Cancel Culture: Einstellungen deutscher Studierender zur akademischen Redefreiheit
Studierende sind laut Umfrage eher bereit, konservative Standpunkte zu canceln, insbesondere da diese als gefährlicher wahrgenommen werden
erstmals gibt es damit repräsentative Daten zu den Einstellungen deutscher Studierender zur akademischen Redefreiheit
Forschende halten die Studie grundsätzlich für robust und sehen eine gute Datengrundlage, kritisieren teils jedoch die Fragestellungen der Umfrage sowie die Interpretation der Resultate
Deutsche Studierende waren in Umfragen gewillter, die Redefreiheit an Universitäten für – laut Studienautoren – „konservative“ als für „progressive“ Positionen einzuschränken. Grund dafür war vor allem, das konservative Positionen für gesellschaftlich gefährlicher („socially harmful“) gehalten wurden. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um vorgetragene Forschungsergebnisse oder bloße Meinungsbeiträge handelte. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die im Fachjournal „PNAS“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Insgesamt sprachen sich – je nach Umfrage – im niedrigen bis mittleren zweistelligen Prozentbereich Studierende dafür aus, inhaltlich in der Studie als „konservativ“ beschriebene Vorträge abzusagen. Damit reiht sich die Studie in eine längere wissenschaftliche Debatte zur Redefreiheit an deutschsprachigen Universitäten ein [I] [II].
Im Rahmen einer sogenannten „adversarial collaboration“ arbeiteten zwei Gruppen deutscher Forschender mit gegensätzlichen Starthypothesen zusammen, um zu klären, weshalb manche Vorträge eher gecancelt würden als andere: Eine Gruppe ging davon aus, dass Vorträge vor allem deshalb gecancelt würden, weil sie konservative statt progressiver Standpunkte verträten („viewpoint discrimination“). Dagegen vermutete die andere, dass nicht der politische Standpunkt, sondern verletzte akademische Standards und die Wahrnehmung von Aussagen als gesellschaftlich gefährlich, etwa für Minderheiten, Unterschiede in der Bereitschaft, zu canceln, erklärten.
Professor für Sozialstrukturanalyse sozialer Ungleichheiten, Universität Bielefeld
Einordnung der Methodik
„Die Stichprobe der Studenten und die Entscheidungen bezüglich der verwendeten statistischen Auswertungsverfahren sind aus meiner Sicht in Ordnung. Allerdings habe ich drei grundlegende Kritikpunkte an dem Papier.“
„Erstens wird der Gegensatz von konservativen und progressiven Positionen eingeführt. Wahrscheinlich, um an den US-amerikanischen Diskurs anzuschließen. Die in den Vignetten beschriebenen Positionen werden meines Erachtens nicht nachvollziehbar gelabelt. So wird beispielsweise das Verbot des Tragens eines Kopftuchs im öffentlichen Raum als konservative Forderung gelabelt. Das geht aus meiner Sicht deutlich über eine konservative Position hinaus. Insofern halte ich die Labels ‚konservativ‘ und ‚progressiv‘ für nicht treffend.“
„Ich halte das Label rechts/rechtaußen für treffender, zumindest für Teile der dargestellten Positionen in den Vignetten. Entsprechend weicht meine Interpretation der Ergebnisse von der der Autor:innen ab, nämlich dass Studenten nicht generell Standpunkte diskriminieren (‚viewpoint discrimination‘), sondern Positionen des rechten beziehungsweise des rechtaußen Spektrums ablehnen.“
Interpretation der Studienergebnisse
