiten in der Praxis dazu, dass den Behörden zahllose Überwachungsmöglichkeiten eröffnet sind. Wichtigste Instrumente sind die Telekommunikationsüberwachung, die Online-Durchsuchung, die akustische Wohnraumüberwachung, die Erhebung von Verkehrsdaten – auch diskutiert unter ‚Vorratsdatenspeicherung‘ – und die Mobilfunkermittlung. Zentrale Fragen werden sich in Zukunft vor allem damit auseinandersetzen, inwieweit es Grundrechtsträgern möglich sein sollte, verschlüsselt zu kommunizieren. Und ob Software und Endgeräte nicht von vornherein eine technische Schnittstelle besitzen sollten, um staatlichen Einrichtungen Daten zur Vorabüberprüfung zugänglich zu machen.“
Nutzen und Evaluation solcher Befugnisse
„Die objektive Evaluation des Nutzens technischer Ermittlungsbefugnisse ist sehr begrenzt, da es zum einen um politische Interessen geht, zum anderen aber in der Praxis durchaus verschiedene Erkenntnisquellen dazu beitragen können, zum Ermittlungserfolg zu führen. Deshalb gibt es meist keine klare Kausalitätskette. Klar aber ist, dass das Verfassungsrecht den Nachweis verlangt, dass eine Maßnahme im Sinne der grundrechtlichen Güterabwägung in der Lage ist, zum erstrebten Ziel zu führen. Dass nach Ereignissen, die die öffentliche Sicherheit betreffen, schärfere Überwachungsgesetze durch die Politik verlangt werden, ist nichts Neues. Die Anschläge des 11. September 2001 waren so gesehen ein historischer Wendepunkt in der nationalen Überwachungsdebatte, da noch im selben Jahr das deutsche Überwachungsrecht massiv ausgebaut und bis heute in dieser Form aufrechterhalten wurde. Auch wenn immer wieder der wissenschaftliche Ansatz einer sogenannten ‚Überwachungsgesamtrechnung‘ diskutiert wurde, um diese rechtliche Situation abzubilden, halte ich das nur für sehr schwer realisierbar. In diesem Bereich kann man keine klassischen Studien oder Erhebungen durchführen, um die Effektivität von Maßnahmen im Einzelfall zu messen – zumal nachrichtendienstliche Operationen oft im Geheimen stattfinden.“
Verhältnismäßigkeit
„Letztlich ist die Grenze allen staatlichen Handelns immer darin zu sehen, wenn Grundrechtsträgern die Wahrnehmung ihrer Grundrechte ungerechtfertigt so erschwert wird, dass sie faktisch entwertet werden, sie also in ihrem Wesensgehalt angetastet sind. Wenn man die einzelnen Überwachungsmaßnahmen für sich genommen betrachtet, ist dieser Zustand aktuell noch nicht eingetreten. Wenn man alle existierenden Befugnisgrundlagen gesammelt betrachtet, stellen sich schon eher solche Fragen. Das Hauptproblem liegt letztlich aber darin, dass mit nahezu jeder Regierung neue Überwachungsmaßnahmen in die Gesetze aufgenommen werden, ohne alte Befugnisse wieder zurückzunehmen. Und das führt dazu, dass die verfassungsrechtliche Betrachtung immer auf eine Momentaufnahme des konkreten gesetzgeberischen Vorhabens reduziert wird. Was wir deshalb für jedes Überwachungsgesetz brauchen, wenn wir unsere digitalen Grundrechte ernst nehmen wollen, ist eine zwingende Evaluationsklausel, die die Effektivität einer Maßnahme nach einem festgelegten Zeitraum bewertet. Ebenso müssten solche Gesetze in ihrer Wirkkraft zeitlich reglementiert und so gestaltet werden, dass sie nach festgelegten Zeiträumen einer Verlängerung durch das Parlament bedürfen und ansonsten automatisch auslaufen, sollte diese nicht vorliegen.“
Welcher Kompromiss kann sinnvoll sein?
