Medizin & Lebenswissenschaften

19. Januar 2017

Cannabis – eine Droge als Medikament (aktualisierte Fassung)

Stand 19.01.2017

  • Am 18.01.2017 hat der Gesundheitsausschuss des Bundestages den „Cannabis-Entwurf“ der Bundesregierung einstimmig gebilligt und somit den Weg freigemacht für ein Gesetz das vorsieht, Cannabis unter bestimmten Bedingungen für die Therapie schwerkranker Menschen freizugeben. Demnach sollen unter anderem die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten übernehmen und gleichzeitig begleitende Forschung leisten. Die Vorlage für den Gesetzentwurf wurde in den parlamentarischen Beratungen an einigen Stellen noch verändert. Der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“, so der vollständige Titel, soll am 19.01.2017 vom Bundestag verabschiedet werden.
  • Um die journalistische Recherche zu diesem Thema zu unterstützen, bietet das Science Media Center Germany dieses Factsheet an. Es gibt einen aktualisierten Überblick über die Evidenz zum Einsatz von Cannabis zur Therapie von Krankheiten und zu weiteren Drogen, die in der Medizin eingesetzt werden; außerdem werden die medizinischen Wirkungen sowie die politisch-rechtliche Lage in Deutschland erläutert. Die ursprüngliche Fassung mit Stand 07.07.2016 ist hier nachzulesen.
  • Unabhängig davon wird seit Längerem darüber diskutiert, ob Cannabis in Deutschland legalisiert und somit frei verkäuflich werden soll. Diese Debatte ist nicht Inhalt dieses Factsheets.

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Übersicht

Wie Cannabis im menschlichen Körper wirkt

Welche medizinischen Nutzen und welche Risiken wissenschaftlich belegt sind

Wie eine Droge zum Arzneimittel wird: Der generelle Zulassungsprozess

Vom Arzneimittel zur Droge: Das Beispiel Heroin

Weitere Beispiele für Drogen in der Medizin

Was der Gesetzentwurf zu Cannabis beinhaltet

Das bislang in Deutschland geltende Gesetz zur Verwendung von Cannabis

Weitere Recherchequellen

Wie Cannabis im menschlichen Körper wirkt

  • „Cannabis“ bezeichnet Hanf-Pflanzen, die Wirkstoffe enthalten, die auf die Psyche wirken (psychotrop)
    • ca. 60 verschiedene Inhaltstoffe sind bekannt, sogenannte Cannabinoide
    • Cannabinoide, die am meisten wirksam sind und die am wichtigsten für die Forschung und Anwendnung sind:
      • Tetrahydrocannabinol (THC, genauer Delta-9-Tetrahydrocannabinol)
      • Cannabidiol (CBD)
  • Biologische Wirkungsweise im menschlichen Körper:
    • Cannabinoide wie THC wirken auf das Endocannabinoid-System (ECS) des Nervensystems
    • ECS umfasst zum einen zwei Rezeptoren:
      • CB-1 (findet sich auf Nervenzellen, steuert v.a. die Bewegung und Informationsverarbeitung im Gehirn)
      • CB-2 (v.a. auf Zellen der Immunabwehr)
    • ECS umfasst zum anderen mehrere, natürliche Bindungspartner (endogene Liganden)
      • bekanntester: körpereigenes Anandamid, die Substanz zeigt Cannabis-ähnliche psychoaktive Wirkungen und ist ebenfalls forschungsrelevant
    • Cannabinoide wirken auf die Ausschüttung unterschiedlicher Neurotransmitter wie Dopamin, GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) und Glutamat, was sich vielfältig auf den Körper auswirken kann (s.u.)
    • Die Intensität der Wirkung hängt davon ab, wie Cannabis konsumiert wird und in welcher allgemeinen psychischen Verfassung der Konsument ist
      • geraucht („Kiffen“): wirkt schnell, fast sofort; erreicht Wirkmaximum nach 15 Minuten; nach zwei bis drei Stunden vollständig abgeklungen
      • gegessen (z.B. in Keksen) oder getrunken (z.B. als Tee): unvorhersehbarer, wann und wie intensiv Wirkung eintritt (abhängig davon, was und wann zuvor gegessen wurde)
  • Psychische Wirkung von Cannabis als Droge:
    • euphorisierend, gesteigertes Wohlbefinden („high“-Gefühl), damit einhergehend Passivität und Entspannung; aber ebenso depressive, niedergeschlagene Stimmung auslösend
    • schlechtere Konzentration und Gedächtnisleistung
    • gesteigerter Appetit
    • seltener: Desorientiertheit, Verfolgungswahn und Panik
  • Körperliche Wirkungen von Cannabis als Droge:
    • Schwindel
    • trockener Mund
    • gerötete Augen
    • Übelkeit