„Zweitens ist die Rahmung des Artikels irreführend. Im Titel wird auf studentische Motive der Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit verwiesen und auch die Methodik untersucht, inwiefern studentische Einstellungen die Meinungsfreiheit einschränken. Allerdings ist der Aufhänger des Aufsatzes ein Verweis darauf, dass akademische Freiheit zurzeit weltweit und von Regierungen attackiert werde (‚under government-led attack‘) – damit wird vermutlich (auch) auf die USA unter der Trump-Regierung angespielt. Der Zusammenhang zwischen studentischen Meinungen - zumal denen in Deutschland – und der Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit vor diesem Hintergrund, und welche Implikationen die Ergebnisse der Diskriminierung von Standpunkten unter dieser Rahmung haben, bleibt unklar.“
„Drittens wird im Fazit das Ergebnis der dritten Studie nicht aufgegriffen und es bleibt unklar, warum die Autor:innen diese Entscheidung treffen. Zumal, da die dritte Studie das interessante Ergebnis liefert, dass große Teile der (vorgeblichen) Diskriminierung von Standpunkten durch wahrgenommene gesellschaftliche Gefährlichkeit (‚harmfulness‘) mediiert werden (also dadurch hervorgerufen beziehungsweise erklärt werden; Anm. d. Red.). Im Appendix in Tabelle S44 und S47 wird ersichtlich, dass der direkte Effekt – also die Diskriminierung von Standpunkten – teils nicht sonderlich stark, in manchen Fällen auch nicht signifikant ist. Das fehlt im Fazit.“
„Die dritte Studie zeigt also den Mechanismus hinter den Ergebnissen der ersten beiden Studien und verdeutlicht, dass bestimmte Positionen nicht per se abgelehnt werden, sondern weil sie als gefährlich angesehen werden. Die Interpretation ist, dass standpunktbezogene Diskriminierung deutlich schwächer ist, als in den ersten Studien angenommen und vieles davon erklärt werden kann, dass Studenten eine Gefährlichkeit der Positionen sehen. Das sollte auch vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass diese abgelehnten Positionen eher dem rechten und teils rechtaußen Spektrum und nicht dem konservativen Spektrum zugeordnet werden sollten.“
Professor für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Anthropologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit
„Im Unterschied zu Staaten, die nur Meinungs- und Redefreiheit kennen – etwa ‚free speech‘ in den USA –, ist in Deutschland die Wissenschaftsfreiheit durch ein eigenes Grundrecht geschützt. Träger dieses Grundrechts sind alle, die eigenverantwortlich forschen und lehren. Universitätsleitungen dürfen akademische Vorträge nicht allein aus dem Grund unterbinden, dass Studierende den Inhalt politisch problematisch finden. Studierende, die gleichwohl eine Absage oder sogar berufliche Konsequenzen für den Redner fordern, täuschen sich also darüber, was rechtlich möglich ist.“
„Auch der Hinweis auf tatsächliches oder vermutetes Leid, das Angehörigen verletzlicher Gruppen durch das Stattfinden des Vortrags entstehen könnte, rechtfertigt keine Grundrechtseinschränkung. Es ist wichtig zu sehen, dass die Güter, die hier angeblich abzuwägen sind, nicht auf derselben Ebene liegen: Eine Verletzung von Grundrechten, in diesem Fall der Wissenschaftsfreiheit, kann nicht durch den Schutz von Gütern gerechtfertigt werden, die keine Grundrechte sind.“
„Die Rechtslage, die auch Vorträge mit politisch kontroversen Inhalten schützt, ergibt auch normativ einen guten Sinn. Es ist ja an der Universität niemand gezwungen, Vorträge anzuhören, die man politisch problematisch findet.“
Interpretation der Studienergebnisse
„Die Studie liefert zudem Indizien dafür, dass das Argument des tatsächlichen oder vermuteten Leids für Betroffene oft nur vorgeschoben ist: Die Forderung nach Sanktionen korreliert – zumindest in Studie 1 und 2 – stärker mit der politischen Position des Vortrags als mit dem erwarteten Leid. Das ist ein sehr interessantes Ergebnis.“