„Menschen brauchen Rückzugsräume vor digitaler Überwachung und müssen transparenter verstehen können, was mit einer Überwachungsmaßnahme letztlich bezweckt wird. Bestes Beispiel ist die Videoüberwachung: Oft wird argumentiert, diese sei ein geeignetes Mittel zur Verhütung von Straftaten, das ist aber nur ein sehr begrenzt tragfähiges Argument, denn das sicherheitsbehördliche Einschreiten dürfte trotz Videoüberwachung meistens zu spät sein. Dass Videoüberwachung unter Umständen bei der Strafverfolgung hilfreich sein kann, ist demgegenüber unbestritten. Wir müssen bei der Abwägung zwischen Privatsphäre und öffentlicher Sicherheit viel klarer zwischen Nachrichtendiensten, Polizeien und Strafverfolgungsbehörden unterscheiden, als das bislang der Fall ist. Das ist auch Aufgabe des Gesetzgebers. Politisch pauschal den Ausbau von Überwachungsbefugnissen zu fordern, hilft niemandem weiter, wenn keiner weiß, wofür genau diese gut sein sollen.“
Leiterin des Lehrstuhls für das Recht der Digitalisierung und des Instituts für Digitalisierung, Universität zu Köln
Aktuelle Rechtslage und mögliche neue Gesetze
„Die Polizeibehörden haben schon jetzt vielfältigste Befugnisse; dazu gehört auch zunehmend das Zusammenführen von Daten aus verschiedensten Quellen. Nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 hat man hier erhebliche Erleichterungen und Querverbindungen auch über die Länder hinweg geschaffen. Diese werden auch genutzt, um kriminelle Aktivitäten aufzuspüren und zu ahnden. Allerdings gibt es eine schlechte personelle Ausstattung bei den Ermittlungsbehörden, gerade auch im Digitalisierungsbereich. Hier müsste besseres und mehr Personal eingesetzt werden, und es müssten gezielt auch langfristige Ermittlungen ohne kurzfristige Erfolge gefördert werden.“
„Schwierigkeiten bei den Befugnissen gibt es aber, wenn Unberechtigte, die untergetaucht sind, ausfindig gemacht werden sollen. Hierzu müsste Abschiebung/Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht in den Katalog der schweren Straftaten aufgenommen werden, aufgrund derer die volle Kraft auch digitaler Ermittlungstechniken eingesetzt werden könnte. Das ist aber keine beiläufige Entscheidung, sondern müsste deutlich mit anderen Maßnahmen in einen Ausgleich gebracht werden, damit dies noch verhältnismäßig ist.“
Verhältnismäßigkeit
„Wie bei jeder Verbindung von Datensätzen unterschiedlichster Lebensbereiche entsteht ein umfassenderes Bild über einen Verdächtigen als für die konkrete Ermittlung im Nachhinein notwendig war – die Daten sind aber dann da. Angesichts der Bedeutung eines Smartphones ist zum Beispiel die Nachverfolgung der dortigen Aktivitäten ein weitreichender Eingriff. Und nicht jeder Untergetauchte ist sogleich ein potenzieller Attentäter.“
Welcher Kompromiss kann sinnvoll sein?
„Weitreichende Ermittlungsmethoden müssen neben dem Strafrecht und der Privatsphäre in einen gesamtheitlichen Ausgleich mit anderen rechtlichen Interessen gebracht werden. Dazu zählen etwa Belastungen für den Sozialstaat durch darüber gewährte Leistungen, das Interesse an Zuwanderung in bestimmten Bereichen oder die geopolitische Gesamtlage.“
Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung, FernUniversität in Hagen
Aktuelle Rechtslage und mögliche neue Gesetze
„In Deutschland bestehen zahlreiche Überwachungsbefugnisse unterschiedlicher staatlicher Behörden, die aufgrund des föderalistischen Staatsaufbaus zwischen Bund und Ländern aufgeteilt sind. Auf Bundes- und Landesebene wird zudem zwischen den Kompetenzbereichen von Polizei und Strafverfolgungsbehörden zur operativen Gefahrenabwehr beziehungsweise Strafverfolgung und den Nachrichtendiensten (BND, MAD, Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbehörden der Länder) zur informationellen Vorfeldaufklärung differenziert. ‚Klassische‘ Überwachungsbefugnisse – wie die Observation von Personen, die Überwachung von Telekommunikation oder die ‚Online-Durchsuchung‘ – sind im Gesamtkontext der zahlreichen Befugnisse der Sicherheitsbehörden zur umfangreichen Verarbeitung von Daten, aus denen sich neue Erkenntnisse ableiten lassen sollen und der Ausweitung von Vorfeldbefugnissen (‚drohende Gefahr‘, Präventivgewahrsam im bayerischen Polizeiaufgabengesetz) zu sehen. Besonders umstritten sind beispielsweise die Quellen- Telekommunikationsüberwachung im Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) zur Überwachung laufender Kommunikation, wozu eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist, der Einsatz biometrischer Gesichtserkennung, die auch im Kontext der KI-Verordnung stark diskutiert wurde und die Reform des Bundespolizeigesetzes.“