Welche medizinischen Nutzen und welche Risiken wissenschaftlich belegt sind

  • seit 25 Jahren intensivere Forschung zu Therapiemöglichkeiten
  • grundsätzlich: Cannabinoide können nicht heilen, sondern höchstens Symptome einer Erkrankung lindern
  • Wirkung immer abhängig von Dosis und Einnahmeform:
    • Fertigarzneien als Tropfen, Kapsel oder Spray
    • Medizinalhanf geraucht oder als Tee aufgegossen
  • einige, belegte Wirkungen von Cannabinoiden in der medizinischen Therapie (Grotenhermen et al. 2012, Pacher et al. 2006):
    • seltenere und weniger starke Spastik bei Multipler Sklerose
    • Linderung chronischer Schmerzen bei Multipler Sklerose, Neuropathie, Rheuma und Krebs
    • appetitanregende Wirkung bei der Behandlung von Anorexie und Gewichtsverlust durch HIV/AIDS, Tumorerkrankungen und Alzheimer
    • Behandlung von Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkung von Chemotherapien
    • Reduzierung des Augeninnendrucks bei Glaukomen (Grüner Star)
    • Hinweise auf antiepileptische Wirkung bei Epilepsie
    • entzündungshemmend
    • schlaffördernd
  • unerwünschte Nebenwirkungen von Cannabis-Konsum (Bolla et al. 2002, Pacher et al. 2006):
    • akute, unerwünschte Nebenwirkung siehe Abschnitt „Wirkung von Cannabis als Droge“
    • Cannabis-Konsum erhöht womöglich das Risiko eine Psychose zu entwickeln (Moore et al. 2007). Das Forschungsergebnis ist unter Fachleuten jedoch umstritten, da die Dosis eine wichtige Rolle spielt: Psychosen auslösende Dosierungen sind in der medizinischen Therapie nicht indiziert.
    • negative Langzeitfolgen für Kognition (wie Gedächtnisleistung) und Herz-Kreislauf-System, vor allem, wenn Cannabis als Kind oder Jugendlicher konsumiert wird
    • psychische Abhängigkeit mit Entzugserscheinungen möglich: innere Leere, Unruhe, Appetitlosigkeit, Reizbarkeit (je nach individuellem Konsum-Muster und sozialen Risikofaktoren)
    • Parodontose (Zahnfleischrückgang, siehe Meier et al. 2016)
  • Aktueller Bericht der US-amerikanischen Nationalen Akademien der Wissenschaften, der Ingenieurwissenschaften und der Medizin (NAS 2017, http://bit.ly/2jc3pO3)
    • mehr als 10 000 Abstracts wissenschaftlicher Fachpublikationen analysiert
    • fast 100 Schlussfolgerungen gezogen, z. B. zum therapeutischen Effekt von Cannabis und Cannabinoiden:
      • bei der Behandlung von chronischen Schmerzen bei Erwachsenen:
        „Belege“, dass signifikant weniger Schmerzsymptome
      • bei der Behandlung Muskelkrämpfen bei Erwachsenen mit Multipler Sklerose:
        „erhebliche Belege“ dafür, dass oral eingenommene Cannabinoide die Symptome verbessern
      • bei der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen wegen einer Chemotherapie bei Erwachsenen:
        „schlüssige Hinweise“ darauf, dass bestimmte orale Cannabinoide wirksam sind, sowohl vorbeugend als auch behandelnd