„Die von den Befragten erhobenen Forderungen nach Sanktionen betreffen Vorträge mit Inhalten, die nicht einmal im Ansatz extremistisch oder strafrechtlich relevant sind, sondern Teil des politischen Meinungsspektrums. Der Rechtsstaat ist durchaus dazu da, der politisch motivierten Einschränkung von Grundrechten wie der Meinungs- und der Wissenschaftsfreiheit vorzubeugen. Alice Weidel hat auf dem Bundesparteitag der AFD gesagt: ‚Wenn wir am Ruder sind, schaffen wir die Genderforschung ab und schmeißen die Professoren raus‘. Es ist auch in dieser Perspektive erschreckend unklug, die Sanktionierung politisch missliebiger Vorträge zu fordern, und seien die ‚progressiven‘ Motive noch so nachvollziehbar.“
„Die Aussagekraft der zweiten Studie wird durch unglücklich gewählte Beispiele geschmälert. Die Beispiele – biologische Geschlechter, Kopftuchstreit, Palästinakonflikt – haben eine gemeinsame Schwäche: Alle sind auf der Grenze zwischen dem Präsentieren von Forschungsergebnissen und dem Vertreten von politischen Positionen angesiedelt. Damit erschwert es die Umfrage den befragten Studierenden, zu erkennen, ob der Vortrag durch die Wissenschaftsfreiheit oder durch die Meinungsfreiheit geschützt ist.“
„Die Studienmacher versuchen zwar, diesen Unterschied in den Fragen abzubilden, indem sie die Sprecher variieren – ein Journalist, der seine Meinung präsentiert, oder ein Professor, der seine Forschung vorstellt. Das beseitigt aber das Problem nicht, denn die fraglichen Aussagen, wie ‚Was Palästinenser tun, ist Terrorismus‘ oder ‚Was Israel tut, ist Apartheid‘ werden nicht allein dadurch zu Forschungsergebnissen, dass ein Professor sie als solche präsentiert. Es sind politische Bewertungen unter Verwendung umstrittener Begriffe.“
„Es wird dann als ein bemerkenswertes Ergebnis dargestellt, dass die studentische Unterstützung für Beschränkungen sich im Falle von Meinungsäußerungen und von Forschungsergebnissen nur unwesentlich unterscheidet. Diese mangelnde Unterscheidung haben sich die Studienmacher durch den unglücklichen Zuschnitt der Beispiele selbst zuzuschreiben.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Empirische Sozialforschung des Instituts für Soziologie, Technische Universität Chemnitz
Einordnung der Methodik
„Die in diesem Beitrag vorgestellten Studien sind empirisch sehr sorgfältig durchgeführt. Die Autorinnen und Autoren haben ihre Hypothesen und die meisten Analyseschritte präregistriert. Das trägt dazu bei, selektives Berichten ausschließlich statistisch signifikanter oder überraschender Ergebnisse zu vermeiden. Zudem ist die Studie in eine ‚adversarial collaboration‘ eingebettet: Hierbei einigen sich Forschergruppen mit gegensätzlichen Erwartungen bereits vor der Einsicht in die Daten darauf, was sie von der Perspektive der jeweils anderen Gruppe überzeugen würde. Darüber hinaus führen die Forschenden mehrere Robustheitsprüfungen durch, um sicherzustellen, dass die Verwendung unterschiedlicher Methoden die Ergebnisse nicht wesentlich verändert.“
„Das Umfrageinstitut forsa (über das die Umfragen durchgeführt wurden; Anm. d. Red.) gilt meines Wissens in Deutschland als einer der methodisch anspruchsvollsten Anbieter von Access-Panels, insbesondere aufgrund seines Offline-Rekrutierungsverfahrens. Dennoch ist die Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in der Stichprobe problematisch. Gewichtungsverfahren können zwar helfen, die Repräsentativität für bekannte und gemessene Merkmale wiederherzustellen, doch könnte jede Anzahl unbeobachteter Merkmale die Ergebnisse verzerren. Dies ist keine spezifische Kritik an den Methoden dieses Papers, sollte aber bei der Interpretation von Ergebnissen aus Online-Access-Panels erwähnt werden.“
Interpretation der Studienergebnisse
