Medizin & Lebenswissenschaften

7. Juli 2016

Cannabis – eine Droge als Medikament

Stand 07.07.2016

  • Die Bundesregierung plant ein Gesetz, das vorsieht, Cannabis unter bestimmten Bedingungen für die Therapie schwerkranker Menschen freizugeben. Die Krankenkassen sollen demnach die Kosten übernehmen und gleichzeitig begleitende Forschung leisten.
  • Um die journalistische Recherche zu diesem Thema zu unterstützen, bietet das Science Media Center Germany dieses Factsheet an. Es gibt einen Überblick über die Evidenz zum Einsatz von Cannabis zur Therapie von Krankheiten und zu weiteren Drogen, die in der Medizin eingesetzt werden; außerdem werden die medizinischen Wirkungen erläutert sowie die politisch-rechtliche Lage in Deutschland.
  • Unabhängig davon wird seit Längerem darüber diskutiert, ob Cannabis in Deutschland legalisiert und somit frei verkäuflich werden soll. Diese Debatte ist nicht Inhalt dieses Factsheets.

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Übersicht

Wie Cannabis im menschlichen Körper wirkt

Welcher medizinischer Nutzen und welche Risiken wissenschaftlich belegt sind

Wie eine Droge zum Arzneimittel wird

Weitere Beispiele für Drogen in der Medizin

Was der Gesetzentwurf zu Cannabis beinhaltet

Das bislang in Deutschland geltende Gesetz zur Verwendung von Cannabis

Wichtige Publikationen und Recherchequellen

  • „Cannabis“ bezeichnet Hanf-Pflanzen, die Wirkstoffe enthalten, die auf die Psyche wirken (psychotrop)
    • ca. 60 verschiedene Inhaltstoffe sind bekannt, sog. Cannabinoide
    • forschungs- und anwendungsrelevanteste Cannabinoide:
      • Tetrahydrocannabinol (THC)
      • Cannabidiol (CBD)
  • Biologische Wirkungsweise im menschlichen Körper:
    • Cannabinoide wie THC wirken auf das Endocannabinoid-System (ECS) des Nervensystems
    • ECS umfasst zum einen zwei Rezeptoren:
      • CB-1 (findet sich auf Nervenzellen, steuert v.a. die Bewegung und Informationsverarbeitung im Gehirn)
      • CB-2 (v.a. auf Zellen der Immunabwehr)
    • ECS umfasst zum anderen mehrere, natürliche Bindungspartner (endogene Liganden)
      • bekanntester: körpereigenes Anandamid, die Substanz zeigt Cannabis-ähnliche psychoaktive Wirkungen und ist ebenfalls forschungsrelevant
    • Cannabinoide wirken auf die Ausschüttung unterschiedlicher Neurotransmitter wie Dopamin, GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) und Glutamat, was sich vielfältig auf den Körper auswirken kann (s.u.)
    • Die Intensität der Wirkung hängt davon ab, wie Cannabis konsumiert wird und in welcher allgemeinen psychischen Verfassung der Konsument ist
      • geraucht („Kiffen“): wirkt schnell, fast sofort; erreicht Wirkmaximum nach 15 Minuten; nach zwei bis drei Stunden vollständig abgeklungen
      • gegessen (z.B. in Keksen) oder getrunken (z.B. als Tee): unvorhersehbarer, wann und wie intensiv Wirkung eintritt (abhängig davon, was und wann zuvor gegessen wurde)
  • Psychische Wirkung von Cannabis als Droge:
    • euphorisierend, gesteigertes Wohlbefinden („high“-Gefühl), damit einhergehend Passivität und Entspannung; aber ebenso depressive, niedergeschlagene Stimmung auslösend
    • schlechtere Konzentration und Gedächtnisleistung
    • gesteigerter Appetit
    • seltener: Desorientiertheit, Verfolgungswahn und Panik
  • Körperliche Wirkungen von Cannabis als Droge:
    • Schwindel, trockener Mund, gerötete Augen, Übelkeit
  • seit 25 Jahren intensivere Forschung zu Therapiemöglichkeiten
  • grundsätzlich: Cannabinoide können nicht heilen, sondern höchstens Symptome einer Erkrankung lindern
  • Wirkung immer abhängig von Dosis und Einnahmeform:
    • Fertigarzneien als Tropfen, Kapsel oder Spray
    • Medizinalhanf geraucht oder als Tee aufgegossen
  • einige, belegte Wirkungen von Cannabinoiden in der medizinischen Therapie (Grotenhermen et al. 2012, Pacher et al. 2006)
    • seltenere und weniger starke Spastik bei Multipler Sklerose
    • Linderung chronischer Schmerzen bei Multipler Sklerose, Neuropathie, Rheuma und Krebs