Wie eine Droge zum Arzneimittel wird: Der generelle Zulassungsprozess

  • nationale Zulassung von Arzneimitteln zur Anwendung beim Menschen durch Paul-Ehrlich-Institut (PEI, für Impfstoffe, Blutzubereitungen u. a.) oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM, alle anderen Arzneimittel)
    - Zulassung geregelt über Arzneimittelgesetz (AMG): „Es ist der Zweck dieses Gesetzes […] für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln, insbesondere für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel […] zu sorgen.“ § 1, AMG
    - Unterlagen zur Zulassung, z. B. Ergebnisse klinischer Studien liefert Hersteller des Produktes bzw. vermarktendes Unternehmen
  • europaweite Zulassung über verschiedene Verfahren durch die European Medicines Agency (EMA)
  • Betäubungsmittel sind Stoffe, die unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) fallen
    • bergen Gefahr für Missbrauch und hohes Potenzial für Abhängigkeit
    • in drei Anlagen (mit verschiedenen Auflagen und Ausnahmen) eingeordnet:
      • Anlage I: nicht verkehrsfähig
      • Anlage II: verkehrsfähig, aber nicht verschreibungsfähig
      • Anlage III: verkehrs- und verschreibungsfähig
    • Umgang mit den Stoffen kann strafrechtlich verfolgt werden
  • Bundesministerium für Gesundheit kann Vorschläge zur Gesetzänderung des bestehenden BtMG einbringen, bei Inkrafttreten arbeitet BfArM als Bundesbehörde nach geltendem Gesetz

Vom Arzneimittel zur Droge: Das Beispiel Heroin

  • 1898 bringt Bayer Heroin als Hustensaft und Schmerzmittel sowie zur Abgewöhnung von Morphin auf den Markt
  • 1904 stellen erste Ärzte fest, dass auch Heroin abhängig macht
  • 1931 stellt Bayer die Produktion ein – lange nachdem Nebenwirkungen und das enorme Abhängigkeitspotenzial bekannt waren
  • Bis 1958 verkaufen Apotheken noch vereinzelt Heroin
  • Seit 1971 ist das Opiat in Deutschland verboten, d. h. es fällt unter Anlage I des BtMG, also „nicht verkehrsfähig
    • Mittlerweile ist es als Diamorphin wieder verschreibungsfähig (Anlage III) zur Substitutionsbehandlung

Weitere Beispiele für Drogen in der Medizin

  • Psilocybin:
    • psychotroper Wirkstoff aus Pilzen, um Depressionen zu lindern (http://bit.ly/1rVzPN6)
    • bisher nur Forschung
    • fällt in Deutschland unter das BtMG (Anlage I: nicht verkehrsfähig)
  • MDMA, „Ecstasy“ (Methylendioxymethamphetamin):
    • posttraumatische Belastungsstörungen in Tests erfolgreich behandelt, allerdings mit starken Nebenwirkungen, nachdem der Wirkstoff abgesetzt wurde (http://1.usa.gov/1KEnvDr)
    • bisher nur Forschung
    • fällt in Deutschland unter das BtMG (Anlage I: nicht verkehrsfähig)
  • LSD (Lysergsäurediethylamid):
    • Laut Studien in den 1960er Jahren kann es Alkoholabhängigen helfen, abstinent zu werden.
    • Forschung wird momentan erneut aufgenommen
  • Opiate:
    • Morphin als starkes Schmerzmittel verfügbar entsprechend BtMG (Anlage III: "verkehrs- und verschreibungsfähig")
  • Beispiel Heroin:
    • (s.o.)