Nutzen und Evaluation solcher Befugnisse
„Es fehlt an empirischen Erkenntnissen zur Effizienz von behördlichen Befugnissen im Detail und in der Breite. Hoch gepriesene Vorhaben vermeintlich technisch innovativer Instrumente wie Modellprojekte zu ‚Predictive Policing‘ wurden teilweise aufgrund fehlenden Erfolgs oder schlicht mangelnder Datengrundlage eingestellt. Das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht führt seit diesem Jahr im Auftrag des BMI ein Forschungsprojekt zur ‚Überwachungsgesamtrechnung‘ durch. Dieses Konzept, das im Koalitionsvertrag verankert ist, soll einen wissenschaftlichen Überblick über die bestehenden Überwachungsbefugnisse bieten. Die genaue Messbarkeit des Erfolgs, der zudem zunächst definiert werden müsste, dürfte sich jedoch als schwierig erweisen. Juristisch sind zudem die genauen Grenzen sich kumulierender Maßnahmen nicht final geklärt und werden beispielsweise unter additiven Grundrechtseingriffen oder Belastungskumulationen diskutiert.“
Verhältnismäßigkeit
„Spätestens seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 hat sich in der rechtspolitischen Debatte die nahezu reflexhafte Forderung etabliert, eine Ausweitung der Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden zu fordern. Zahlreiche dieser Vorhaben sind am Bundesverfassungsgericht gescheitert, das seine wiederholten Entscheidungen in diesem Bereich nummerieren musste (Bestandsdatenauskunft II, Antiterrordateigesetz II, BKAG II und so weiter). Rechtsstaatlicher Grundrechtsschutz sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass erst Gerichte entscheiden müssen, sondern bei parlamentarischen und exekutiven Entscheidungen stets berücksichtigt werden. Missbrauchspotenzial besteht insbesondere bei datenmächtigen Akteuren, also solchen Institutionen, die Zugriff auf große Datenmengen haben, Daten extrahieren können und diese für ihre Zwecke einsetzen. Problematisch ist, wenn staatliche Akteure dabei Produkte und Dienstleistungen privater Anbieter:innen nutzen, die eigene ökonomische Interessen verfolgen, wie im Fall von Palantir und ‚Hessendata‘. Auf Vorrat erlassene Maßnahmen sind rechtswidrig, da sie schon nicht erforderlich sind: Soweit ersichtlich wurde beispielsweise das Data-Mining nach Paragraph 6a im Antiterrordateigesetz noch gar nicht genutzt, weil die technischen Voraussetzungen fehlen.“
Welcher Kompromiss kann sinnvoll sein?
„Datenschutz und Privatsphäre sind grundlegende Voraussetzungen für Autonomie und freie Willensbildung und damit essenziell für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften. Absolute Sicherheit kann es in freien Gesellschaften nicht geben. Der Schutz von Daten und Privatheit sollte nicht nur als Privatsache, sondern als gesellschaftliches Interesse angesehen werden, diskriminierende Datenpraktiken müssen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit stärker berücksichtigt werden. Anstatt neue Eingriffsgrundlagen zu schaffen, sollte zudem regelmäßig geprüft werden, welche Befugnisse bestehen, bei denen es aber im Vollzug hakt. Vorhaben mit erheblicher Breitenwirkung und tiefgreifender Grundrechtsrelevanz, wie etwa die im Rahmen des Unionsrechts (ehemals) diskutierte Chatkontrolle, die irreversible Konsequenzen für Informationsinfrastrukturen nach sich ziehen könnte, sollten von politischer und zivilgesellschaftlicher Seite weiterhin entschieden abgelehnt werden.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
„Ich sehe keine Interessenkonflikte.“
„Keine Interessenkonflikte.“
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Meister A (15.08.2024): Wir veröffentlichen den Entwurf zum neuem BKA-Gesetz. Netzpolitik.
[II] Schwartz K (26.08.2024): Warum die Abschiebung des Tatverdächtigen scheiterte. Tagesschau.
[III] Bundesministerium der Justiz (10.01.2024): Startschuss für die unabhängige wissenschaftliche Untersuchung der Sicherheitsgesetze. Pressemitteilung.
Prof. Dr. Dennis-Kenji Kipker
Professor für IT-Sicherheitsrecht, Hochschule Bremen
Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann
Leiterin des Lehrstuhls für das Recht der Digitalisierung und des Instituts für Digitalisierung, Universität zu Köln
Prof. Dr. Hannah Ruschemeier
Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung, FernUniversität in Hagen