„Zu den Absichten der Autorinnen und Autoren kann ich nichts sagen, aber die Ergebnisse erwecken meines Erachtens den Eindruck, dass Studierende gegenüber Personen nachtragend reagieren, die ihre politischen und sozialen Ansichten nicht teilen. Allerdings würde ich davor warnen, die Ergebnisse in dieser Weise zu interpretieren, ohne zunächst zu klären, ob es sich dabei um eine Besonderheit von Studierenden handelt oder ob dies ebenso für die Allgemeinbevölkerung gilt.“
Übertragbarkeit reale Handlungen
„Bei der Übertragung der Ergebnisse dieser Studien auf die Realität ist eine gewisse Vorsicht geboten. Wie bei sozialwissenschaftlichen Experimenten üblich, stehen diese Untersuchungen vermutlich vor dem Problem der externen Validität (gelten also eventuell nicht gleichermaßen für andere Situationen als die untersuchte; Anm. d. Red.). Die Vignetten beschreiben eine hypothetische und im Wesentlichen eindimensionale Person, und die Befragten sollen angeben, ob sie diese Person ‚canceln‘ würden oder nicht. Angesichts der geringen Konsequenzen und des hypothetischen Charakters stellt sich die Frage, warum jemand sich dagegen entscheiden sollte, diese Person zu sanktionieren. Aufgrund ihres hypothetischen Charakters können Vignettenstudien zudem nur Absichten und nicht tatsächliches Verhalten untersuchen. Selbst reale Absichten sind nicht immer verlässliche Prädiktoren für Verhalten und dieses hypothetische Setting ist davon noch einmal weiter entfernt.“
Stabilität von Einstellungen zur akademischen Redefreiheit
„Ob Einstellungen zur Meinungsfreiheit an Universitäten stabil sind oder nicht, ist meiner Ansicht nach eine empirische Frage: Man könnte dieselben Studierenden zu einem späteren Zeitpunkt erneut fragen, wie sie in den beschriebenen Szenarien zu handeln beabsichtigen, und so quantifizieren, in welchem Ausmaß diese Einstellungen innerhalb von Personen über die Zeit variieren. Grundsätzlich gehe ich jedoch davon aus, dass solche Einstellungen eine Folge des politischen Klimas sind.“
„Es liegen keine Interessenkonflikte vor.“
„Interessenkonflikte bestehen nicht.“
„Ich glaube nicht, dass ich Interessenkonflikte anzugeben habe.“
Primärquelle
Diehl C et al. (2025): Students’ motives for restricting academic freedom: Viewpoint discrimination and prosocial concerns. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.2503804122.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Villa PI et al. (2021): Lässt sich Cancel Culture empirisch belegen?. Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung.
[II] Fabian G et al. (2024): Akademische Redefreiheit. Kurzbericht zu einer empirischen Studie an deutschen Hochschulen. ZEIT-Stiftung.
[III] Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2022). Diskussion: Intellektuelle Redlichkeit als Maßstab für Einladungen an die Universität. Webseite.
[IV] Praefaktisch Podcast (2024): Streitpunkt Wissenschaftsfreiheit. Ein Gespräch mit Sabine Döring und Tim Henning.
[V] Özmen E (2021): Wissenschaftsfreiheit: Normative Grundlagen und aktuelle Herausforderungen. Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung.
Prof. Dr. Carsten Sauer
Professor für Sozialstrukturanalyse sozialer Ungleichheiten, Universität Bielefeld
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es liegen keine Interessenkonflikte vor.“
Prof. Dr. Geert Keil
Professor für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Anthropologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Interessenkonflikte bestehen nicht.“
Dr. Henrik Andersen
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Empirische Sozialforschung des Instituts für Soziologie, Technische Universität Chemnitz
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich glaube nicht, dass ich Interessenkonflikte anzugeben habe.“