Was der Gesetzentwurf zu Cannabis beinhaltet

  • Chronologie
    • im Sommer 2016 vom Bundeskabinett gebilligt
    • am 18.01.2017 vom gesundheitsausschuss des Bundestags einstimmig gebilligt
    • soll am 19.01.2017 vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden
    • Gesetz soll im Frühjahr 2017 in Kraft treten.
  • Schwerkranke sollen getrocknete Blüten und Extrakte der Cannabis-Pflanze bekommen
    • z. B. zur Schmerztherapie (chronische Erkrankung), bei Krebsbehandlung (während der Chemotherapie)
    • nur auf Rezept in Apotheken
    • kontrollierte Qualität
  • Krankenkassen sollen Kosten übernehmen, wenn:
    • schwerwiegende Erkrankung vorliegt
    • keine Alternativbehandlung möglich ist („austherapiert“)
    • Aussicht darauf besteht, dass Krankheitsverlauf spürbar positiv beeinflusst wird oder schwerwiegende Symptome gelindert werden können
    • Patient an anonymisierter Begleitforschung teilnimmt
  • In eng begrenzten Ausnahmefällen gibt es auch Anspruch auf Versorgung mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon
    • Dronabinol halbsynthetischer THC-Abkömmling
    • Nabilon: Vollsynthetischer THC-Abkömmling
  • Krankenkassen sollen gleichzeitig begleitende Forschung betreiben - und die Patienten müssen daran teilnehmen.
    • um Wirkung näher zu erforschen
    • damit Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) gegebenenfalls festlegt, inwiefern Cannabis auch in Zukunft auf Rezept Kassenleistung wird
  • Eine staatliche „Cannabis-Agentur“ soll in Deutschland aufgebaut werden
    • damit Anbau und Einfuhr staatlich kontrolliert wird
    • Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte soll zuständig sein
    • regelt bis zum Beginn eines nationalen Anbaus den Import
  • Auch Cannabisblüten sollen zu Anlage III BtMG kommen, also "verkehrs- und Verschreibungsfähig" sein.

Das bislang in Deutschland geltende Gesetz zur Verwendung von Cannabis

    • „Eigenanbau – auch zu medizinischen Zwecken – und Verwendung zu Rauchzwecken bleiben verboten“, Bundesregierung (http://bit.ly/1tgIGdu)
      • Ausnahme: Einzelfallentscheidung Bundesverwaltungsgericht (Aktenzeichen BVerwG 3 C 10.14, http://bit.ly/29mPwqq), der zufolge darf einkommensschwacher MS Patient Cannabis zur Selbstmedikation anbauen.
    • Rund 1000 Patienten haben bislang Ausnahmeregelung für den Bezug von Cannabisblüten und Cannabisextrakten aus Apotheken vom BfArM erhalten (Stand: Januar 2017).
    • Krankenkassen übernehmen keine Kosten
      • Ausnahme: Einzelfallentscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
    • seit 2011 die erste und einzige Fertigarznei auf Cannabis-Basis in Deutschland zugelassen
      • Handelsname Sativex
      • Spray, das unter die Zunge gesprüht wird (sublingual)
      • Wirkstoffe THC und CBD im Verhältnis 1:1
      • nur auf Betäubungsmittel-Rezept (Anlage III BtMG: „verkehrs- und verschreibungsfähig“)
      • zur Behandlung von Spasmen bei Multipler Sklerose und Schmerzen bei einer Krebserkrankung
    • Cannabismedikamente mit Wirkstoffen Dronabinol (halbsynthetischer THC-Abkömmling) und Nabilon (vollsynthetischer THC-Abkömmling) können auf Betäubungsmittel-Rezept verschrieben werden (Anlage III BtMG: „verkehrs- und verschreibungsfähig“)
      • zur Behandlung von Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten und Übelkeit und Erbrechen bei Krebstherapie
  • getrocknete Cannabisblüten (Cannabis flos) und Cannabisextrakte mit Ausnahmeregelung nach § 3 Abs. 2 des BtMG zur Selbstmedikation in Apotheken erhältlich:
    • beruht auf Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (http://bit.ly/1ULHerV)
    • Einzelfallentscheidung bei Antrag, z. B. bei austherapierten Patienten mit schwerwiegenden Krankheiten wie Multipler Sklerose oder zur Schmerztherapie

Weitere Recherchequellen

Disclaimer

Dieses Factsheet wird herausgegeben vom Science Media Center Germany. Es bietet Hintergrundinformationen zu wissenschaftlichen Themen, die in den Schlagzeilen deutschsprachiger Medien sind, und soll Journalisten als Recherchehilfe dienen.
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