    • appetitanregende Wirkung bei der Behandlung von Anorexie und Gewichtsverlust durch HIV/Aids, Tumorerkrankungen und Alzheimer
    • Behandlung von Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkung von Chemotherapien
    • Reduzierung des Augeninnendrucks bei Glaukomen (Grüner Star)
    • Hinweise auf antiepileptische Wirkung bei Epilepsie
    • entzündungshemmend
    • schlaffördernd
  • unerwünschte Nebenwirkungen von Cannabis-Konsum (Bolla et al. 2002, Pacher et al. 2006):
    • akute, unerwünschte Nebenwirkung siehe unter „Wirkung von Cannabis als Droge“
    • Cannabis-Konsum erhöht womöglich Risiko eine Psychose zu entwickeln (Moore et al. 2007). Das Forschungsergebnis ist unter Fachleuten jedoch umstritten, da die Dosis eine wichtige Rolle spielt: Psychosen auslösende Dosierungen sind in der medizinischen Therapie nicht indiziert.
    • negative Langzeitfolgen für Kognition (wie Gedächtnisleistung) und Herz-Kreislauf-System, vor allem, wenn Cannabis als Kind oder Jugendlicher konsumiert wird
    • psychische Abhängigkeit mit Entzugserscheinungen möglich: innere Leere, Unruhe, Appetitlosigkeit, Reizbarkeit (je nach individuellem Konsum-Muster und sozialen Risikofaktoren)
    • Parodontose (Zahnfleischrückgang, Meier et al. 2016)
  • Genereller Zulassungsprozess
    • nationale Zulassung von Arzneimitteln zur Anwendung beim Menschen durch Paul-Ehrlich-Institut (PEI, für Impfstoffe, Blutzubereitungen u. a.) oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM, alle anderen Arzneimittel)
      • Zulassung geregelt über Arzneimittelgesetz (AMG): „Es ist der Zweck dieses Gesetzes […] für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln, insbesondere für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel […] zu sorgen.“ § 1, AMG
      • Unterlagen zur Zulassung, z. B. Ergebnisse klinischer Studien liefert Hersteller des Produktes bzw. vermarktendes Unternehmen
    • europaweite Zulassung über verschiedene Verfahren durch die European Medicines Agency (EMA)
  • Betäubungsmittel sind Stoffe, die unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) fallen
    • bergen Gefahr für Missbrauch und hohes Potenzial für Abhängigkeit
    • in drei Anlagen (mit verschiedenen Auflagen und Ausnahmen) eingeordnet:
      • Anlage I: nicht verkehrsfähig
      • Anlage II: verkehrsfähig, aber nicht verschreibungsfähig
      • Anlage III: verkehrs- und verschreibungsfähig
    • Umgang mit den Stoffen kann strafrechtlich verfolgt werden
  • Bundesministerium für Gesundheit kann Vorschläge zur Gesetzänderung des bestehenden BtMG einbringen, bei in Kraft treten arbeitet BfArM als Bundesbehörde nach geltendem Gesetz
  • Vom Arzneimittel zur Droge: Das Beispiel Heroin
    • 1898 bringt Bayer Heroin als Hustensaft und Schmerzmittel sowie zur Abgewöhnung von Morphin auf den Markt
    • 1904 stellen erste Ärzte fest, dass auch Heroin abhängig macht
    • 1931 stellt Bayer die Produktion ein – lange nachdem Nebenwirkungen und das enorme Abhängigkeitspotenzial bekannt waren
    • bis 1958 verkaufen Apotheken noch vereinzelt Heroin
    • seit 1971 ist das Opiat in Deutschland verboten, d. h. es fällt unter Anlage I des BtMG „nicht verkehrsfähig“
    • mittlerweile ist es als Diamorphin wieder verschreibungsfähig (Anlage III) zur Substitutionsbehandlung
  • Psilocybin:
    • psychotroper Wirkstoff aus Pilzen, um Depressionen zu lindern (http://bit.ly/1rVzPN6)
    • bisher nur Forschung
    • fällt in Deutschland unter das BtMG (Anlage I: nicht verkehrsfähig)
  • MDMA, „Ecstasy“ (Methylendioxymethamphetamin):
    • posttraumatische Belastungsstörungen in Tests erfolgreich behandelt, allerdings mit starken Nebenwirkungen, nachdem der Wirkstoff abgesetzt wurde (http://1.usa.gov/1KEnvDr)
    • bisher nur Forschung
    • fällt in Deutschland unter das BtMG (Anlage I: nicht verkehrsfähig)
  • LSD (Lysergsäurediethylamid):
    • Laut Studien in den 1960er Jahren kann es Alkoholabhängigen helfen, abstinent zu werden.
    • Forschung wird momentan erneut aufgenommen
  • Opiate:
    • Morphin als starkes Schmerzmittel unter Betäubungsmittelgesetz (verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel) verfügbar
    • Beispiel Heroin (s. o.)
  • Schwerkranke sollen getrocknete Blüten und Extrakte der Cannabis-Pflanze bekommen
    • z. B. in Schmerztherapie (chronische Erkrankung), Krebsbehandlung (während der Chemotherapie)
    • nur auf Rezept in Apotheken
  • Krankenkassen sollen Kosten übernehmen, wenn:
    • schwerwiegende Erkrankung vorliegt
    • keine Alternativbehandlung möglich ist („austherapiert“)
    • Aussicht darauf besteht, dass Krankheitsverlauf spürbar positiv beeinflusst wird oder schwerwiegende Symptome gelindert werden können
    • Patient an anonymisierter Begleitforschung teilnimmt
  • Krankenkassen sollen gleichzeitig begleitende Forschung betreiben
    • um Wirkung näher zu erforschen
    • damit Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) gegebenenfalls in Zukunft festlegt, inwiefern Cannabis auf Rezept Kassenleistung wird
  • Gesetz sieht „Cannabis-Agentur“ in Deutschland vor
    • damit Anbau und Einfuhr staatlich kontrolliert wird
    • Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte soll zuständig sein
    • regelt bis zum Beginn eines nationalen Anbaus den Import
  • Gesetz soll im Frühjahr 2017 in Kraft treten
  • „Eigenanbau – auch zu medizinischen Zwecken – und Verwendung zu Rauchzwecken bleiben verboten“, Bundesregierung (http://bit.ly/1tgIGdu)
    • Ausnahme: Einzelfallentscheidung Bundesverwaltungsgericht (Aktenzeichen BVerwG 3 C 10.14, http://bit.ly/29mPwqq) Einkommensschwacher MS-Patient darf Cannabis zur Selbstmedikation anbauen
  • 779 Patienten haben Ausnahmeregelung für den Bezug von Cannabisblüten und -extrakten aus Apotheken vom BfArM (Stand: Juni 2016, http://bit.ly/1TZkcLL).
  • Krankenkassen übernehmen keine Kosten
    • Ausnahme: Einzelfallentscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
  • seit 2011 die erste und einzige Fertigarznei auf Cannabis-Basis in Deutschland zugelassen
    • Handelsname Sativex
    • Spray, das unter die Zunge gesprüht wird (sublingual)
    • Wirkstoffe THC und CBD im Verhältnis 1:1
    • nur auf Betäubungsmittel-Rezept (Anlage III BtMG: verkehrs- und verschreibungsfähig)
    • zur Behandlung von Spasmen bei Multipler Sklerose und Schmerzen bei einer Krebserkrankung
  • Cannabismedikamente mit Wirkstoffen Dronabinol (halbsynthetischer THC-Abkömmling) und Nabilon (vollsynthetischer THC-Abkömmling) können auf Betäubungsmittelrezept verschrieben werden (Anlage III BtMG)
    • zur Behandlung von Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten und Übelkeit und Erbrechen bei Krebstherapie
  • getrocknete Cannabisblüten (Cannabis flos) und -extrakte mit Ausnahmeregelung nach § 3 Abs. 2 des BtMG zur Selbstmedikation in Apotheken erhältlich:
    • beruht auf Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (http://bit.ly/1ULHerV)
    • Einzelfallentscheidung bei Antrag, z. B. bei austherapierten Patienten mit schwerwiegenden Krankheiten wie Multipler Sklerose oder zur Schmerztherapie
  • Bundesministerium für Gesundheit: Fragen und Antworten zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, Stand 04.05.2016. URL: http://bit.ly/1TZkcLL.
  • Grotenhermen F. et al. (2012): Das therapeutische Potenzial von Cannabis und Cannabinoiden. Dtsch Arztebl Int, 109(29-30): 495-501; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0495. URL: http://bit.ly/1Um8JWd.
  • Pacher P et al. (2006): The Endocannabinoid System as an Emerging Target of Pharmacotherapy. Pharmacol Rev.; 58(3): 389–462. DOI: 10.1124/pr.58.3.2. URL: http://1.usa.gov/1F1MPk8.
  • Bolla K.I. (2002): Dose-related neurocognitive effects of marijuana use. Neurology. 2002 Nov 12;59(9):1337-43. DOI: _10._1212/_01._WNL._0000031422._66442._49. URL: http://1.usa.gov/294OUZo.

Dieses Factsheet wird herausgegeben vom Science Media Center Germany. Es bietet Hintergrundinformationen zu wissenschaftlichen Themen, die in den Schlagzeilen deutschsprachiger Medien sind, und soll Journalisten als Recherchehilfe dienen.

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